Wie ist der Skandal um Till Lindemann und Rammstein zu bewerten? Das sagen unsere Leser

Hat medial gerade keinen leichten Stand: Till Lindemann. Bild: Axa269, CC BY 3.0

Telepolis hinterfragte den medialen Umgang mit der Band. Dazu gab es viele Reaktionen. Kommentare zu Medienethik, sexuellem Missbrauch und einem neuen Konservatismus.

In einem Leitartikel hatten wir unlängst auf die Diskrepanz zwischen dem anhaltenden Erfolg der Band Rammstein und der medialen Kritik verweisen. Die Konzerte seien ungebrochen erfolgreich – einige der Artikel drohten derweil zum medienethischen Desaster zu verkommen. Das habe sich schon früh abgezeichnet: "Der Rammstein-Skandal 2023 ist bereits jetzt in gleichem Maße ein Medienskandal." Weiter hieß es:

Lese-Tipp: Warum der Rammstein-Skandal schon jetzt ein Medien-Skandal ist

Auch Telepolis hat dem Thema seit Beginn der Affäre Anfang Juni mehrere Texte gewidmet. Wir haben die Berichterstattung ebenso hinterfragt wie das Verhalten der Band und das Frauenbild einiger Rammstein-Akteure. Die Autoren waren Journalisten, Künstler und Feministen, Kulturwissenschaftler, Juristen; Frauen und Männer. Wir waren und sind uns nicht einig – und müssen es auch nicht sein. Denn der Blick auf den Fall Rammstein, der längst auch ein Medienfall ist, erlaubt und erfordert unterschiedliche Sichtweisen. Außer in einem Fall: Sollte den Beschuldigten sexueller Missbrauch nachgewiesen werden, und das geht, solange wir den gemeinsamen Anspruch haben, in einem Rechtsstaat zu leben, nur vor Gericht, dann gäbe es nichts mehr zu entschuldigen.

Der Artikel hatte diese Woche eine große Resonanz im Leserforum von Telepolis. Wir haben einige Kommentare herausgegriffen, die uns interessant erschienen. Die Kommentare wurden teilweise gekürzt und redigiert.

Verschiebung der Berichterstattung

Die umfangreiche Berichterstattung über Till Lindenmann und Rammstein führe, völlig unabhängig von den tatsächlichen Umständen, zu einer Verschiebung der Wahrnehmung, schreibt Telepolis-Leser Tetzlaff. Seiner Meinung nach trägt der mediale Fall Lindemann dazu bei, dass ein anderes Problem bei sexuellem Missbrauch, über das heftig diskutiert wird, in den Hintergrund gerät:

Er nehme die "Berichterstattung über Lindemann fast schon als Befreiungsschlag wahr. 'Endlich' ein deutscher Verdächtiger, ohne Migrationshintergrund. Endlich kann völlig frei und ohne einen Spagat machen zu müssen der Verdächtige nach allen Regeln der Kunst und der "Wokeness" angeprangert werden als gäbe es etwas nachzuholen, was man sich zuvor verklemmt hat.

Auch kann hier sehr wohl verallgemeinert werden, denn auf deutsche Männer ohne Migrationshintergrund braucht man keine Rücksicht nehmen, da ergibt sich ein geschlossenes Feindbild.

Was ergibt sich aber daraus und da kommen wir zur Verantwortung der Medien: Es ergibt sich eine verschobene Darstellung.

Derzeit wird intensiver und häufiger über einen 'Deutschen ohne Migrationshintergrund' berichtet als über Verdächtige mit einem solchen Hintergrund, wie z.B. gerade auf Mallorca, wo auch nur von 'jungen Deutschen' die Rede ist, wobei alle Beteiligten keine deutschen Vornamen haben. Ich habe den Eindruck, dass die Waage mit Lindemann mit aller Wucht austariert werden soll.

Wenn die Medienlandschaft ihre Verantwortung jedoch nicht wahrnimmt, brauchen die Vertreter sich nicht zu wundern, wenn sie zunehmend weniger ernst genommen werden."

"Rammstein könnte einen ganzen Flur im Bordell mieten"

Telepolis-Leser Rkahr setzt sich unter anderem mit der These der K.O-Tropfen im Backstage von Rammstein auseinander. Er hält den Einsatz für unglaubwürdig und hinterfragt das moralische Weltbild hinter der Rammstein-Debatte:

"Wenn ich zum Hauptbahnhof gehe, bekomme ich für 50 Euro so ziemlich alles. Meinen Stöpsel A kann ich dann in jede erdenkliche Konfiguration B stecken. Aber nehmen wir an, wir wollen nicht im Hauptbahnhof auf der Toilette sein, sondern es besser haben. Dann muss man ungefähr das Doppelte zahlen, also 100 Euro, dann machen die auch Hausbesuche. Man könnte also sagen, für 100 Euro kann man vertraglich gesichert sexuelle Befriedigung erhalten.

Wenn ich mir Rammstein anschaue, um ganz normal zu denken, scheint es nicht so, als würden sie (…) am Hungertuch nagen müssen. Ganz ehrlich, sie könnten es sogar schaffen, einen ganzen Flur in einem Bordell zu mieten und den Mädels, Jungs und allem Drum und Dran ein Trinkgeld von 100 Euro pro Stunde zu geben, damit sie eine Linie bilden, und dann alle Finger in den Hintern des Vordermanns stecken und ein Lied singen.

Und das würde nicht einmal für negative Schlagzeilen sorgen, wenn die Angestellten danach der Bild und der Emma berichten würden: 'Ja, Herr Lindemann hat einen gewaltigen Penis, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, er sieht aus wie ein Babyarm, der einen Apfel hält, und er kann ihn mir wie eine Boa Constrictor um den Hals legen. Und er kann mir sogar einen Zehn-Euro-Schein ohne Hände geben!' (…)

Nein, wenn bei der nächsten Veröffentlichung von Rammstein eine Sex-Olympiade im Puff stattfindet und das exklusive Interview derjenige bekommt, der am längsten durchhält, dann wette ich, dass es ein Top-Ten-Album nach dem anderen geben wird.

Das wären also die Mythen über magische Drogen, die so billig und gleichzeitig so pur sind, dass sie nichts mehr kosten, aber gleichzeitig die Leute extrem gefügig machen. Das kann man vielleicht bei jungen Leuten sagen, die nicht so viel Geld haben, aber bei Leuten, die solche Dinge brauchen und das nötige Kleingeld haben, sieht die Sache ganz anders aus."

Rammstein Backstage

Weiterhin schreibt unser Leser:

"Stichwort 'Backstage und Suckroom', jetzt wird es etwas klarer. Es gibt Zwangsmoralapostel à la Alice Schwarzer, die gerne hätten, dass man nur im Dunkeln und in der Missionarsstellung Sex hat und die Eltern erst nach dem dritten Date vorstellt und am besten erst nach der Heirat ... Ich sage das ganz vorsichtig, weil denen sonst der Kopf explodiert: So läuft es tatsächlich ab. Genauso.

Niemals würde jemand auf die Idee kommen, vom moralisch guten, christlich-demokratischen Geschmack abzuweichen. Das ist natürlich ein Dorn im Auge der Moral-CDU, da muss man mit dem Hammer draufhauen, denn so etwas gefällt keiner Dame, sie mögen doch alle dasselbe... Ja, genau. Deshalb sind Tinder und Co. aus dem Geschäft. Keine Frau macht das freiwillig, niemals. Das sind bei Tinder alles falsche Frauen!

Die gleichen Leute, die das glauben, glauben auch, dass man seine sexuelle Orientierung nicht ändern kann. Männer können nur schwul sein, weil sie Frauen hassen, und wenn sie einmal mit einer "richtigen" Frau zusammenkommen, sind sie nicht mehr schwul ... (...)

Alles in allem ist die Diskussion doch sehr interessant, weil man dadurch einen guten Einblick bekommt, wer extrem erzkonservativ und verklemmt ist und es gerne hätte, dass die anderen genauso verklemmt sind wie man selbst, damit man nicht als Sonderling dasteht.

Und es ist faszinierend zu sehen, wie sehr sich die Leute winden und sagen: 'Ja, diese Diskussion dient doch nur dem Wohl aller, solange sie jetzt planbare Sexualität einführen dürfen, am besten mit erfundenen und erlogenen moralistischen Gruselgeschichten wie dem Drogenhändler, der einem die erste Dosis gratis anbietet. Da muss man ihnen doch zustimmen, denn das geht doch nicht, dass ein junges Mädchen ganz selbstbestimmt einen älteren Mann toll findet. Das kann nur mit Drogen funktionieren, die einen willenlos machen ...‘

Es ist schon amüsant zu sehen, wie heutzutage verklemmte Menschen verzweifelt am Rand stehen und auf keinen Fall als erzkonservativ angesehen werden wollen."

Darf Lindemann noch an der Bar etwas trinken?

Mit den Berichten über eine After-Show-Party in einem Berliner Club befasst sich Telepolis-Leser /Rak. Er schreibt:

"Lindemann ist nicht jemand, der da zum ersten Mal in diesem Club war. der war da wohl schon des Öfteren, auch mit seiner Tochter (die nebenbei auch 38 ist ...). Und daher kannten ihn die Securitys wohl schon als "Stammgast" oder so. Wobei sich Bild, Stern & Co (der Spiegel darf ja nicht mehr so in dieser Form.) auch darüber echauffieren, dass sich der Rammstein-Sänger in einem Fetisch. Und BDSM-Club (!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!) mit Teilen seiner Crew getroffen hat, um an der Bar was zu trinken, nachdem er ja nicht mehr in der Olympiahalle feiern darf.

Und der eigentliche Skandal ist hier eigentlich weniger das, was Lindemann da macht, nämlich einfach in einen Club gehen, sich an die Bar zu setzen und dort was zu trinken. Der Skandal ist auch nicht, dass da Lindemann nicht so wirklich bis gar nicht durchsucht wurde.

Der eigentliche Skandal ist doch eher, dass da jemand Mundtot gemacht und komplett gecancelt werden soll, dessen Schuld derzeit noch nicht mal auch nur ansatzweise irgendwie bewiesen ist.

Es gibt ja noch nicht mal wirklich eindeutige Zeugenaussagen für die Behauptungen - und wo wohl nun schon mehrere Anzeigen gegen ihn mangels Substanz eingestellt werden mussten. Der Skandal ist so nicht, dass da Till L. es wagt sich auch nur irgendwo in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Der eigentliche Skandal ist viel mehr diese momentan laufende, mediale Hexenjagd, die da gerade gegen ihn anrollt, diese Cancel Culture, die mittlerweile immer mehr in eine rein emotionale Hysterie umschlägt, die einem McCarthy oder einem Heinrich Kramer entlehnt sein könnte.

So was kann man jedenfalls kaum noch als "woke" bezeichnen, das, was da gerade läuft mit der Cancel Culture und dem versuchten Mundtotmachen. Das ist vielmehr ein ernsthafter Rückfall in die finstersten Abgründe des Mittelalters, ein Versuch die Aufklärung und all ihre mit vielen Tränen und viel Blut erkämpften Errungenschaften zu negieren, zugunsten einer rein emotionalen Moraldiktatur.

Und nein, ich habe da auch kein Verständnis für Lindemann - wenn er da Mist gebaut hat, dann muss er natürlich zur Verantwortung gezogen werden. Und nach all dem, was ich so alles über ihn gelesen und gehört habe (auch diverse Interviews usw.), halte ich ihn persönlich auch eher erst mal für einen Menschen, der sich da wohl schon auch des Öfteren als (un-)sozialer Mensch mit fragwürdigen Moralvorstellungen dargestellt hat.

Aber eben auch ein solcher (un-)sozialen Mensch mit fragwürdigen Moralvorstellungen hat eben noch Rechte und ist ein Mensch. Und hat das Recht auf eine eigene Meinung. Und auch wenn ich die Ansichten und Moralvorstellungen von Lindemann wohl nicht wirklich teile, so ist es mir dennoch wichtig, dass dessen Rechte als Mensch und auch sein Recht auf eine freie Meinungsäußerung, genau wie das Recht sich einfach mal an die Bar zu setzen und was zu trinken, nicht mit Füßen getreten werden."

Rammstein, die Medien und die Natur des Menschen

In einem ausführlichen Kommentar äußert sich Telepolis-Leser Sentinel zu der Art und Funktion der Berichterstattung über Rammstein und Till Lindemann. Er sieht die Skandalisierung vor allem durch Neugier und den der wertende Vergleich bzw. die Klassifikation getrieben:

"Neugier ist eine immerwährende und den Überlebensvorteil stärkende motivationelle Kraft. Ohne Neugier könnten wir unsere Umgebung nicht erkunden, würden den meisten Dingen nie auf den Grund gehen und letztlich an banalen und ggf. vermeidbaren Umständen und Gefahren zugrunde gehen.

Je emotionaler ein Inhalt, desto größer die Kraft der Neugier, zu erfahren, worum es da genau geht.

Auf diesem Prinzip der emotionsaufgeladenen Neugier basieren die Clickbaits. Selbst hochseriöse Medien und Presse wie Spiegel oder Zeit bauen seit einigen Jahren immer öfter und immer stärker Überschriften ein, die einen emotional-polarisierenden Reiz setzen, die die Neugier maximal wecken und so zum Anklicken motivieren. Nicht selten stellt man fest, dass die Überschrift so zugespitzt formuliert wurde, dass sie den Inhalt des eigentlichen Artikels nur am Rande betrifft, wenn überhaupt.

Ein zweiter Prozess ist immer die Einordnung von Dingen in "gut", "böse", in "muss weg", "kann bleiben". "ist harmlos", "ist gefährlich",

Auch das ist ein ganz fundamentaler Prozess der Komplexitätsreduktion, der die Lebensumstände so sortieren soll, dass der Neokortex nicht zu viel Energie verbrauchen muss, um jeden und alles immer von Grund auf in allen seinen Facetten neu zu beurteilen, sondern nach einmal getaner Analyse auf dem Ähnlichkeitsprinzip basierend, Dinge schnell in Schubladen stecken zu können.

Wenn ich einmal vom Tiger angegriffen wurde, wird das Label "böse", "gefährlich" gleich allen Tigern und vermutlich auch allen sonstigen Tieren mit ähnlicher Erscheinungsform zugewiesen. Das schützt mich dann, weil ich bei einem Löwen nicht erst die Erfahrung machen muss, gebissen zu werden, sondern mich von vorneherein in Acht nehmen kann.

Alles, was dem Überlebensvorteil dient, wird im Gehirn mit einem kleinen Dopaminstoß im Nucleus accumbens belohnt und solche Verhaltensweisen verstärkt. Wir freuen uns gewissermaßen, wann immer uns wieder eine "Klassifikation" gelingt.

Genau auf diesen fundamentalen psychischen Prozessen bauen unsere Medien immer stärker auf – und das trotz all der Aufklärung, all der gefühlten Rationalität und des fast unendlichen Wissens, das wir (zu) haben (glauben).

Also: da berichtet jemand, dass er von einem bekannten Sänger angegriffen/genötigt/belästigt (...) wurde.

Klar, in der Neandertaler-Höhle könnte die archaische Reaktion: "Vorsicht, Kind, Sänger gefährlich, gehe nicht hin" eine lebensrettende Maßnahme sein. Auch heute kann das eine lebensrettende Einstellung sein.

Dumm nur, dass wir Medien haben, die den Verdacht, der ja zunächst mal unbestätigt und unbewiesen ist, gewissermaßen als "quasi-Tatsache" berichten.

Während in der Berichterstattung über den Ukrainekrieg mindestens fünfmal (…) darauf hingewiesen wird "Diese Angaben konnten unabhängig nicht bestätigt werden", wurde über den Fall Rammstein, über den Fall Kachelmann, über den Fall Andreas Türk, über den Fall Kevin Spacey, über den Fall Johnny Depp und unzählige andere Fälle so berichtet, als sei von Tatsachen auszugehen.

So etwas nennt sich Vorverurteilung und sorgt für massive Dopaminstöße bei den Massen, die sich sagen: "Jawoll, das ist ein Tiger, Tiger gefährlich, Tiger muss weg". Das Hirn freut sich über eine weitere Klassifikation und der Nucleus accumbems beklatscht das Ganze mit einer kräftigen Prise Dopamin.

Dumm nur: die Anklage gegen Kevin Spacey fällt, wie man gestern lesen konnte, gerade in sich zusammen, da Spacey bei der besagten Party 2001 war, der angebliche Vorfall sich aber 2004/5 ereignet haben soll.

Johnny Depp wurde freigesprochen in den USA, nach maximaler Durchleuchtung des Falls.

Kachelmann wurde von der Bild bereits als Vergewaltigungsmonster in Grund und Boden geschrieben, bis er anfing, sich zu wehren und am Ende freigesprochen werden musste, da die Geschichte aller Wahrscheinlichkeit frei erfunden worden war.

Genau wie die Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung durch Andreas Türk. Dessen Leben und Karriere wurden zwar ruiniert, aber Hauptsache, der Boulevard hatte wochen- und monatelang was zu schreiben.

Ob Rammstein nun schuldig ist oder nicht weiß kein Mensch außer ihnen selbst und den eventuellen Opfern (...).

Der Boulevard hingegen lebt von der Sensation, mit der die Neugier des Menschen weckt und er verschafft ihm ungeahnte Lustbefriedigung durch implizit bewertende und vorverurteilende Berichterstattung.

Eigentlich sollten all die genannten Opfer von dieser Art der Berichterstattung, die sich nicht um Neutralität bemüht, maximale Schadensersatzansprüche einfordern können - gerade bei Prominenten kann das schon mal schnell in zweistellige Millionenhöhen gehen, wenn man die potenziellen Verdienstausfälle eines Künstlers oder Prominenten berücksichtigt.

Wo bleiben eigentlich die ganzen Abmahnanwälte, die jede Furz-Webseite verklagen, weil die eine falsche Schriftart verwenden. Hier gäbe es doch einen gigantischen Reibach zu machen, indem man die großen Medien- und Pressehäuser verklagt wegen unsachgemäßer und tendenziöser Berichterstattung."

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