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Wie nervös ist Deutschland?

Screenshot aus der ARD-Dokumentation "Nervöse Republik"

Oder wie gleichgültig und orientierungslos? Der ARD-Film "Nervöse Republik" ist Symptom des Problems

Wenn sich die Menschen recht darauf legen würden, die mikroskopischen Krankheiten zu studieren, sie würden die Satisfaktion haben, alle Tage krank zu sein.

Georg Christoph Lichtenberg

Frauke Petry darf als erste reden, ihr Kollege Jörg Meuthen als zweiter. Er darf verkünden, was die AfD will: "einen Fahrplan in ein anderes Deutschland, in ein Deutschland weg vom Links-Rot-Grün verseuchten 68er-Deutschland."

Die ersten sieben Minuten des ARD-Doku-Films Nervöse Republik [1] gehören nur der AfD, ihren Wählern und dem Mob der Pegida. Das Korrektiv dazu bilden währenddessen nur Journalisten, "die Medien", also Stern, Spiegel und natürlich BILD.

Immerhin einer von ihnen, Lutz Kinkel, vormals "Stern", formuliert das Problem das dieser Film - wenn schon wie das Kaninchen auf die AfD blickend - ausdifferenzieren und zum Thema machen müsste: Dass die Medien über die AfD berichten "wie über eine 40 Prozent Partei" und Kinkel benennt auch das Ergebnis: "Insofern machen wir sie als Medien größer, als sie eigentlich ist."

Danach geht es so weiter, episodisch, rhapsodisch, nicht analytisch, nicht einen Gedanken oder ein Argument weiterentwickelnd, nie zu einem Fazit führend, sondern raunend, impressionistisch: Justizminister Heiko Maas wird in Sachsen bepöbelt, die AfD beklatscht das hämisch auf ihrem Parteitag, Sarah Wagenknecht bekommt eine Torte ins Gesicht - was hat das eine eigentlich mit dem anderen zu tun? -, Sigmar Gabriel wird Opfer eines Gerüchts, das Focus-Markwort eitel im BR verbreitet. Von der CDU gibt es offenbar Ähnliches nicht zu berichten.

Tilo Jung, der auch seine Marktlücke gefunden hat, mit der er nun sogar im Fernsehen hausieren geht, und vielleicht bald in der ARD seine Talkshow bekommt, Tilo Jung also, der tatsächlich so ist, wie sein Blog [2] heißt, vergleicht Äpfel mit Birnen, bzw. Nazis mit Torten und stellt Wagenknecht mal flugs in die rechte Ecke.

Mit Informationen Schach spielen

Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden will -, mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung: zum Beispiel bei den Deutschen von Heute..."

Friedrich Nietzsche

Gemacht hat die ARD-Dokumentation "Nervöse Republik" Stephan Lamby [3], der sich seit knapp 20 Jahren auf Politiker-Dokus mit reißerischen Titeln spezialisiert hat: "Schäubles Fall", "Die Welt des Joschka Fischer", "Merkels Macht", "Steinbrücks Blick in den Abgrund", "Das Duell: Merkel gegen Steinbrück", "Schlachtfeld Politik", "Schäuble - Macht und Ohnmacht". Lamby gilt aus guter Dokumentarfilmer. Zu Recht?

Zu seinem aktuellen Thema hat er sich von seinem Konkurrenten Lutz Hachmeister, nun ja, inspirieren lassen: "Nervöse Zone" hieß Hachmeisters um einiges tiefer schürfendes und differenzierteres Buch von 2007 über Politik und Journalismus in der Berliner Republik [4].

Hachmeister beschrieb seinerzeit die Mitglieder des meinungsführenden Journalismus als politische Akteure ohne Mandat: Bewusst und geplant hätten deren Wortführer die Berliner Republik nach rechts "in Richtung eines neo-konservativen Zentrismus" bewegt. Hachmeister beschrieb auch die zunehmende, heute weiter fortgeschrittene Verschmelzung von Journalismus und politischem und ökonomischem Marketing und Lobbyismus.

Längst haben PR-Strategien (mindestens jene der eigenen Werbeabteilung) auch den vermeintlichen Qualitätsjournalismus gekapert, längst ist die Neutralität ein gefährdetes Gut. Eine neue Klasse ist entstanden, in der Publizistik, Ökonomie, Marketing und politische Kommunikation sich zu einer Unterhaltungs- und Bewusstseinsindustrie verbunden haben.

Meinungen und Information sind Produkte geworden, Güter, mit denen Handel betrieben wird - nicht nur auf dem freien Markt. "In Berlin wird mit Informationen Schach gespielt": heißt dies im Film, die Berichterstatter würden dafür instrumentalisiert. Hachmeisters Buch ist insgesamt eine Mängelanzeige für Lambys Film.

Dem Spiegel über die Schulter geschaut

Denn Lamby geht nicht in die Tiefe. Er flaniert am Ereignis-Kalender des Jahres 2016 entlang. Anstatt die inneren Strukturen und die politische Agenda des Spiegel zu beschreiben, stellt er nette Menschen vor: Bei der Brexit-Abstimmung blickt er der Spiegel-Redaktion über die Schulter, einer darf behaupten, "wenn die Briten aussteigen, ist die europäische Idee tot", was ziemlicher Unsinn ist.

Der Spiegel ist überrascht vom Brexit, statt Analysen hören wir vollkommen übertriebene Reaktionen: David Cameron habe "sein Leben verpfuscht, egal, was er jetzt noch macht", als ob das irgendwas mit der Wirklichkeit zu tun hätte und als ob das Schicksal des Ex-Premiers die Hauptfrage nach dem Brexit wäre. Zum Verhältnis der Bürger zu den Medien bemerkt Carline Mohr:

Hass gab's immer ... seit Sommer 2015 ganz neue Dynamik.

Die nervöse Republik

Da hätte Lamby jetzt wieder ansetzen können, nachfragen, mehrere Stimmen oder Bilder zur gleichen Sache. Stattdessen denken wir über drei alternative Entwürfe zum nächsten Spiegel-Titel nach. Klaus Brinkbäumer beschreibt "zunehmende Unsicherheit" und eine "zunehmende weitere Hysterisierung der Debatte".

Zu keinem Streit fähig: Die Burnout-Republik

Hysterie ist schon wieder so eine Kategorie. Von Nervosität ist im Film nicht die Rede, dieser Titel scheint eher die persönliche Behauptung Lambys zu enthalten oder eine Hachmeister-Hommage.

Eine andere Frage ist dabei, ob überhaupt ausgerechnet der Nervositätsbegriff zur Analyse der kollektiven bundesdeutschen Geistesverfassung taugt. Ein Gedanke an die Geschichte dieses Begriffs stimmt da eher skeptisch. Bereits viele Kulturwissenschaftler haben sich in den letzten Jahrzehnten mit der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der "Neurasthenie", "Nervenschwäche" oder Nervosität in den Jahren zwischen 1880 und 1940 beschäftigt.

Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Martynkewicz betitelte sein Buch gar als "Das Zeitalter der Erschöpfung", der Historiker Joachim Radkau seines als "Das Zeitalter der Nervosität". Alle redeten seinerzeit plötzlich über die Nerven.

Wie heute der Burnout transformierte die Neurasthenie das gesellschaftlich unakzeptierte Unbehagen in der Kultur und den Überdruss an der modernen Zivilisation in eine gesellschaftlich akzeptierte Krankheit. Wer Burnout hat, ist krank, wer müde ist oder gleichgültig, dagegen selber schuld. Lamby hätte insofern auch von der Burnout-Republik, oder der "ausgebrannten Repubik" schreiben können.

Als Diagnose treffender wäre es aber, von Orientierungslosigkeit und Gleichgültigkeit zu reden. Von der Unfähigkeit zu streiten. Von dem Unvermögen für eigene Werte zu kämpfen und dummes Geschwätz auch so zu nennen. Oder von kollektivem Narzissmus.

Enorme Aufwertung der Demagogen und Freiheitsfeinde

Es sagt schon alles, dass ausgerechnet dem Medien-Outsider und Jungspund Tilo Jung viel Raum gegeben wird und dann zu seichten Appellen wie diesem: "Meine Eltern sind auch Einheitsverlierer, meinen Vater kotzt diese ganze Politik an." Über PEGIDA "Wir sollten auf diese Menschen zugehen, ihnen nicht immer nur vorwerfen, wie sie sich artikulieren."

Dass genau dies aber keiner tut, interessiert Lamby nicht. Was diese Leute der Pegida-Demos artikulieren, nicht wie, das ist der Punkt. Ein tobender, hasserfüllter Mob. Diese Leute haben keine Sorgen, sondern sie haben ein Aufmerksamkeitsdefizitproblem. Im 19. Jahrhundert hätte die Staatsmacht anders reagiert, da wäre Pegida nach einer Demonstration vorbei gewesen. Und da die Gesellschaft und ihre Medien offenbar unfähig sind, dem rassistischen Pöbel mehr entgegenzusetzen als Indifferenz und Nachgiebigkeit, könnte es eines Tages wieder so kommen.

Zwischen solchen Eindrücken streut der Film auch ein paar Politikerinterviews. In betont originellen Positionierungen: Maas auf einer Tischkante halb sitzend. Hat das der Pressesprecher so gewollt? Petry im schulterfreien Dress. De Maizière macht in diesem Umfeld sehr überraschenderweise in jeder Hinsicht den besten Eindruck.

Er findet als einziger eindeutige, harte und angemessene Worte für den AfD-Pegida-Komplex: "miese, aber gut wirksame Propaganda ... inszenierter Eklat ... an die Propaganda des Nationalsozialismus gegen die Politiker von Weimar erinnernd..." In Lambys Blick hat de Maizières altmodische, autoritäre, kühl-nassforsche Art etwas Sympathisches, Realpolitisches, fast Helmut-Schmidt-haftes - ein Mann für die Zukunft.

Der Film selbst ist nervös. Lambys Film ist ein Paradebeispiel für Medien, die als Institution zur Aufklärung und Irritation der Bürger, auch als ihr Anwalt gegenüber der Politik zunehmend versagen und stattdessen als Echoraum und Stimmungsmacher funktionieren. Sein Film betreibt mit seiner visuellen Gleichsetzung von AfD und Regierung eine enorme Aufwertung der Demagogen und Freiheitsfeinde.

In Lambys Film kommen Grüne und FDP gar nicht erst vor, und das Volk nur als keifende Minderheit, die allen Ernstes von "Widerstand" redet, von "Volksverrätern" und der Abschaffung Deutschlands. So zeigt er eine Konstellation, die wie eine Talkshow von Anne Will auf Krawall gebürstet ist, an Information desinteressiert. Die ARD strickt mit an Klischees und Vorurteilen, die auf Dauer eine andere Republik herbeiführen werden.

Lutz Kinkels Frage steht bis zum Ende im Raum: Haben die Qualitätsmedien die AfD und Pegida nicht erst geschaffen, groß gemacht durch übertriebene Aufmerksamkeit? Indem Demagogie und Rechtsextremismus zu "Populismus" verniedlicht werden. Indem der AfD die Möglichkeit gegeben wird, ihre Kommunikationsverweigerung als Gesprächsbereitschaft zu tarnen.

"Herr Diekmann, sind Sie Journalist oder Aktivist?"

Die letzte Chance verpasst der Film in Minute 54. Nachdem vorher Petry noch unwidersprochen natürlich ihre üblichen Behauptungen aufstellen durfte, dass "die Medien" "alles" über die AfD "immer ins Negative ziehen" würden, und unfair berichten. Danach redet Lamby mit dem Ex-BILD-Chefredakteur Kai Diekmann und geht ihn für seine Verhältnisse kritisch an, aber eben einmal mehr in die falsche Richtung: Als dieser erklärt, dass er Antisemitismus und Rassismus der AfD bekämpfen würde, weil er sie für gefährlich hält, fragt Lamby kess: "Sind Sie Journalist oder Aktivist?"

Diekmann erklärt ruhig, dass es zum Journalismus dazugehöre, zu berichten "wer sind denn die Leute, die von der AfD in die Landtage geschickt werden? Was für einen Hintergrund haben die?" Lamby: "Ich war bislang der Meinung, Journalisten berichten, jetzt sagen Sie mir, Journalisten kämpfen." - Diekmann: "Selbstverständlich tun wir das." Und gegen Hans-Joachim Friedrichs Behauptung, ein Journalist "macht sich mit keiner guten Sache gemein", kontert Diekmann: "Diesen Satz habe ich schon immer für falsch gehalten."

Am Ende erfahren wir den Titel jener großartigen Graphik, die ein paar Mal im Film auftaucht und die beste Entdeckung an ihm ist: "Das Gerücht" von Paul A. Weber, einem Künstler im Umkreis des Nationalbolschewisten Ernst-Niekisch. Lamby betitelt sie auf 1943, obwohl die Graphik erst von 1953 stammt, und nur der Entwurf im Dritten Reich entstand.

Das verdeutlicht die Methode: Es sieht gut aus, allerdings zugleich um einiges besser als es ist und ist im Detail dann mindestens ungenau, wenn nicht ein absichtlicher Bluff, der mehr über das öffentlich-rechtliche Fernsehen verrät als über seinen Gegenstand.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3691132

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.ardmediathek.de/tv/Reportage-Dokumentation/Nerv%C3%B6se-Republik-Ein-Jahr-Deutschland/Das-Erste/Video?bcastId=799280&documentId=42212804
[2] http://www.jungundnaiv.de/
[3] https://ecomediatv.de/
[4] https://www.perlentaucher.de/buch/lutz-hachmeister/nervoese-zone.html