Wie du mir, so ich dir (plus 38 Prozent)
Das Geheimnis der Eskalation von Gewalt
Der Streit zwischen Kindern gehört zum Tagesablauf von Eltern und Erziehern. Stereotyp tönt es: "Du hast mich geschlagen." "Nein, Du hast geschlagen." Der Neurologe Daniel M.Wolpert und seine Arbeitsgruppe vom University College London stellen die Situationen mit Kindern nach. Sie berichten in Science über Reaktionen, die bis ins Erwachsenenalter tradiert werden.
Darf man 4-6 Jährige zum Prügeln animieren? Natürlich nicht; auch Fingerhakeln kommt nicht in Betracht. Die britischen Wissenschaftler finden eine smarte Lösung, die den Kindern als Geschicklichkeitsspiel vermittelt wird. Den linken Zeigefinger müssen sie herhalten, damit der Spielpartner mit der Kuppe seines oder ihres rechten Zeigefinger darauf tippen kann.
Das Spiel beginnt, indem sich ein Spieler in Position setzt und aufgefordert wird, gleich anschließend zu erinnern, mit welcher Kraft der Mitspieler, sozusagen Fingerkuppe gegen Fingerkuppe, drückt. Sodann werden die Plätze getauscht. Nun ist es am aktiven Spieler, seine Fingerkraft zu dosieren. Der Mitspieler soll denselben Eindruck gewinnen wie er oder sie es zuvor am eigenen Finger empfunden hat. Dieses Hin und Her über mehrere Runden führt zur unerwarteten Entwicklung: von beiden Seiten nimmt der Kraftaufwand Runde für Runde um durchschnittlich 38 Prozent zu.
Um vergleichbare Daten zu erhalten, ist der Versuchsablauf ein wenig komplizierter als zunächst beschrieben. Der Tipp der kindlichen Finger wird über Druck und Druckdauer von einem Sensor ermittelt. Ferner beginnt jede Spielrunde, indem ein Motor konstant 0,25 N vorgibt. Und schließlich erfolgt das Tippen nicht unmittelbar auf den bloßen Zeigefinger. Dazwischen liegt vielmehr der Fühler, der die Kraft ermitteln lässt.
Nach den überraschenden Ergebnissen des paarweisen Verhaltens vergewissern sich die Mediziner, dass sie nicht Opfer der kindlichen Spielleidenschaft wurden. Deshalb folgen weitere intraindividuelle Vergleiche.
Zum einen wird die Kraft maschinell in steigender Intensität (0,5 - 2,5 N) wie zuvor auf den linken Zeigefinger ausgeführt. Nach jedem Stoß soll das Kind diese Empfindung mit dem rechten Zeigefinger imitieren. Der auf den eigenen Zeigefinger erzeugte Stoß bleibt durchgehend unter der Vorgabe und beträgt relativ konstant die Hälfte des wirklichen Kraftaufwandes. In einer weiteren Serie werden die Kinder aufgefordert, den maschinell auf den linken Zeigefinger einwirkenden Druck mit dem rechten Zeigefinger in die Bewegung eines Joy-Sticks umzusetzen. Unter dieser Aufgabe besteht die größte Übereinstimmung zwischen Vorgabe und Reaktion.
"Das tit-for-tat (wie du mir, so ich dir) Experiment ist der beste Beweis für die unbewusste Eskalation. Beide Seiten sagen im Grunde die Wahrheit," erklärt Daniel M.Wolpert ein Geschehen, das bei Kleinkindern spontan und nicht zielbestimmt ist. Anders die Reaktion im Selbstversuch:
Die Kinder wissen, dass sie sich dem Stoß noch einmal aussetzen. Folglich wird in Erwartung des Ereignisses der Kraftaufwand verringert. Den Beweis liefert das Joy-Stick-Experiment, weil die anders geartete Bewegung abstrakt bleibt.
Daniel M.Wolpert sieht in dem kindlichen Verhalten den Ursprung der Eskalation von der Rempelei zur Prügelei. Bei Halbwüchsigen und Erwachsenen kommen weitere Momente hinzu: die Absicht, zu provozieren, sowie gruppendynamische Vorgänge. Kluge Eltern raten daher ihren Kindern, in der Situation "mehrere gegen einen" nicht zu reagieren, sondern das Weite zu suchen.
Ist die Annahme richtig, dass die "unschuldige" kindliche Reaktion das elementare Grundprinzip menschlichen Zusammenlebens spiegelt? Wer die Frage bejaht, könnte aus den Experimenten den Beweis für die Lebensphilosophie "Auge um Auge, Zahn um Zahn" ableiten und erklären, dass es sich um eine dem Menschen innewohnende, angeborene Verhaltensweise handelt. Danach wäre das in der westlichen Welt vielfach als archaisch empfundene Verhalten in Wirklichkeit anerzogen und der Versuch, das Natürliche zugunsten des vermeintlich gedeihlichen Zusammenlebens bewusst umzuformen.
Diese Einschätzung wird die Kritik von Spieltheoretikern auf den Plan rufen, die das menschliche Zusammenleben als evolutionären Vorgang sehen, dessen Entwicklung von Generation zu Generation stabilere Verhältnisse schafft. Waren es doch Axelrod und Hamilton, die sich 1981 gegen die Meinung wandten, der Mensch sei im Grunde schlecht. Trotz vieler menschlicher Eigenheiten sollte die Reaktion auf ihre Vorstellung vom Tit-For-Tat Spiel konvergieren. Die allen Menschen innewohnende Triebkraft schien ganz einfach: jeder macht exakt das, was der andere vormacht. Nach den Erkenntnissen von Daniel M.Wolpert und seiner Arbeitsgruppe unterscheidet das spontane, ungekünstelte Verhalten allerdings feinsinnig zwischen Ich und Du, und es folgt dem Muster: Haust Du mich, haue ich Dich mehr.