Wie gefährlich Fake News wirklich sind
Was wir von der Erstürmung des amerikanischen Kapitols lernen können
Die Vereinigten Staaten von Amerika investieren mehr als eine Billion Dollar (1.000.000.000.000) im Jahr in Verteidigung und Sicherheit. Das dürfte mehr als ein Drittel der Investitionen in diesem Bereich auf der ganzen Welt sein. Dennoch brachen am Mittwoch Hunderte Randalierer in das Herzstück ihrer Demokratie ein: das Kapitol, in dem die Volksvertreterinnen und -vertreter verhandeln.
Rechtsstaatlich ist der Sturm noch einmal glimpflich ausgegangen: Am Donnerstag um ca. 9:30 Uhr unserer Zeit (in Washington DC war es 3:30 Uhr mitten in der Nacht) wurden die drei Stimmen des Bundesstaats Vermonts für Joseph Biden und Kamala Harris vom bis 20. Januar amtierenden Vizepräsidenten Mike Pence bestätigt. Damit erhielten die Kandidaten der Democrats vom U.S. Congress die Bestätigung für die erforderliche Mehrheit von 270 Stimmen.
Es ist nicht auszumalen, was passiert wäre, wenn die Randalierer die offiziellen Urkunden der Bundesstaaten in die Hände bekommen hätten. Mitarbeiter des Congress haben diese gerade rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Oder was wäre passiert, wenn sich der Vizepräsident nicht an die prozeduralen Regeln gehalten hätte? Donald Trump rief seinen Stellvertreter meinem Verständnis nach zum Verfassungsbruch auf, als er am Mittwoch twitterte: "Mike Pence muss sie [gemeint sind die Wahlzertifikate] nur an die Bundesstaaten zurückschicken UND DANN GEWINNEN WIR. Mach es so, Mike, dies ist die Zeit für außerordentlichen Mut!"
Vorhersehbares Chaos
Die Ereignisse fielen nicht vom Himmel. Immerhin hatte Donald Trump schon seit Jahren Lügen verbreitet - die Washington Post zählt zurzeit (Stand 8. Januar 2021) 29.508 falsche oder irreführende Aussagen von ihm während seiner Amtszeit. Seit den Wahlen vom November streuten er und seine Unterstützer unermüdlich haltlose Behauptungen über angeblichen Wahlbetrug.
Diese wurden in Dutzenden Entscheidungen von Gerichten zurückgewiesen. Und nicht zuletzt weigerte Trump sich wiederholt, eine reibungslose Machtübergabe an seinen Nachfolger zu garantieren. Das tat er erst, als der Kongress am Donnerstag schließlich die Wahlergebnisse bestätigte, also nach Pences Bekenntnis zur Verfassung und der Niederschlagung des Aufruhrs.
Die Stimmung war schon lange aufgeheizt. Die Tausende Trump-Anhänger, die der abgewählte Präsident am Mittwochvormittag in seiner Rede vor dem White House weiter anstachelte, kamen nicht überraschend aus Kanälen gekrochen oder mit Fallschirmen aus Hubschraubern in die US-Hauptstadt gesprungen. Viele von ihnen waren sogar wie Partisanen angezogen und führten gefährliche Gegenstände bei sich.
Die Sicherheitsbehörden waren hier, dem Anschein nach, wieder einmal auf dem rechten Auge blind. Dass die Lage eskalieren würde, durfte am Mittwoch niemanden mehr überraschen. Vielleicht sind den Verantwortlichen die Risiken nicht mehr aufgefallen, weil sie sich daran gewöhnt hatten: Dass Trumps Wahlkampf und Amtszeit eine einzige Eskalation war.
Auch wenn es nun danach aussieht, dass die Vereidigung des gewählten Präsidenten und seiner Stellvertreterin am 20. Januar stattfinden kann, sind die Probleme damit nicht vom Tisch. Immerhin stimmten noch im November über 74 Millionen Wählerinnen und Wähler in den USA für Trump. In der Berichterstattung während des Aufruhrs zählte CNN davon 30 Millionen zum harten Kern.
Das sind natürlich nicht alles Randalierer. Viele von ihnen dürften aber der Legende vom Wahlbetrug anhängen. Immerhin zweifelten noch in der Donnerstagnacht einige Parlamentarier der Republikaner die Wahlergebnisse ganz offiziell an - um dann von einer großen Mehrheit aller politischen Lager überstimmt zu werden.
Das Problem der Fake News
Donald Trump und seinen Freunden scheinen Sachverhalte, die in unserer Gesellschaft durch Zeugen, Medien und in letzter Instanz Gerichte festgestellt werden, egal zu sein. Damit sind sie, erkenntnistheoretisch gesprochen, echte Pragmatiker: Wahr ist für sie, was nützlich ist. Und nützlich war (und ist) für Trump und einige Republikaner die Behauptung, ihnen sei der Sieg gestohlen worden.
Auch haben Trumps andere rund 30.000 dokumentierte Unwahrheiten nicht verhindert, dass über 74 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner im November für ihn gestimmt haben und ihm so fast eine zweite Amtszeit beschert hätten. Auf Twitter folgen ihm sogar fast 90 Millionen Menschen (während er selbst übrigens ganzen 51 folgt). Das Modell "Trump" ist also ein Erfolgsmodell, an dem sich auch andere Politikerinnen und Politiker sowohl innerhalb als außerhalb der Vereinigten Staaten orientieren werden.
Oft wurde geschrien: "Fake News!" Man wirft den anderen vor, in einer "alternativen Realität" mit "alternativen Fakten" zu leben. Die Bürgerlichen reagierten darauf mit der Einrichtung von "Fakten-Checks", auch im deutschsprachigen Raum. Natürlich ist es gut, Tatsachenbehauptungen kritisch zu prüfen. Es ist aber sehr naiv, damit das Problem der Fake News lösen zu wollen. Denn genauso wie sich mit Ethik und Moral vor allem diejenigen beschäftigen, die es am wenigsten nötig haben, dürften die "Fakten-Checks" vor allem diejenigen aufrufen, die sowieso wenig anfällig für Fake News sind.
Mit anderen Worten: Wer sich nicht für die kritische Prüfung von Sachverhalten interessiert, wird sich ebenso wenig für "Fakten-Checks" interessieren, wie sich jemand für Moralphilosophie interessiert, dem Ethik und Moral egal sind. Insofern sind die Bemühungen vieler Medien, "Fake News" zu bekämpfen, allenfalls gut gemeint, doch schlecht gemacht.
Den schlagenden empirischen Beweis brachten die Wahlen vom November 2020 und der Aufruhr vom 6. Januar 2021 in den USA. Das hätte man vorher wissen können: Kommunikationsforschung zeigt seit Jahrzehnten, dass Menschen Fakten selektiv wahrnehmen und im Sinne ihres Weltbilds interpretieren.
Gespaltene Gesellschaft
Insofern stellt sich mir die Frage, ob die Bürgerlichen mit ihren "Fakten-Checks" vor allem - und vor allem: sich selbst, denn die Gegenseite interessiert sich ja nicht dafür - immer wieder ihre intellektuelle Überlegenheit beweisen. Das ist aber keine Problemlösung, sondern ein Fluchtreflex, mit dem man kurzfristig das eigene Gemüt beruhigt. In dieses Bild passt auch, Vertreter der Gegenseite aus der Diskussion auszuschließen, Stichwort "Cancel Culture".
Mir ist noch gut in Erinnerung, wie die Linkspartei am Anfang immer wieder als SED-Nachfolgepartei und ihre Vertreter als "Verfassungsfeinde" denunziert wurden. Etwas später war sie dann stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Die AfD wurde (und wird) pauschal als rechtsradikale oder gleich "Nazi-Partei" abgeurteilt. Heute ist sie - wer hätte das gedacht! - stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag. Hier in den Niederlanden ist Geert Wilders' "rechtspopulistische" PVV seit 2017 sogar zweitstärkste Fraktion im Parlament. Nach derzeitigen Prognosen wird das auch nach den diesjährigen Wahlen so bleiben.
Das Prüfen von Fakten ist also allem Anschein nach nicht Teil der Lösung, sondern allenfalls eine psychologische Bewältigungsstrategie. Bewältigungsstrategien werden aber dann zum Problem, wenn sie die Problemursache nicht beseitigen, sondern vielleicht sogar noch verstetigen. Was könnte dann die Ursache für die Spaltung der Gesellschaft sein, wenn es nicht der mangelnde Zugang zu Fakten ist? Vielleicht die tatsächliche Spaltung der Gesellschaft!
In Deutschland gibt es rund siebzig Jahre nach Gründung der Bundesrepublik immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Rund sechzig Jahre nach der ersten Einwanderungswelle zur Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs gibt es immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Rund dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es immer noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen.
Sozialerhebungen belegen Jahr für Jahr und schon seit Jahrzehnten immer wieder aufs Neue strukturelle Unterschiede für Kinder aus mehr oder weniger wohlhabenden, mehr oder weniger gebildeten Familien. Dabei korrelieren Wohlstand und Bildung, was mit einem sozial gerechteren Bildungssystem nicht so sein müsste - oder jedenfalls nicht so stark.
Vorbild USA
Die Vereinigten Staaten galten und gelten in vielen Bereichen als Vorbild. Noch heute gehen viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dorthin, um Karriere zu machen (wegen der Coronapandemie aktuell vielleicht etwas weniger). Wenn sie zurückkommen, haben sie aufgrund ihrer Kontakte oft einen Wettbewerbsvorteil.
Wir sollten uns aber bewusst machen, dass die Sonnenseite der USA mit ihren vielen Elite-Universitäten, die die Weltranglisten (übrigens nach amerikanisch-britischen Regeln) anführen, eine Schattenseite hat: Die USA sind wohl die westliche Demokratie mit dem größten religiösen Fanatismus (nach der Bestätigung der Wahlergebnisse am Donnerstag wurde im Parlament übrigens erst einmal gemeinsam gebetet: "…und Gott segne Amerika. Wir beten in deinem herrschenden Namen. Amen."), mit dem größten Anteil an Evolutionsleugnern, an Abtreibungsgegnern und mit krassen Bildungs-, Gesundheits-, Einkommens- und Vermögensunterschieden.
Die USA investieren mehr in Verteidigung und nationale Sicherheit als alle anderen Länder der Welt, sie führen einen außer Kontrolle geratenen "War on Drugs" oder "War on Terrorismus" und wahrscheinlich viele andere Kriege mehr - und können doch noch nicht einmal ihr Innerstes beschützen, ihr Kapitol in ihrer Hauptstadt Washington DC.
Bei den Live-Aufnahmen des Einbruchs vom Mittwoch sah ich viele weiße, bärtige Männer in ihrer zweiten Lebenshälfte. Schon seit Jahren werden solche Anhänger bestimmter "populistischer" Bewegungen als "angry white men" bezeichnet und auch jetzt gibt es Deutungsversuche, die Aufrührer als Verlierer ihres "white privilege" zu deuten.
Dabei würde man das "weiße Privileg" doch viel deutlicher sehen, würde man sich anschauen, wer auf den Sitzen der Volksvertreterinnen und -Vertreter sitzt, übrigens in einem Wahlkampf zwischen zwei weißen, männlichen und beinahe achtzigjährigen Präsidentschaftskandidaten.
Einheit
Donald Trumps Präsidentschaft mag den Schatten der USA vergrößert haben. Sie hat die Schattenseite dieser "Great Nation" meiner Meinung nach aber vor allem deutlicher ins Bewusstsein gerückt. Da wir nun hinreichend wissen, dass "Fakten-Checks" das Problem nicht lösen, sollten wir uns über Alternativen Gedanken machen. Das Ziel sollte dabei sein, uns auf eine gemeinsame, menschliche Realität zu verständigen.
Dafür ist es nicht ausreichend, ein paar Gruppen per Gesetz Privilegien zuzusichern, weil das gerade für Medienaktionen opportun ist. Denn gleichzeitig werden immer mehr Menschen wegen ungleicher Bildungs-, Teilhabe- und Wohlstandschancen ausgegrenzt. Die gesellschaftliche Spaltung ist nicht eingebildet, sondern für immer mehr völlig real. Und jede solche Spaltung in Frauen und Männer, Ausländer und Inländer, Arme und Reiche, Braune, Schwarze und Weiße, Dumme und Intelligente, Atheisten, Christen, Muslime und so weiter - all diese Spaltungen machen Menschen anfällig für die Manipulationen eines Spalters wie Donald Trump.
Dabei müssen wir, "die Guten und Rechtschaffenen", uns auch einmal an die eigene Nase fassen und überlegen, wie unterschiedlich wir Menschen- und Völkerrechtsverletzungen östlicher und westlicher Länder beurteilen, wie unterschiedlich wir pragmatische PR-Aktionen des eigenen und des anderen Lagers einordnen.
Viele Formen von interessengeleiteter, strategischer Kommunikation im Interesse der "bürgerlichen Mitte" könnte man wahrscheinlich ebenso gut als "Fake News" bezeichnen. Bloß gibt es hier keinen "Fakten-Check" - und wenn doch, dann ist es eben ein Nazi, Querdenker, Troll oder Verschwörungstheoretiker, mit dem man sich nicht auseinandersetzen muss. Ja, die "Cancel Culture" lässt grüßen.
Der Einbruch ins Kapitol der USA hat uns schmerzhaft vor Augen geführt, wie verwundbar selbst Demokratien trotz immenser technologischer Entwicklungen, trotz Wirtschaftswachstum und Investitionen in Verteidigung und Sicherheit sind. Die radikalen Gruppen mögen aus den großen sozialen Netzwerken verbannt worden sein - sie haben danach aber schlicht ihre eigenen gegründet.
Hassäußerungen kann man zwar verbieten und solche Verbote können auch ihren Sinn haben, um ein allgemeines Klima der Volksverhetzung oder Diskriminierung zu verhindern; per Verbot lässt sich aber der Hass nicht aus den Köpfen entfernen. Dafür hilft meiner Meinung nach nur, die Hand zueinander auszustrecken und aktiv interessiert miteinander zu reden.
Toleranz heißt nicht zwingend, dass man die Überzeugung des anderen annimmt. Aktive Toleranz bedeutet aber, dass man sich für die Meinung des anderen zumindest interessiert und wenigstens hin und wieder überprüft, ob etwas dran ist.
Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.