Wie erneuerbare Energien systematisch ausgebremst werden
Deutschland könnte bis 2030 auf Sonne und Wind umsteigen. Doch Bürokratie und fossile Energiekonzerne hemmen das Tempo. Was sich ändern muss.
Bis 2030 müssen erneuerbare Energien den gesamten Energiebedarf decken, um überhaupt eine Chance zu haben, die Erderwärmung auf höchstens zwei Grad Celsius zu begrenzen. Die verheerenden Hitzewellen, die sich heute bereits in Südeuropa und anderen Regionen ereignen, treten bei einer Erderwärmung von 1,2 Grad auf.
Man kann nur erahnen, wie die Situation bei einer Erderwärmung von zwei Grad aussehen wird. Eine Realisierung von 100 Prozent erneuerbaren Energien bis 2030 wäre durchaus möglich, wenn das Wachstumstempo ähnlich hoch wäre wie in anderen Technologiebereichen, insbesondere im Bereich der Digitalisierung, wo Technologien wie PCs, Mobilfunk und Smartphones die Weltmärkte in weniger als einem Jahrzehnt erobert haben.
Leider sind die aktuellen Wachstumsraten der erneuerbaren Energien sowohl weltweit als auch in Deutschland weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Einzig China kommt mit einer Verdopplung des Ausbaus der erneuerbaren Energien alle zwei Jahre der notwendigen Geschwindigkeit nahe.
Die Gründe für das nicht ausgeschöpfte Potenzial der erneuerbaren Energien sind vielfältig. Einer der Hauptfaktoren liegt im offenen und versteckten Widerstand der fossilen und atomaren Wirtschaft, die ihre eigenen Geschäftsinteressen schützen möchte.
Schon seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts verlangen sie, dass Klimaschutz "marktkonform" sein müsse. Dadurch haben sie politische Maßnahmen gefordert und schließlich auch durchgesetzt, die unter dem Diktat des "Marktes" effektiven Klimaschutz verhindern. Hierzu gehören der Emissionshandel und staatliche Ausschreibungen statt fester Einspeisevergütungen.
In einer umfangreichen Untersuchung im Jahr 2020 hat die International Energy Transition (IET) im Auftrag der Energy Watch Group unter anderem die Auswirkungen staatlicher Ausschreibungen im Vergleich zu festen gesetzlich garantierten Einspeisevergütungen in verschiedenen Ländern untersucht.
Die zentralen Ergebnisse zeigen, dass Ausschreibungen die erforderliche Dynamik des Ausbaus erneuerbarer Energien erheblich bremsen und große Finanzstrukturen bevorzugen, was zulasten der Bürgerenergie geht.
Wie überzeichnete und unterzeichnete Ausschreibungen bremsen
Genau das ist bis heute auch in Deutschland an den jüngsten Ergebnissen der Ausschreibungsrunden der Bundesnetzagentur zu sehen. Mit den gesetzlich ausgeschriebenen Ausschreibungsvolumina deckelt der Staat die Ausbaudynamik, indem er willkürlich vorgegebene Ausschreibungsvolumina festlegt, anstatt dem Ausbau freien Lauf zu lassen.
Bei der Überzeichnung von Ausschreibungsgeboten ist klar zu erkennen: Insbesondere bei Freiflächen-PV möchten viele Investoren bauen, aber die Ausschreibungsmengen sind begrenzt und viele kommen nicht zum Zug.
Bei den Unterzeichnungen der Ausschreibungsvolumina, insbesondere bei Windkraft, wirken die hemmenden Strukturen der Ausschreibungsmodalitäten: überdimensionierte Bürokratie und der weitgehende Ausschluss kleiner und mittlerer Akteure, insbesondere von Bürgerenergiegemeinschaften. Beides wirkt klar bremsend auf den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Windkraftausschreibungen weiter massiv unterzeichnet
Die Ergebnisse der Ausschreibungszuteilungen vom 1. Mai 2023 zeigen erneut, dass das Ausschreibungssystem den Ausbau von Windenergie an Land stark bremst. Obwohl eine Menge von 2.866 Megawatt (MW) Onshore-Windenergie ausgeschrieben wurde, wurden nur Gebote mit einer Gesamtmenge von 1.597 MW eingereicht.
Letztendlich erhielten nur 120 Gebote einen Zuschlag mit einer Gesamtmenge von 1.535 MW. Das Ausschreibungsvolumen wurde also nur zu etwa 54 Prozent ausgeschöpft. Vor der Einführung der Ausschreibungen im Jahr 2017 betrug der jährliche Zubau von Onshore-Windenergie an Land noch etwa 4.890 MW.
Es gibt verschiedene Gründe für die Unterzeichnung der Ausschreibungsvolumina. Dazu gehören nach wie vor zu lange Genehmigungsverfahren, fehlende ausgewiesene Flächen und Klagen von Naturschutzverbänden.
Der entscheidende Grund ist jedoch, dass die Umstellung auf Ausschreibungen hohe Hürden für viele Bürgerenergieprojekte geschaffen hat, die zuvor den größten Anteil an Investitionen hatten. Gerade diese Bürgerenergiegemeinschaften konnten als Einheimische in ihren Gemeinden leichter Flächen sichern und politisch für Akzeptanz kämpfen, was für externe Investoren schwieriger ist.
Die Befreiung von Bürgerenergieprojekten von der Ausschreibungspflicht scheint nicht viel zu helfen, da auch die Befreiungsmodalitäten mit hoher Bürokratie verbunden sind.
Innovationsausschreibungen sind vollkommen wirkungslos
Die vor Jahren eingesetzten Ausschreibungen für "Innovative Erneuerbare Energien Projekte" entfalten so gut wie keine Wirkung.
Bei der letzten Innovations-Ausschreibung wurden 400 MW ausgeschrieben. Mit lediglich drei Geboten mit einem Gebotsvolumen von 84 MW war die Resonanz in diesem Bereich extrem schwach.
Alle Gebote bezogen sich auf Anlagenkombinationen aus Solaranlagen mit Speichern. Das Ausschreibungssystem wurde eingeführt, um zu testen, ob man tatsächlich Innovationen schaffen kann. Statt nun ihre Unwirksamkeit festzustellen und wenigstens die Innovationsausschreibungen wieder zugunsten einer Kombikraftwerksvergütung abzuschaffen, wird weiter daran herumgedoktert.
Dabei benötigt das Stromsystem dringend innovative Investitionen, um die Schwankungen von Solar- und Windenergie durch Kombination mit anderen erneuerbaren Energien, Speichern und Sektorenkopplung auszugleichen.
Freiflächen-Photovoltaik-Ausschreibungen weit überzeichnet
Die Solarausschreibung für Solaranlagen des ersten Segments, zum Gebotstermin 1. März 2023, ist im Gegensatz zu den Wind- und Innovationsauschreibungen deutlich überzeichnet. Bei einer ausgeschriebenen Menge von 1.950 MW wurden 347 Gebote mit einem Volumen von 2.869 MW eingereicht. Damit war das nach Bundesnetzagentur-Angaben der Gebotstermin mit der höchsten Anzahl an Geboten überhaupt.
Damit zeigt sich hier die massive Bremse der Ausschreibungen deutlich: Investoren wollten fast 2900 MW bauen, aber weniger als 2000 MW bekamen einen Zuschlag. Damit bleibt der Solarausbau im Freiflächensegment weit unter den Erwartungen der Investoren.
Dazu kommt eine nicht näher bezifferbare große Anzahl von Projekten, die erst gar nicht beantragt werden, da die Aussichten auf eine Zuteilung als gering eingeschätzt werden. Ein weiterer interessanter Aspekt ist, dass der größte Zubau im Bereich der Photovoltaik vor allem von Dachanlagen in der gesetzlichen EEG-Förderung getrieben wird. Von den 1.046,8 MW entfielen 730 MW auf diesen Bereich.
Diese Ergebnisse zeigen mehr als deutlich, dass die feste Einspeisevergütung in ihrer Wirksamkeit den Ausschreibungen haushoch überlegen ist.
Biomasse-Ausschreibungen erstmals erheblich überzeichnet
Auch bei den Biomasseausschreibungen wurden erstmals erheblich mehr Angebote abgegeben, als letztlich zum Zuge kamen. Damit zeigt sich auch hier die massiv bremsende Wirkung der Ausschreibungen.
Insgesamt wurden in der ersten Runde 2023 495 Gebote mit einer Gebotsmenge von 532 MW abgegeben. Sieben Gebote im Umfang von 29 MW entfielen auf Neuanlagen, 488 Gebote im Umfang von 503 MW auf Bestandsanlagen.
Insgesamt wurden 271 Gebote mit einem Gebotsumfang von 302 MW bezuschlagt. Das Ausschreibungsvolumen für diesen Gebotstermin betrug 300 Megawatt und war damit erstmals seit Einführung der Biomasseausschreibungen deutlich überzeichnet.
Bei der Biomasse ist die Überzeichnung besonders dramatisch, weil viele Bestandsanlagen nicht zum Zuge kamen und deshalb befürchtet werden muss, dass diese nun stillgelegt werden. So führen Ausschreibungen sogar zu einem Abbau von Erneuerbare-Energien-Bestandsanlagen.
Großbritannien: Fossil-atomare Unternehmen versenken EE-Projekte
Eines der größten Offshore-Windenergieprojekte der Welt mit 1,4 Gigawatt (GW) wurde wegen steigender Kosten gestoppt. Der staatliche schwedische Energiekonzern Vattenfall gab am Donnerstag die Einstellung des Norfolk-Boreas-Projekts im Vereinigten Königreich bekannt. Es hätte sauberen Ökostrom für 1,5 Millionen Haushalte liefern sollen.
Der Energiekonzern Vattenfall erhielt im vergangenen Jahr bei einer Auktion Großbritannien den Zuschlag für das Projekt und garantierte einen Preis von 37,35 Pfund pro Megawattstunde (MWh) auf der Basis von 2012, was heute etwa 45 Pfund/MWh entspricht.
In der Windkraftbranche gibt es viele Spekulationen, dass auch andere Projekte angesichts der in den letzten 18 Monaten aufgetretenen Liefer- und Kostenprobleme in Schwierigkeiten geraten könnten.
Im Klartext bedeutet es, dass fossile und atomare Konzerne wie Vattenfall den Wettbewerbern in den Ausschreibungen die Projekte mit Dumpingangeboten wegschnappen. Steigen dann die Preise für die Anlagen, werden die Projekte gestoppt, die ein anderer wegen höheren Geboten nicht hätte stoppen müssen.
Nicht nur für Vattenfall eine hervorragende Möglichkeit, Stromerzeugung aus fossilen und atomaren Quellen vor der ungeliebten Konkurrenz der erneuerbaren Energien zu schützen.
Der marktwirtschaftlich gewollte Wettbewerbsdruck in den Ausschreibungen ist daher nichts anderes als eine massive Ausbaubremse zulasten des Klimaschutzes.
Spekulationsprojekte bei Offshore-Windenergie in EU
Bei den EU-Ausschreibungen für Offshore-Windenergie wurden nun erste Zuschläge für Gebote vergeben, die eine Einspeisevergütung von null Cent/kWh anboten.
Wie der Analyst Jerome in Paris schreibt, lassen alle ernsthaften Akteure in der Industrie die Finger von Angeboten mit einer Einspeisevergütung von null Cent/kWh, da dies lediglich eine Spekulation auf zukünftige Strompreise und Installationskosten darstellt, die jedoch niemand vorhersagen kann.
Aber für Öl-Konzerne wie BP oder Total scheint das eine Möglichkeit zu sein, die Konkurrenz der erneuerbaren Energien gegen ihre Ölgeschäfte auszuschalten, ähnlich wie es Vattenfall in Großbritannien getan hat.
Daher sollte niemand sich darüber freuen, dass einige Offshore-Windenergieangebote eine Einspeisevergütung von null Cent/kWh anbieten. Das große Erwachen könnte, wie bei Vattenfall in England, Jahre später kommen, wenn die Projekte letztendlich nicht realisiert werden.
Ausschreibungen müssen wieder abgeschafft werden
Die Ausschreibungen, die auf Betreiben der fossilen und atomaren Wirtschaft in der EU, Deutschland und anderen Ländern die gesetzlich garantierte feste Einspeisevergütung abgelöst haben, zeigen zunehmend ihr wahres Gesicht: Sie blockieren das schnelle Wachstum der erneuerbaren Energien durch festgelegte Obergrenzen für den Ausbau, durch Über- oder Unterzeichnung und durch das Ausschließen von Bürgerenergien.
Zudem werden vermehrt Dumpingangebote der fossilen und atomaren Energiewirtschaft gemacht, die nur das Ziel haben, ihre Geschäfte gegen die Konkurrenz der erneuerbaren Energien zu schützen.
Die Ausschreibungen sollen zugunsten einer modernen festen Einspeisevergütung abgeschafft werden. Wenn das nicht geschieht, werden selbst die unzureichenden Ziele für erneuerbare Energien der EU und Deutschlands nicht erreicht werden.
Dass wir weit von einer entsprechenden Ausbaudynamik entfernt sind, zeigt sich selbst im aktuell boomenden PV-Sektor. Obwohl in diesem Jahr ein Zubau von zwölf GW erwartet wird – also deutlich über dem bisherigen Höhepunkt von sieben GW im Jahr 2012 –, bleiben die Ausbauzahlen immer noch unter denen, die das unzureichende Regierungsziel von 80 Prozent Ökostrom bis 2030 erfordern würde.
Hierfür müssten monatlich knapp 1.600 MW in Deutschland neu installiert werden. Allerdings betrugen die monatlichen Ausbauzahlen laut Bundesnetzagentur in den letzten Monaten nur etwa 1.000 MW.
Es ist dringend erforderlich, dass alle Politiker endlich erkennen, dass Klimaschutz nicht durch das Herumdoktern an fehlgeleiteten politischen Instrumenten gelingen kann. Dazu gehören die Abschaffung der Ausschreibungen und die Rückkehr zu modernen, festen Einspeisevergütungen.
Ebenso muss der Emissionshandel abgeschafft werden und stattdessen sollte ein massiver Abbau der immer noch immens hohen staatlichen Subventionen für fossile und atomare Wirtschaft vorangetrieben werden.
Große Menschheitsaufgaben, wie der Kampf gegen die rasant fortschreitende Erdüberhitzung, können nur mit umfassenden politischen Neuentwürfen gelingen und nicht durch das Fortführen untauglicher Instrumente, die ohnehin von der fossilen Wirtschaft durch Propaganda und Korruption eingeführt wurden.
Andernfalls wird es der Menschheit nicht gelingen, einen Ausweg aus der Klimahölle zu finden, wie sie sich bereits heute in vielen überhitzten Regionen der Welt zeigt.
Hans-Josef Fell ist Präsident der Energy Watch Group und Mitautor des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (EEG). Von 1998 bis 2013 war er für die Grünen im Bundestag. Er hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen für sein Engagement erhalten. Fell ist Botschafter für 100 Prozent Erneuerbare Energien und Sprecher der Bürgerinitiative Bürger Solarfabrik.