Wie der Bundesinnenminister mit fingierten Zusammenhängen Propaganda macht
Schäubles Scheinargumente Teil II
Viele Argumente des Bundesinnenministers können als falsch widerlegt werden. Die Fehler beruhen aber nicht darauf, dass Schäuble sich in der Sache irrt. Sie sind Teil einer kalkulierten politischen Strategie. Schäubles falsche Argumente sollen eine Wirklichkeit suggerieren, in der seine Vorstellungen von Sicherheitspolitik realistisch, dringend geboten und vernünftig erscheinen (Schäubles Scheinargumente Teil 1: Wie der Bundesinnenminister das Thema Bürgerrechte umgeht und was ihn wirklich interessiert).
In seinem in der ZEIT abgedruckten Vortrag vor der Justizpressekonferenz in Karlsruhe stellt Schäuble einige Behauptungen auf, die vor allem dazu dienen, seine Position als sachlich geboten und vernünftig darzustellen. Behauptet werden Tatsachen, die als Schlussfolgerung eine bestimmte Sicherheitspolitik geradezu erzwingen. Schäubles Politik erscheint dann als folgerichtig. Schäuble erweckt in seinem Vortrag den Eindruck, dass sich diese Folgerichtigkeit sich aus der Warte einer überparteilichen Vernunft ergebe. Die Kritik am Bundesinnenminister laufe so ins Leere. Seine Sicherheitspolitik lasse sich, so die Botschaft zwischen den Zeilen, weder als Parteipolitik noch als Rationalisierung einer problematischen psychischen Disposition diskreditieren. Schäuble stellt sich somit dar als bescheidener Vollstrecker einer jedem aufgeklärten Menschen zugänglichen Vernunft.
Diese rhetorische Zielstellung wird erkennbar, wenn man die behaupteten Tatsachen prüft. Denn dann zeigt sich, dass sie sachlich zweifelhaft oder gar falsch sind. Diese Schwachstellen sind aber nicht zufällig. Sie sind so konstruiert, dass sie oberflächlich eine Suggestivkraft entfalten, die dazu verführt, Schäuble spontan recht zu geben. Im Folgenden möchte ich diese Konstruktion politisch nützlicher „Tatsachen“ bei Schäuble vorführen, um zu zeigen, mit welchen Tricks der Innenminister hier arbeitet und welche Einwände dagegen helfen. Dabei gehe ich besonders auf zwei rhetorisch konstruierte „Tatsachen“ in Schäubles Vortrag ein:
- Die Gewalt privater Personen stellt einen viel existenzielleren Einschnitt in die individuelle Freiheit dar als die durch den demokratischen Rechtsstaat vorgenommene Videoüberwachung.
- Die Gewalt privater Personen sind eine stärkere Grundrechtsgefährdung als die Sicherheitsmaßnahmen des demokratischen Rechtsstaates.
1. Ist Videoüberwachung harmloser als private Gewalt?
Die Konstruktion von „Tatsachen“ wird am folgenden Beispiel sehr gut erkennbar, wobei es vor allem auf den letzten Satz dieses Zitats ankommt:
Auch die terroristische Bedrohung beeinträchtigt die Bewegungs- und Handlungsfreiheit der Bevölkerung unmittelbar. Wenn etwa in der Debatte über die Videoüberwachung öffentlicher Räume die gefühlte – und damit auch reale – Verkürzung der Freiheit geltend gemacht wird, so ist ebenso an die reale Verkürzung individueller Freiräume zu erinnern, die aus bedrohter persönlicher Sicherheit im öffentlichen Raum erwächst. Wer ist unfreier: der Bürger, der sich aufgrund einer Sorge vor Kriminalität zu bestimmten Zeiten nicht mehr an bestimmte Orte traut, oder derjenige, der bestimmte Räume meidet, weil sie videoüberwacht sind?
Hervorhebung von mir, M.L
1.1 Schäubles Botschaft: Gewalt macht unfreier als Kameras
Die Behauptung Schäubles lautet, dass Straftäter eine wesentlich stärkere Bedrohung der Freiheit des Einzelnen bewirken, als es staatliche Sicherheitsmaßnahmen je sein könnten. Im Grunde sei die von Straftätern ausgehende Gefahr sogar die einzig wirkliche. Ich will hier zunächst darlegen, wie dieses rhetorische Konstrukt dafür sorgen kann, dass es geglaubt wird.
Zunächst spricht einiges für Schäubles Behauptung. Man stelle sich einen Ort vor, an dem bekanntermaßen gewalttätige Jugendbanden das Sagen haben. Das Wissen um die durch diese Banden dargestellte Gefahr macht in der Tat unfrei. Von den Gewalttätern geht eine unmittelbare Bedrohung für Leib und Leben aus. Diese Bedrohung macht Angst. Angst untergräbt das planende vernünftige Handeln. Sie sorgt einerseits für eine Emotionalisierung, so dass nicht mehr mit kühlem Kopf abgewogen werden kann.
Angst raubt dem Ängstlichen also die Souveränität. Andererseits ist sie ein Warnhinweis und macht auf das Risiko von Schmerzen und ernsthaften Verletzungen aufmerksam. Wer überleben will, muss dieser Gefahr aus dem Weg gehen. Die Möglichkeit, Opfer einer Gewalttat zu werden, zwingt dem Bedrohten eine Handlung auf. Er muss diesen Ort meiden, ob er will oder nicht. Er kann weder die durch die Möglichkeit von Gewalttaten ausgelöste Angst noch die reale Präsenz von Gewalttätern ignorieren. Er muss den Tatsachen ins Auge sehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Folglich hat der Bedrohte gar keine Wahl, kann also gar nicht frei entscheiden, was er tut.
Eine Videokamera, die einen öffentlichen Ort überwacht, ist dagegen viel weniger bedrohlich. Die Kamera kann nicht verletzen und töten. Deshalb muss kein Bürger Schmerzen und Verletzungen befürchten. Die Videokamera kann man auch ignorieren und so tun, als wäre sie nicht da. Diese Verdrängung des Beobachtetwerdens ist - anders als im Fall von Gewalttätern - folgenlos. Die Überwachungskamera ist zudem fest installiert, so dass man leicht auf Abstand zu ihr gehen kann. Gewalttäter können dagegen ihr Opfer verfolgen. Also ist die Flucht geboten ist, bei der das Opfer schneller sein muss als seine Verfolger. Diese Zudringlichkeit hat die Kamera nicht, sie bleibt an ihrem Platz. Das erlaubt eine ruhige Gelassenheit angesichts der Kamera. Will man sich aus ihrem Blickwinkel entfernen, so kann man dies in aller Ruhe tun. Es bleibt Zeit, eine wohl abgewogene Entscheidung zu treffen.
1.2 Die Taktik des Ministers: Auslassen wichtiger Fakten und Zusammenhänge
Selbst wenn man der Auffassung ist, dass Videoüberwachung grundsätzlich verwerflich ist, muss man bis hierher anerkennen, dass die Bedrohung und die Unfreiheit durch Gewalttäter existenzieller und einschneidender ist. Genau das ist die Botschaft, die Schäuble mit seinem Vergleich zwischen Gewalttaten und Videoüberwachungen vermitteln möchte. Aber der Minister bedient sich hier im Grunde eines rhetorischen Tricks. Sein Vergleich ist nämlich keineswegs stimmig.
- Erster Einwand: Schäuble hat sich für diesen Vergleich eine äußerlich besehen relativ harmlose Variante staatlicher Sicherheitsmaßnahmen ausgesucht. Er ist also in seiner Darstellung recht selektiv. Der Innenminister unterlässt es, auch andere viel folgenreichere Varianten als die Videoüberwachung in den Vergleich einzubeziehen. Zu denken wäre dabei an Maßnahmen, die sehr stark in die Privatsphäre eingreifen oder die individuelle Freiheit beschneiden wie Hausdurchsuchungen, Wohnraumüberwachungen oder Vorbeugehaft. Dass der Minister dies unterlässt, ist schon etwas unredlich. Seine Behauptung, dass die Bedrohung durch Straftäter grundsätzlich größer sei als die durch den Staat, kann nämlich nur dann als bewiesen gelten, wenn er alle Fälle staatlicher Maßnahmen mit den Risiken durch Straftaten vergleicht. Diesen „Beweis“ hat Schäuble hier nur ganz punktuell geführt, eine echte Prüfung seiner These hat er vermieden. Deshalb kann sie auch nicht überzeugen. Es ist (um eine Forderung von Peter Monnerjahn aufzugreifen: Zu kurz gedacht: Schäuble und seine Kritiker) auch nicht die Aufgabe der Schäublekritiker, diese Prüfung vorzunehmen, vielmehr ist der Minister selber in der Bringschuld, seine These zu plausibilisieren.
- Zweiter Einwand: Schäuble berücksichtigt die tatsächlichen Auswirkungen der Videoüberwachung auf die individuelle Freiheit gar nicht. Die „Unterschlagung“ dieser Folgen geschieht nicht aus Naivität. Sein Vergleich ist darum eigentlich ein Scheinargument mit bloß rhetorischer Funktion.
Deutlich wird das, wenn man die in diesem Vergleich steckende Inszenierung Schäubles mit berücksichtigt. Zwischen den Zeilen geriert der Innenminister sich nämlich als Mann der harten Fakten. Vorsichtig gesteht er zu, dass auch staatliche Sicherheitspolitik eine gewisse Einschränkung der Freiheit bedeuten mögen (wenn auch eine gefühlte). Aber für die Beurteilung und Bewertung von eventuellen Freiheitsbeeinträchtigungen komme es auf die Folgen für die Bürger an. Wie wirken sich bestimmte Freiheitsbeschneidungen real aus? Alles andere sei bloße Theorie. Im Vergleich von Videoüberwachung und Kriminalität zeige sich ganz objektiv, dass das Risiko bei der Kriminalität erheblich höher ist. Wer sich an die Tatsachen hält, müsse daher in der Kriminalität das weitaus schlimmere Übel sehen. So gesehen ginge es hier gar nicht um die persönlichen politischen Vorstellungen von Wolfgang Schäuble, sondern schlicht um die Wirklichkeit, wie sie unwiderruflich gegeben ist. Deshalb wäre es nur folgerichtig, das größere Übel der Kriminalität mit dem kleineren Übel der Videoüberwachung zu bekämpfen.
Doch dieser Selbstinszenierung als jemand, der sich ausschließlich für Fakten interessiert, folgen keine entsprechenden Taten. Schäuble verbleibt bei seinem Beispiel der Videoüberwachung schlicht an der Oberfläche. Er thematisiert nur die „Folgen“, die man mit bloßem Auge unmittelbar sehen kann.
Dem ist aber entgegen zu halten, dass solche Überwachungsmaßnahmen Konsequenzen haben können, die man durch den Augenschein nicht wahrnehmen kann. So sieht man nicht, ob und in welcher Weise diese Daten gespeichert werden. Ihre Auswertung durch die Polizei vollzieht sich im Verborgenen. Zu welchen Schlüssen der auswertende Polizist kommt, kann man der Kamera nicht ansehen. Die Folgen von Videoüberwachungsmaßnahmen können jedoch noch erheblich komplexer sein. Sie wirken sich langfristig aus, etwa durch die Speicherung von Daten oder durch den schleichenden Wandel im Umgang mit solchen Informationen. Daten werden zunächst zu bestimmten Zwecken erhoben. Liegen diese Daten erst einmal vor, können sie sich auch neue Verwendungszwecke schaffen: Plötzlich wird erkannt, welche ungeahnten Möglichkeiten diese Sammlung noch bietet. Niemand kann daher wirklich genau vorhersagen, welche Schlussfolgerungen in Zukunft aus diesen Daten gezogen werden und welche staatlichen Aktivitäten diese nach sich ziehen. Die Konsequenzen der Videoüberwachung für den Bürger erschließen sich also nur einer gründlichen Nachforschung und Reflektion. Der bloße Augenschein genügt dagegen nicht und wiegt allenfalls in trügerischer Sicherheit.
Wäre Schäuble wirklich an objektiven Fakten interessiert, hätte er sich hier auch die Arbeit machen müssen, alle möglichen und tatsächlichen Folgen seiner Sicherheitspolitik zu reflektieren. Zudem sollte es einem Bundesinnenminister, der sich tagtäglich mit dieser Materie auseinandersetzt und der gerne als Intellektueller beschrieben wird, nicht schwerfallen, komplexere Zusammenhänge zu durchschauen. Von einem promovierten Juristen kann man dies sicher verlangen. In seinem Vortrag bedient sich Schäuble aber eines weit verbreiteten Konkretismus, der nur das für real hält, was man direkt sehen kann. Eben weil sein Vergleich von Kriminalität und Videoüberwachung auf diesen Erkenntnismustern vieler Menschen beruht, kann er auf unkritische wie spontane Zustimmung hoffen. Seine Argumentation lebt daher allein von der Suggestion einer unbestreitbaren Tatsache. Damit wäre aber die Auseinandersetzung mit den Fakten erfolgreich vermieden. Eine solche Vorgehensweise des Ministers lässt sich daher nur als rhetorischer Trick begreifen.
2. Gefährdet private Gewalt das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit?
Thematisch interessant ist ein weiteres rhetorisches Konstrukt:
Unter den Bedingungen moderner Staatlichkeit bedrohen nur nichtstaatliche Akteure das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Auch die persönliche Freiheit und die Bewegungsfreiheit sind weit mehr von nichtstaatlicher Gewalt bedroht als durch den Rechtsstaat.
Hervorhebung von mir, M.L.
Dieses Zitat geht dem oben besprochenen voran. Auch hier geht es um Gewalt, die durch Straftäter ausgeübt wird. Interessant und merkwürdig ist vor allem die Behauptung, dass solche Gewalttäter „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ bedrohen. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein verfassungsmäßig verbrieftes Grundrecht. Wie kann es nun sein, dass ein Straftäter dieses Grundrecht bedroht? Ich behaupte: Schäuble vermischt hier unzulässig der Ebene konkreter Rechtsbrüche in Gestalt von Straftaten mit der Ebene der Grundrechtseingriffe. Diese These will ich belegen.
2.1 Gewalttaten schreiben die Verfassung nicht um
Man kann das am Beispiel eines gewalttätigen Schlägers verdeutlichen. Wenn dieser einen anderen angreift, dann bedroht er die körperliche Unversehrtheit und je nach Brutalität auch das Leben seines Opfers. Der Schläger begeht damit einen Rechtsbruch, denn Körperverletzung ist vom Gesetz verboten. Ein solches Verbot soll das Recht des Opfers auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen. Der Gewalttäter lässt sich jedoch nicht vom Verbot abhalten und schlägt zu und fügt seinem Opfer Schmerzen zu. Liest man die Grundrechte der Verfassung als Garantieversprechen, könnte man zu dem Schluss kommen, Schäuble habe recht.
Allerdings ist ein Rechtsbruch durch eine Gewalttat nicht dasselbe wie eine Gefährdung des Grundrechts. Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist ein Instrument, um den Bürger vor Gewalt zu bewahren bzw. um die Unrechtmäßigkeit von Gewalt als gültige Norm durchzusetzen. Die Attacke des Gewalttäters richtet sich aber nicht gegen dieses Instrument, sondern auf das, was durch dieses Instrument geschützt werden soll. Angegriffen und geschädigt wird vor allem eine konkrete Person. Das Grundrecht selbst wird in seinem Bestand nicht angegriffen.
In erster Linie ist dieses Grundrecht ein Text. Der Verfassungstext wird durch eine einzelne Gewalttat aber noch lange nicht umgeschrieben. Auch nach der Gewalttat behält dieses Grundrecht den selben Wortlaut wie vorher. Die stattgefundene Gewalt wird nicht schon deshalb, weil sie stattgefunden hat, positiv neu bewertet. Das Gesetz passt sich nicht automatisch den Fakten an, im Gegenteil: Die durch das Gesetz vorgenommene Bewertung der Gewalt als verwerflich kann auf jeden Fall auch kontrafaktisch geschehen. Genau dieser Umstand macht eine Strafverfolgung ja auch erst möglich. Die juristische Norm sorgt dafür, dass nicht einfach akzeptiert wird, was geschehen ist. Stattdessen erzwingt sie Maßnahmen wie die Strafverfolgung, die dieser Norm auch nachträglich wieder Gültigkeit verschaffen sollen.
Desgleichen ändert eine konkrete Straftat nichts an den Machtverhältnissen im Staat. Keine noch so brutale wie verwerfliche Tat stellt das Bestehen von Polizei und Justiz in Frage. Solange Polizei und Justiz existieren und funktionieren, ist also auch jederzeit eine Strafverfolgung und Sanktionierung möglich.
Eine Gefährdung des Grundrechts könnte von einem Straftäter nur dann ausgehen, wenn seine Attacke dieses Grundrecht selbst verändert oder beschädigt. Dies kann aber nur geschehen durch einen Gesetzgebungsprozess. Das bedeutet, dass der Kriminelle eine verfassungsgebende Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages für seine Zwecke einspannen müsste. Doch nur in den allerseltensten Fällen haben Kriminelle diesen Einfluss auf die Gesetzgebung, geschweige denn einen minimalen Zugang zu ihr. Dieser Zugang kann schon gar nicht durch die einzelne Gewalttat erlangt werden. Deshalb kann der einzelne Straftäter Grundrechte nicht wirklich gefährden, egal, wie brutal er gegen seine Opfer vorgeht.
2.2 Was die Gleichsetzung von Straftat mit Grundrechtsgefährdung ausblendet
Echte Grundrechtsgefährdungen müssen immer auf den Bestand der Grundrechte, mithin auf einer Veränderung des Verfassungstextes zielen. Deshalb sind diejenigen, die die Grundrechte wirklich bedrohen, eher dort zu vermuten, wo Gesetze gemacht und verfassungsgebende Mehrheiten eingeworben werden können. Damit will ich nicht behaupten, dass Politiker generell eine Gefahr für die Grundrechte darstellen. Sie sind aber die einzigen, die ernsthaft am Bestand der bislang verbrieften Rechte rütteln können. Deshalb ist die Behauptung Schäubles, dass die Bedrohung der Grundrechte vor allem von Kriminellen ausgeht, nichts als ein Ablenkungsmanöver, das die tatsächlichen Ursachen von Grundrechtsgefährdungen ausblendet.
Die Gleichsetzung von Straftaten mit Grundrechtsgefährdungen übersieht auch, dass die jeweilige Straftat nur ganz konkrete Personen schädigt, während ein neues Sicherheitsgesetz potenziell jeden Bürger des Landes betrifft. Da jeder Bürger den geltenden Gesetzen unterworfen ist, müssen alle nun nach neuen Spielregeln handeln. Das gilt auch für jeden, der nicht unmittelbar durch die vom neuen Gesetz legalisierten Polizeimaßnahmen betroffen ist. Neue Sicherheitsgesetze ziehen die Grenze zwischen erlaubt und verboten neu. Das, was gestern noch legal war, ist heute vielleicht schon strafbar oder macht mindestens verdächtig. Also muss der Bürger seine gewohnte Abwägung, ob sein Handeln schon für die Polizei anstößig ist oder nicht, er als nicht mehr wirklichkeitsgerecht aufgeben.
Ein weiterer Unterschied zu einzelnen Straftaten ist bedeutsam: Verfassungsänderungen, aber auch die verfassungskonformen Sicherheitsgesetze sorgen für eine dauerhafte Veränderung des Status quo. Wenn diese Sicherheitspolitik Nachteile für die bürgerlichen Freiheiten mit sich bringt, dann bestehen diese relativ dauerhaft. Eine Straftat verletzt die Rechte dagegen nur vorübergehend.
2.3 Kann extreme Gewalt Grundrechte außer Kraft setzen?
Aber es gibt vielleicht einen hypothetischen Fall, in dem die Behauptung der Grundrechtsgefährdung durch Straftäter Sinn machen könnte. Denkbar ist eine Situation, in der der Staat zu schwach ist, um wiederholte Gewalttaten zu unterbinden. Wenn also die Aussicht auf Strafen kaum jemand davon abschreckt, Gewalt einzusetzen und die Bürger jederzeit befürchten müssen, Opfer von Gewalt zu werden, herrscht faktisch das Recht des Stärkeren. Dieses setzt ein jedermann ausnahmslos zugebilligtes Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit außer Kraft. In so einem Fall stünde dieses Grundrecht nur noch auf dem Papier und hätte für den Alltag der Bürger keinerlei Relevanz. Es wäre also Makulatur, denn es beschriebe nicht die Wirklichkeit, sondern einen unrealistischen Idealzustand.
In diesem Sinne wäre eine ansteigende Gewalt tatsächlich eine Grundrechtsgefährdung, weil das Grundrecht es nichts mehr gilt und niemanden mehr schützt. Nur Theoretiker würden sich an dem Papier und an den Worten festklammern. Ein Mann wie Schäuble, der sich als Mann der Fakten inszeniert, würde eher auf das verweisen, was wirklich gilt. Das heißt, Schäuble könnte mit einem Verweis auf einen solchen Extremzustand seine Aussage als sachlich richtig rechtfertigen. Dazu genügt es, vor der Gefahr zu warnen, dass ein solcher Zustand sich einstellen könnte angesichts einer wachsenden terroristischen Bedrohung.
Doch stimmt das wirklich?
- Erstens wäre zu prüfen, ob ein solcher Extremfall wirklich vorstellbar ist. Nur wenn die Strafverfolgung völlig versagt, ist das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch eine Vielzahl von Gewalttaten komplett außer Kraft gesetzt. Denn nun müsste kein Gewalttäter die Konsequenzen seines Handelns mehr fürchten. Jetzt würde er durch jeden Faustschlag wirklich Fakten schaffen. Allerdings müsste schon sehr viel passieren, dass selbst die Staatsorgane keine noch so geringen Wirkungen mehr erzielen können. Der 11. September 2001 hat gezeigt, dass auch immens schwere Verbrechen nicht das Gewaltmonopol des Staates erschüttern müssen. Auch ein terrorgebeutelter Staat wie Israel, der nicht immer seine Bürger vor Anschlägen schützen kann, verfügt trotz alledem über intakte und wirksame Gewaltmittel. Anders gesagt: Wer die Gefahr der vollkommenen Rechtlosigkeit aufgrund einer zunehmenden Gewalt beschwört, muss diese Behauptung plausibel machen können. Er muss erklären, in welchem konkreten Stadium der Staat seine Handlungsfähigkeit verliert und er muss nachweisen, dass ein solches Szenario überhaupt realistisch ist (diese Forderung beruht wiederum auf dem bereits erwähnten Artikel von Peter Monnerjahn). Nur wenn ihm das gelingt, kann er von seinem Publikum erwarten, seine Schlussfolgerungen und seine politischen Vorschläge zu teilen.
- Zweitens gäbe es auch in diesem Extremfall die Möglichkeit, das gesetzliche verbriefte Grundrecht einzuklagen. Es mag natürlich nicht viel nützen, weil man von den Gerichten abgewiesen wird, aber immerhin lässt sich dieses Versagen des Staates und der Politik noch skandalisieren. Selbst, wenn das Grundrecht wirklich nur ein Stück Papier wäre, böte es doch die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt zu stärken. Die Berufung auf ein solches Recht macht deutlich, dass der Betroffene in diesem Fall nicht bloß eine subjektive Meinung vertritt. Eine solche Einzelmeinung ließe sich schnell abtun und relativieren. Es existiert aber mit dem Gesetzestext eine objektive Norm, deren Einhaltung oder Verletzung sich im Einzelfall prüfen lässt. Diese Norm ist für jeden nachlesbar im Gesetzbuch. Jeder kann sich selbst ein Bild machen, ob die Wirklichkeit dem im Gesetzestext formulierten Anspruch genügt. Dadurch gewinnt die Kritik dessen, der die Verletzung der Norm skandalisiert, eine gewisse Objektivität. Und weil der Staat einst diese Norm als Anspruch proklamiert hat, an dem die Wirklichkeit gemessen werden soll, muss er sich dieser Kritik stellen. Wo er diese Norm nur noch als Fassade aus propagandistischen Gründen aufrecht erhält, sorgt er trotzdem dafür, dass die Kritik immer wieder neu entflammt. Schließlich bekommt man so stets vor Augen gehalten, wie es anders sein könnte. Die untergegangene DDR ist ein Lehrbeispiel dafür, wie das ideologisch geschönte Selbstbild des Staates die Enttäuschung über die graue Wirklichkeit mit befördert und am Leben erhalten hat. Auch eine hohe Zahl an Straftaten kann diese Möglichkeit der Kritik und der Skandalisierung nicht aus der Welt schaffen. Dagegen kann eine veränderte Sicherheitsgesetzgebung schon dazu führen, dass der Skandalisierung der Boden entzogen wird. Wenn Grundrechte gesetzlich aufgeweicht oder abgeschafft werden, fehlt die objektive Norm, auf die man sich berufen kann. Die Kritik einzelner Bürger an der mangelnden Freiheit findet keine institutionelle Stütze mehr und lässt sich leichter diskreditieren als subjektive Nörgelei. Das Etikett der Rechtsstaatlichkeit sorgt dann für eine Aufwertung des Status Quo. Was rechtsstaatlich ist, kann ja nicht schlecht sein. Der Staat stünde außerdem nicht mehr in der Pflicht, das beklagte Problem ernst zu nehmen. Es wäre weder Angelegenheit der Polizei noch der Justiz.
2.4 Fazit
Die Behauptung Schäubles, private Gewalt sei bereits eine Grundrechtsgefährdung erweist sich als überstilisiert und falsch. Zugleich sorgt diese Aussage für eine Ablenkung von den tatsächlichen Eingriffen in die Grundrechte. Damit werden diese der Kritik entzogen. Der Innenminister spielt zudem mit der Kriminalitätsangst vieler Bürger, die seiner Behauptung suggestive Kraft verleiht. Die Erinnerung an die Möglichkeit von Gewalt weckt Ängste. Der Innenminister spricht scheinbar direkt weit verbreitete Sorgen der Bevölkerung an. Das Empfinden, dass Schäuble die eigenen Probleme ernst nimmt, kann dann ein gründlicheres Nachdenken über dessen Behauptungen blockieren.
3. Nutzt die Kritik an Schäuble & Co. überhaupt etwas?
3.1 Kritik als Selbstschutz
Als ich vor zwei Jahren den Satz "Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten" in der Telepolis analysierte, schrieb Bettina Winsemann in einem Kommentar, dass eine solche Analyse bedeute, Perlen vor die Säue zu werfen. Diejenigen, die diesen Satz zur Rechtfertigung von Sicherheitspolitik einsetzen, wären ohnehin nicht an Argumenten interessiert. Winsemann hat recht.
Die Mühlen der Wissenschaft mahlen langsam. Wort für Wort wird sorgfältig abgewogen, jeder Gedanke gründlich geprüft. Das kostet Zeit und verhindert eine rasche Reaktion auf die je aktuellen Aktionen des Bundesinnenministers. So läuft eine Kritik, die auf Nachdenken fußt, den Tatsachen im Grunde hilflos hinterher. Der wissenschaftlich motivierte Kritiker bleibt Gefangener seines Berufes, denn er muss auch darauf achten, seine Reputation nicht durch allzu leichtfüßige Thesen zu riskieren. Dem gegenüber hat Schäuble das Gesetz des Handelns auf seiner Seite. Er muss sich nicht um eine ausgewogene Argumentation bemühen. In der Politik überzeugt man in erster Linie nicht mit Argumenten, sondern setzt sich über die Gewinnung von Mehrheiten durch. Wer dank solcher an den Schalthebeln der Macht sitzt, braucht sich nicht lange damit aufzuhalten, die Argumente seiner Kritiker gründlich zu studieren. Er kann einfach Tatsachen schaffen, weil er die Macht dazu hat. Die reine akademische Kritik stellt diese Macht nicht im Geringsten in Frage.
Wozu dann noch Kritik?
Es geht mir zumindest nicht darum, Herrn Schäuble zur Umkehr zu bewegen. Mein Ziel ist eine gewisse Selbstverständigung. Es geht darum, sich selbst davor schützen, rhetorische Konstrukte und propagandistische Scheinwahrheiten für bare Münze zu nehmen. Man mag zwar sein Selbstverständnis als kritischer Geist pflegen, aber man ist trotzdem nicht davor gefeit, solchen Verfälschungen aufzusitzen. Man entkommt ihnen nicht durch den Kritiker-Gestus allein, sondern nur durch die Arbeit des Nachdenkens und Prüfens. Wo man dies unterlässt, dringen solche Rhetoriken unbemerkt in das eigene Denken ein.
3.2 Rhetorik schafft neue Wirklichkeiten und Rechtfertigungszwänge
Ein erster Weg, wie diese Rhetoriken sich in das eigene Denken einschleichen, ist paradoxerweise die kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Der Streit legt die Streitenden auf ein gemeinsames Thema fest. Auch der Kritiker der Sicherheitspolitik macht diese zu seinem Hauptthema. Er akzeptiert damit bereits die Wichtigkeit dieses Politikfeldes, obwohl politisch vielleicht am hilfreichsten wäre, es niedriger zu hängen. Denn nur weil es so ein aktuelles Thema mit hoher Priorität geworden ist, haben verschiedenste Sicherheitsvorschläge erst die Chance, wahrgenommen oder gar realisiert zu werden.
Auch wird sich jeder Kritiker mit dem Zweifel herumschlagen müssen, je mehr er sich mit den Argumenten seines Gegners auseinandersetzt. Wer sich intensiv und häufig an Schäubles Politik abarbeitet, bei dem nimmt das eigene Kritikersein einen großen Raum im Leben ein. Dadurch wird dieses immer mehr zu einem Teil der eigenen Identität. Diese muss man dann vor Infragestellung schützen. In Frage gestellt wäre diese Identität aber dann, wenn der Kritiker sich grundlegend irrt. Deshalb wird er immer mit dem latenten Zweifel kämpfen, ob er nicht am Ende falsch liegt und seinem Gegner doch recht geben muss. Angesichts dieser Gefahr scheint es eigentlich ratsamer, sich nicht zu intensiv der Kritik zu widmen.
Warum muss man aber trotzdem kritisieren? Die von mir angesprochenen Rhetoriken dringen auch deshalb in das eigene Denken ein, weil sie Teil einer sich verändernden Wirklichkeit werden. Sie lassen sich daher gar nicht ignorieren. Wer sie ignoriert, riskiert, dass sie unbemerkt als alltägliche Gewissheiten in das eigene Denken Eingang finden.
Die kritisierten Positionen in der Sicherheitspolitik verändern die Realität bereits merklich. Sicherheitspolitik ist seit dem 9/11 ein politisches Kernthema geworden. Die unablässige Wiederholung von Medien und Politikern, man befinde sich einer dauerhaften Bedrohungslage, haben dazu geführt, dass die dadurch geweckten Ängste neue Ansprüche an die Politik generiert haben. Die großen Volksparteien zogen daraus die Schlussfolgerung, dass Sicherheitspolitik auch im Wahlkampf und im politischen Tagesgeschäft prominent und hörbar vertreten werden muss. So war der Hardliner Schily als Bundesinnenminister kein Betriebsunfall in der SPD. Er fand dort Unterstützung aufgrund der Hoffnung, dass sein Konservatismus Wählerstimmen einbringen möge.
Das Sicherheitsthema verfängt und schafft dadurch Rechtfertigungszwänge. Die permanente Warnung vor der Terrorgefahr mag man mit Hysterie abtun. Aber weil es an wirklich handfesten Informationen fehlt, bleibt der Zweifel, ob nicht doch etwas passieren kann. Niemand kann die Möglichkeit eines Terroranschlags wirklich hundertprozentig ausschließen. Das gelingt auch brillanten Kritikern nicht. Dies geht schon deswegen nicht, weil Terroristen sich durch die gegenwärtig hohe Aufmerksamkeit für das Sicherheitsthema angespornt fühlen könnten, sich öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen. Wo der Zweifel bohrt, entsteht in Teilen der Bevölkerung Angst und die Forderung nach Prävention.
Wer kritisch gegenüber der aktuellen Sicherheitspolitik ist, muss sich darum nicht nur gegenüber seinen politischen Gegenspielern rechtfertigen. Er muss jenen seiner Mitmenschen Rede und Antwort stehen, die vor dem Terror bewahrt werden wollen. Nicht zuletzt muss er auch vor sich selbst bestehen können.
Die Überzeugungen vieler Menschen schlagen sich womöglich auch in ihrem Wahlverhalten nieder. Damit bekommt plötzlich die eigene Überzeugungsfähigkeit als Kritiker eine gewisse strategische Relevanz. Es mag ja sein, dass Argumente an sich wenig bewegen und dass man selbst, wenn man überzeugt, nur wenig bewirkt. Aber die möglichen politischen Konsequenzen des Sicherheitsdenkens, zwingen einem die moralische Forderung auf, nicht nur zuzusehen. Schließlich hält der Kritiker genau diese Konsequenzen für kreuzgefährlich. Die Meinungen der eigenen Freunde und Verwandten sind – wegen ihres womöglich wahlentscheidenden Charakters – plötzlich keine Bagatelle mehr. Auch wenn man kaum wirklich an seinen Einfluss glauben mag, sieht man sich nunmehr in der moralischen Pflicht, gegen diese Vorstellungen zu argumentieren.
In der Soziologie gibt es das so genannte Thomas-Theorem1. Es besagt: „Wenn die Menschen meinen, etwas sei der Fall, dann verhalten sie sich oft so, als sei es tatsächlich der Fall“. Die Schäubleschen Rhetoriken können einfach deshalb zu einer Wirklichkeit werden, weil die Menschen glauben, dass sie stimmen. In diesem Fall ist es egal, ob diese Rhetoriken sachlich unsinnig sind oder nicht. Es genügt, dass sie das Handeln der Menschen anleiten. Die bereits verwirklichten Sicherheitsgesetze illustrieren dies. Der Paragraf 129a schuf einen neuen Begriff von Terrorismus. Diese Definition ist ungeachtet ihrer sachlichen Mängel für die Polizei handlungsleitend.
Wer von durch den Paragrafen 129a gedeckten Maßnahmen betroffen ist, kann sich bei seiner Verteidigung nicht darauf berufen, eine andere Vorstellung von Terrorismus zu haben. Er muss die gesetzliche Definition als Basis seiner Rechtfertigung akzeptieren. Der Paragraf 192a ist ein eher spektakuläres Beispiel. Die meisten machen eher keine Erfahrung mit diesem Gesetz. Aber andere Sicherheitsmaßnahmen, wie z.B. die Vorratsdatenspeicherung greifen stark in den Alltag auch unverdächtiger Menschen ein. Vor der Einführung dieser Regelung bewegte man sich z.B. halbwegs unerkannt und daher unbeschwert durchs Netz (zumindest bezogen auf den Staat). Jede Aktion im Netz war flüchtig, sie war schon im nächsten Moment, wo man die Seite verließ, im gewissen Sinne nicht mehr real. Doch durch die Vorratsdatenspeicherung wird diese Aktivität zu etwas dauerhaftem. Man kann rekonstruieren, was ein User in der Vergangenheit im Netz getan hat. Dadurch steht die immer Möglichkeit im Raum, dass man sich einst rechtfertigen muss für den Besuch einer bestimmten Seite. Es kann immer der Ernstfall eintreten, dass die eigene Internetaktivität Verdacht erregt. Dies verändert das Denken und Verhalten, ungeachtet der Aussicht, dass sich der Verdacht als unbegründet erweisen könnte. Die Leichtigkeit des Surfens geht verloren, denn im Hinterkopf erhöht die Möglichkeit, verdächtigt zu werden, das Sicherheitsbedürfnis.
Damit ist das Thema längst nicht erschöpfend behandelt. Ich denke aber, es wird deutlich, warum man für sich selbst Klarheit benötigt, was an der gegenwärtigen Sicherheitspolitik überhaupt sachlich begründbar ist und was nicht. Je mehr und je unbestrittener die Schäubleschen Rhetoriken zu einer neuen Wirklichkeit werden, desto schwieriger wird es, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Je mehr sie den Alltag prägen, desto mehr werden sie zu unhinterfragten Selbstverständlichkeiten. Es wird dann immer unwahrscheinlicher, sie überhaupt erst als Rhetorik zu enttarnen.