Wie die Ampel mit China die Demokratie untergräbt
Kurz vor der Europawahl wird ein Spion Beijings bei der AfD enttarnt? SPD und FDP kommt das gelegen – sie greifen der Justiz vor. Ein Telepolis-Leitartikel.
Es ist ein verwackeltes Bild, dunkel, mit einem verpixelten Gesicht, das heute als Indiz durch die republikanische Presse gereicht wird. Nicht verpixelt ist, links im Foto, das Konterfei des AfD-Spitzenkandidaten zur Europawahl, Maximilian Krah. Unkenntlich gemacht, rechts, das Gesicht eines seiner Mitarbeiter.
Er steht unter Verdacht, für einen chinesischen Geheimdienst spioniert zu haben. Dies berichtet die Bundesanwaltschaft. Die Informationen stammen vom Bundesamt für Verfassungsschutz.
Der Verdächtige, Jian G., soll Informationen über Verhandlungen im EU-Parlament weitergegeben und chinesische Oppositionelle in Deutschland ausspioniert haben. G. wurde am heutigen 23. April in Dresden festgenommen.
Die ganze Sache steht rechtsstaatlich noch ganz am Anfang. Bislang hat lediglich der Inlandsgeheimdienst die Vermutung, der Mann habe ausländischen Interessen gedient; die Bundesanwaltschaft folgt dem.
Wie bei Geheimdiensten üblich – in Medien, aber selten erwähnt –, lässt sich das unabhängig nicht überprüfen. Journalisten und vor allem Politiker müssten jetzt auf Ermittlungsergebnisse oder gar gerichtliche Entscheidungen warten. Aber das dauert einigen zu lange.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich besorgt über die Spionage-Vorwürfe und forderte eine genaue Aufklärung. Sie betonte, dass der Fall "genauestens aufgeklärt" und alle Verbindungen und Hintergründe ausgeleuchtet werden müssten. Dies sei "im Rechtsstaat die Sache der Ermittlungsbehörden und der Justiz", soweit die Ministerin, als ob die Justiz ohne ihre Einlassung schludrig arbeite oder nicht ermittle.
Dann sprach Faeser, die Politikerin. Sie wies auch darauf hin, dass derjenige, der einen solchen Mitarbeiter beschäftigt, dafür Verantwortung trage. Sie betonte, die Sicherheitsbehörden hätten die Spionageabwehr bereits massiv verstärkt, um sich gegen "hybride Bedrohungen des russischen Regimes, aber auch vor Spionage aus China" zu schützen. Das klang schon sehr viel weniger nach Verdacht.
Strack-Zimmermann fordert Rücktritt
Die FDP-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, setzte diese Argumentation konsequent fort und forderte, ihr unmittelbarer politischer Konkurrent Krah solle seine Kandidatur für die Europawahl zurückziehen.
Der Mitarbeiter des AfD-EU-Spitzenkandidaten arbeite mutmaßlich für den chinesischen Geheimdienst, "was seinen Chef nicht überraschen dürfte", so Strack-Zimmermann gegenüber mehreren Medien – was auch immer das bedeuten soll.
Im gleichen Atemzug betonte sie, die AfD stelle eine erhebliche Bedrohung für Deutschland dar. Die fügte hinzu, dass die besagten Personen sich als "Patrioten" bezeichnen, aber gleichzeitig Deutschland an China und Russland verkaufen.
Aus Verdacht wird Fakt
Damit hat es nur wenige Stunden gedauert, bis aus dem "Verdacht" und dem "mutmaßlichen Spion" ein Fakt und ein Täter wurden.
Zugleich überschlagen sich Vertreter der Ampelparteien in Empörung und immer neuen Steigerungen und immer weiteren Superlativen. Was aber, wenn es ihm gar nicht um die Sache geht? Nicht um das "Herz unserer Demokratie" (Justizminister Marco Buschmann, FDP) oder einen "Angriff von innen auf die europäische Demokratie" (Innenministerin Nancy Faeser, SPD)?
Was, wenn es diesen Vertretern niedergehender Parteien darum geht, sich wenige Wochen vor der vielleicht entscheidenden Europawahl in der Geschichte der Europawahlen eines lästigen Konkurrenten zu erledigen?
Der Gedanke ist unbequem, unbehaglich; er erweckt Unmut. Aber der Kampf um Demokratie ist kein Wellness-Event. Demokratie ist erst dann demokratisch, wenn sie auch für die politischen Gegner gilt. Aber halbseidene Vorwürfe einer historisch belasteten Skandalbehörde zu verwenden, um sich des rechtspopulistischen Konkurrenten zu erledigen, das ist selbst dieser FDP und dieser SPD in ihrer jeweiligen aktuellen Verfasstheit unwürdig.
Spionage: Plötzlich häufen sich die Verdachtsfälle
Während nun also Forderungen von politischen Interessenträgern erhoben und von kritischen Medien transportiert werden, hinterfragt niemand Quelle und Intentionen. Das wiegt umso schwerer, als dass ich vermeintliche Spionagefälle aus Russland und China auf einmal massiv häufen.
Was hat es damit auf sich? Was ist eigentlich mit den USA, die ja einst das Handy einer Bundeskanzlerin überwacht haben? Erinnert sich daran noch jemand?
Fakt ist: Das Bundesamt für Verfassungsschutz ist in seiner Geschichte wiederholt in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Skandale, politische Einflussnahme und fragwürdige Praktiken haben das Bild der Behörde geprägt.
Weitere Skandale des Inlandsgeheimdienstes
Von den 53 Mitgliedern der damaligen Bundestagsfraktion der Partei "Die Linke" wurden während der 16. Legislaturperiode 27 durch den Inlandsgeheimdienst beobachtet. Das Bundesverfassungsgericht urteilte 2013, dass die Überwachung von Abgeordneten wie Bodo Ramelow gegen das Grundgesetz verstoße und einzustellen sei.
Die AfD stufte der Verfassungsschutz zunächst als Verdachtsfall ein, was eine Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln ermöglicht. Ein Eilantrag der AfD gegen diese Einstufung hatte zunächst Erfolg. Doch im März 2022 bestätigte das Verwaltungsgericht Köln, dass das BfV die AfD als Verdachtsfall führen darf.
Der "Verfassungsschutz" und der NSU
Es gibt noch kritischere Fälle. Nach dem Bekanntwerden der Morde, Sprengstoffanschläge und Banküberfälle der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" wurden beim Verfassungsschutz potenziell relevante Akten zum Umfeld der Täter vernichtet.
Infolgedessen trat der damalige Präsident Heinz Fromm zurück. Bis heute ist unklar, inwieweit der Inlandsgeheimdienst im Aufbau der rechtsterroristischen Strukturen verstrickt war.
Im Jahr 1963 hatte der "Verfassungsschutz"-Mitarbeiter Werner Pätsch aufgedeckt, dass das BfV in Zusammenarbeit mit amerikanischen und britischen Geheimdiensten das Post- und Fernmeldegeheimnis verletzt hatte. Zudem wurde bekannt, dass ehemalige Nationalsozialisten beschäftigt wurden.
Unschuldige im Visier
1992 stufte der "Verfassungsschutz" eine vollkommen unschuldige Mitarbeiterin eines Industrieunternehmens, Tatjana Wolfhart, als "Sicherheitsrisiko" ein. 1991 gab der ehemalige Präsident des Verfassungsschutzes, Eckart Werthebach, private Informationen über den Datenschutzexperten Thilo Weichert an die FDP-Abgeordnete Rosemarie Fuchs weiter. 1976 verdächtigte das BfV den ehemaligen Atom-Manager Klaus Traube des RAF-Terrorismus und führte einen mehrmonatigen "Lauschangriff" durch.
Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek, der Bürgerrechtler Rolf Gössner und andere haben die Praktiken und die Rechtsstaatlichkeit des Verfassungsschutzes wiederholt infrage gestellt. Sie fordern eine Reform oder gar die Abschaffung der Behörde.
Die politische Rolle des Verfassungsschutzes
Im vorliegenden Fall nun auf Basis dieser Quelle und ohne Ermittlungsergebnisse politische Forderungen zu stellen, ist antidemokratisch. Die Ironie der Geschichte ist, dass Vertreter der Ampelparteien die vermeintliche Bedrohung aus China für Interventionen nutzen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung hierzulande zu schwächen geeignet sind. Sie tun das mutmaßlich aus Eigeninteresse – daran lassen die Sonntagsumfragen zur Europawahl wenig Zweifel.
Richtig wäre: die Vorwürfe prüfen, den Rechtsstaat stärken. Gerade wegen der Wahlerfolge der AfD. So aber wird eine ohnehin schwächelnde der Demokratie zwischen den Fronten parteipolitischer Interessen und auf Basis fragwürdiger Quellen zerrieben.
Es wird schwer sein, eine künftig einflussreichere AfD von einem weiteren Abbau des Rechtsstaats abzuhalten, wenn die jetzt herrschenden bürgerlichen Parteien es ihr derart vorgemacht haben.