Wie Merkel ihr "No!" widerrief
Deutsche Medien sind weiter auf Kriegskurs
Am Freitag schien es die Sensation zu werden: Die zumindest nach Auffassung von US-Medien mächtigste Frau der Welt hat beim G-20-Gipfel die Unterschrift unter die Legitimation eines Kriegseinsatzes unter amerikanischer Führung an der UN-Vollversammlung vorbei verweigert. Ihre Begründung: Ihr Land wolle erst den EU-Gipfel in Vilnius abwarten und sich mit den EU-Außenministern abstimmen. Doch noch ehe ihre Landsleute die Chance hatten, sie für ihren Mut und ihre Vernunft zu rühmen, nahm die Regierung die Entscheidung wieder zurück.
Zuvor hatte der Spiegel gewarnt "Europäer hängen Merkel ab".
War es nicht umgekehrt? Hatte Merkel nicht für einige Stunden gezeigt, was europäische Souveränität bedeuten kann, nämlich das Recht, "No!" zu sagen?
Zeit-Politikchef Bernd Ulrich, dessen kuriose Begründungen für einen Syrien-Krieg bei Telepolis-Lesern für Amusement und Empörung sorgten (Deutsche Medien im Kriegsrausch), legte sofort nach. Als "Tiefpunkt ihrer Kanzlerschaft" bezeichnete Ulrich die Äußerung von Angela Merkel, in Syrien müsse eine politische Lösung gefunden werden. Die 664 Online-Kommentare stellen einen Rekord für das einstige demokratische Mustermagazin dar.
Bereits Kommentar Nummer eins zeigt, was die verbliebenen Leser von Ulrichs These halten: "Ich finde, die Kanzlerin hat das einzig Richtige getan, egal, wie sich Opportunisten entscheiden. Meinen Respekt hat sie dafür."
Wo Spiegel und Zeit Merkel im Abseits sehen, konnte am 7. September 2013 auch die Süddeutsche nicht abseits stehen. Chefkommentator Stefan Kornelius über Merkels erstes "No!":
Wer darüber triumphiert, muss die Optionen bedenken: Bleibt der Tabubruch unbeantwortet, wird ihm der nächste folgen. Und dann wieder einer. Und wieder einer. Hingegen würde ein Luftschlag nicht nur den Einsatz von Gas hochsymbolisch sanktionieren, er wird auch Nachahmer abschrecken und kann einen politischen Prozess auslösen - siehe Bosnien 1995.
Ein gewagter Vergleich, ging es doch in Bosnien um die Unabhängigkeit der Bevölkerungsmehrheit von einer als Besatzung empfundenen Zentralmacht, die schließlich mit einem eigenen Staat auch erreicht wurde - wie zuvor auch in allen anderen jugoslawischen Teilrepubliken. Der im Bosnienkonflikt erstmals verwendete Begriff der "ethnischen Säuberung" wurde bisher noch von keinem Kritiker gegen Assad vorgebracht. Die - verglichen mit Nahen und Mittleren Osten - heute große Stabilität im ehemaligen Jugoslawien basiert auf der Förderung teilweise winziger Kleinstaaten, nicht auf einem Sturz der serbischen Zentralregierung und deren Ersetzung durch ein Oppositionsbündnis.
Eine weitere, überraschende Kriegsbegründung liefert die Frankfurter Allgemeine. Obama, so schwärmte Andreas Ross, sei ein Kriegsherr mit Samthandschuhen, denn:
Präsident Obama will mit einem Militärschlag in Syrien auch Iran abschrecken. Das sagt er aber nicht, denn er will eine Annäherung im Atomstreit nicht gefährden.
Ob die europäischen Außenminister von dieser Begründung besonders überzeugt sind? In Süddeutscher, Bild, Welt und FAZ glaubt man nämlich noch immer, der Iran bereite einen atomaren Erstschlag gegen Israel vor. Dass bei diesem auch die in Israel lebenden Araber und die Palästinenser mit ausgerottet würden, scheint den Anhängern dieser These nicht aufzufallen.
Fazit: Ein Luftschlag gegen Syrien erscheint den deutschen Leitmedien aus unterschiedlichsten Gründen weiter als dringende Notwendigkeit, befördert dieser doch - und wer wüsste das nicht? - eine politische Lösung.
Spätestens seit dem Massaker-Video in der New York Times könnten aber ausgerechnet republikanische US-Hardliner den Krieg noch aufhalten - und zwar wegen dem vom Feldkommandanten zur Hinrichtung verlesenen Gedicht. Dieses erinnert nämlich merkwürdig an die Endkampflyrik von Anders Breivik und Timothy McVeigh.
Die Redakteure der NYT, so eine Sprecherin zu Daily Beast, habe das Ansehen des Videos "physically ill" zurückgelassen. Solche Rebellen möchten die USA dann vielleicht doch nicht fördern.