Wie demokratisch sind deutsche Betriebe? Jugend fordert Wandel
Shell-Jugendstudie zeigt: Junge Menschen glauben an Demokratie. Doch im Betrieb erleben viele das Gegenteil. Warum endet Mitbestimmung oft, wo es spannend wird?
Die 19. Shell-Jugendstudie zeigt, wie groß das Vertrauen in die Demokratie ist. Dafür wurden 2.509 junge Menschen zwischen 12 und 25 Jahren repräsentativ befragt. "Die Zustimmung zur Demokratie als Staatsform bleibt auch hoch, da geht eigentlich nichts zurück", erläutert Studienautor Mathias Albrecht.
Was unter "Demokratie" verstanden wird, bleibt bei Auswertung der Befragung offen. Dabei wäre genau das wichtig. Denn viele Auszubildende erleben in den Betrieben, wie wenig demokratisch Entscheidungen organisiert sein können. Und sie sehen, welche Verantwortung Menschen als Arbeitskräfte in der Praxis haben.
Viele Arbeitsprozesse sind in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr mit einer zentral durchdachten Steuerung regelbar. Die Arbeitsorganisation erfordert eine andere Ausrichtung der Unternehmen, um digitalisierte Arbeitsprozesse besser im Firmensinne steuern zu können. "Befehl und Gehorsam" als Führungskonzept funktioniert nicht mehr – vielmehr werden Arbeitsgruppen mit Aufgaben betraut, die sie eigenverantwortlich lösen müssen.
Dezentrale Entscheidungen durch moderne Managementmethoden
Die eingesetzten Managementmethoden sind unterschiedlich. Häufig erfolgt die Organisation "Lean". Lean Management ist eine Methode, die aus dem Toyota Production System stammt. Ursprünglich kommt der Ansatz aus der Fertigung, wird aber heute auch in Dienstleistungs- und Entwicklungsprojekten eingesetzt. Die Methode zielt darauf ab, kontinuierliche Verbesserung anzustreben.
Eine prozessorientierte Projektmanagementmethode ist Prince2 (Projects in controlled environments), die in Großbritannien entwickelt wurde und inzwischen weitverbreitet ist. Sie bietet eine strukturierte Vorgehensweise für das Management von Projekten.
Durch definierte Rollen und Verantwortlichkeiten wird Transparenz und Verantwortlichkeit gefördert. So können Aufgaben von Beschäftigten dezentral übernommen werden. Entscheidend ist dabei nicht der Weg, sondern nur das Ergebnis.
Agile Gruppen setzen die Scrum-Methode ein. Dabei arbeiten Teams in Sprints, die in der Regel zwei bis vier Wochen dauern. Es gibt regelmäßige Meetings wie tägliche Stand-up-Treffen oder Sprint-Reviews.
Scrum soll Teamarbeit und Transparenz fördern und schnelle Anpassungen ermöglichen. Heute werden etwa Entwickler-Teams danach organisiert, die im Unternehmensinteresse neue Produktkonzepte erarbeiten, mit denen Gewinne gesteigert werden können.
Mitentscheidung im Betrieb endet bei den wichtigen Fragen
Aufgabe der Manager ist es, mit diesen Methoden die Arbeitsorganisation zu definieren. Insofern ist es nur konsequent, wenn das Wissen der Beschäftigten genutzt wird, um unternehmerische Entscheidungen zu treffen.
Dies kann beim Vorschlag und selbst der Wahl von Vorgesetzten beginnen. Es kann aber auch zu neuen Formen der Teamarbeit führen, bei denen nicht ein Vorgesetzter entscheidet oder koordiniert, sondern Teams gemeinsam über die Arbeitsorganisation entscheiden und einen Sprecher als Vertreter wählen. In manchen Betrieben sind dies fast schon demokratische Elemente, da ein Team gemeinsame Abstimmungen vornehmen muss.
Wenn Beschäftigte als Experten eigenverantwortlich immer mehr Entscheidungen treffen sollen, muss sich dies auch auf die Produktplanung, Investitionsentscheidungen und Gewinnentnahme beziehen, wenn sie ernsthaft beteiligt werden sollen.
In der Initiative "VW heißt Verkehrswende" diskutieren etwa Umweltaktivisten und einzelne Arbeiter über zukunftsweisende Produktion. Sie definieren Arbeit und Produktion als zentrales Feld des Wandels genauso wie Demokratie- und Eigentumsfragen. Und halten sichere Arbeitsplätze für realistisch, wenn die Produkte einen gesellschaftlichen Nutzen haben. Deshalb diskutieren sie über Straßenbahn-Produktion, statt über neue SUV-Modelle.
Wichtig bei einer Demokratie im Betrieb ist die Personalbedarfsplanung. Diese kann nur aus den Unternehmenszielen abgeleitet werden und steht deshalb in engen Zusammenhang mit der Produktions- und der Investitionsplanung.
Demokratie im Betrieb würde aber weiter greifen: Zu entscheiden ist nicht nur über die Arbeitsbedingungen. Sondern auch, welche Produkte, welche Dienstleistungen angeboten werden sollen.
Diskussionen in Seminarsituationen mit jungen Menschen, die im Betrieb zu Jugend- und Auszubildendenvertretern gewählt wurden, führen oft zu der Frage, warum Demokratie in wichtigen Bereichen wie Investitionsentscheidungen oder Gewinnverwendung endet.
Demokratie als Gesprächsrunde in der Straßenbahn
Ein anderes Verständnis zeigt Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller. "Demokratiezug rollt bald durch Kassel", berichtet die Frankfurter Rundschau. Ein Straßenbahnwagen soll ein "mobiler Diskussionsraum" sein.
Die Initiative "Platz nehmen für Demokratie" möchte so neue Diskursräume öffnen. Das Projekt soll den "Meinungsaustausch im öffentlichen Raum stärken und Menschen dazu ermutigen, sich aktiv miteinander auseinanderzusetzen, über das, was sie gerade bewegt, ins Gespräch zu kommen", erklärten die Initiatoren.
Ein offenes Gespräch über die jeweiligen Standpunkte helfe der Gesellschaft, das Zusammenleben gut zu gestalten. Schoeller begrüßt das mobile Angebot, damit Menschen miteinander ins Gespräch kommen.
Das ist es, was die Demokratie im Kern auszeichnet: dass man Positionen bezieht, dass man einander zuhört, dass man gegenseitige Positionen toleriert und sich auf die Suche nach Kompromissen begibt.
Sven Schoeller
Die Initiatoren erläutern allerdings nicht, wie die Reduzierung der Demokratie auf reine Gesprächsrunden ein Zeichen gegen Rechtsradikalismus setzen soll.