Wie wir unser Wirtschaftssystem ändern müssen: Die Macht der Bürger, Wissen über Banken und Angst vor der Macht des Finanzwesens – Ann Pettifor zum Green New Deal.
Wie kann der Klimawandel finanziell bewältigt werden? Geht es ohne Wirtschaft? Wohl kaum. Wie wird dann aber der kostenintensive Klimaschutz und die Solidarität mit wirtschaftlichen Überlegungen zusammengebracht?
Anzeige
Die britische Ökonomin Ann Pettifor, die in Südafrika aufgewachsen ist, schlägt einen Weg zwischen Ökonomie und Ökologie vor. 1998 wurde sie mit ihrer Kampagne "Jubilee 2000" bekannt, die sich global für die Streichung der Schulden der ärmsten Nationen der Welt einsetzte. 2015 war sie Mitglied im siebenköpfigen Rat für die Wirtschaftsstrategie der Labour Party, der von Jeremy Corbyn einberufen worden ist.
Im Interview zeigt die Autorin Wege auf, wie sich das Finanzsystem bereits im privaten Konsumverhalten ändern kann.
Der Green New Deal sollte keine Angelegenheit der Regierungsebenen allein bleiben; er beeinflusst unseren Alltag. Daher fordert Pettifor auch mehr Aufklärungsarbeit darüber, wie das aktuelle Finanzsystem arbeitet und wie es Bürgermacht okkupiert.
Die Sprache auf das Finanzwesen bringen
Sie haben ein Buch zum neuen Green Deal verfasst. Worum geht es hier genau?
Ann Pettifor: Die größte Herausforderung liegt meines Erachtens in der Veränderung unseres Wirtschaftssystems. Unseren monetarisierten Kapitalismus zu verändern, ist beinahe unmöglich. Dieses "Ding" verlangt von uns ein stetes Wachstum und ein ausuferndes Kreditwesen, einen übermäßigen Konsum.
Zunächst müssten wir den Konsum und die Ausbeutung einschränken. Wir können jedoch den Verbrauch nicht von heute auf morgen reduzieren. In der Stratosphäre, wo die Wall Street agiert, räumen sie täglich mehr und mehr Kredite ein.
Anzeige
Dies geschieht meist über eine Schattenwirtschaft der Zentralbanken. Die Schattenwirtschaft hat den regulären Banken längst den Rang abgelaufen. Wenn wir den Klimawandel angehen wollen, bringt es nicht viel, auf den Boden zu schauen, sondern wir müssen unseren Blick zur Atmosphäre heben.
Wir müssen berücksichtigen, was wir durch unsere Unternehmungen der globalen Atmosphäre antun. In den grünen Bewegungen wurde dies thematisiert. Wir haben begonnen, über den Planeten zu sprechen. Aber wenn die Sprache auf das Finanzwesen kommt, schweigen wir plötzlich.
Wie schafft man es dennoch, darüber zu sprechen?
Ann Pettifor: Am besten stellt man es sich wie eine Tankstelle vor, die Benzin in die Wirtschaft kippt. Nicht nur die öffentlichen Banken vergeben Kredite, sondern auch der Privatsektor. Die Banken speisen stets immer mehr Kredite ins Wirtschaftssystem, bis man dieses System deregulierter Finanzmärkte stoppt.
Wir sollten das Benzin berücksichtigen, das wir nicht sehen können. Es ist unsichtbar und unantastbar. Es ist verhältnismäßig einfach, sich um das Benzin zu kümmern, denn wir können sehr leicht Leitungen sabotieren, da sie lokalisierbar sind. Aber wie sabotieren wir ein unsichtbares Finanzsystem? Das ist viel schwieriger!
Ja, das stimmt. Aber wo liegt die Lösung?
Ann Pettifor: Unser politisches Führungspersonal kümmert sich um die offensichtlichen Dinge, die vor ihren Augen liegen. Wir haben auch in der Klimaschutzbewegung Führungspersönlichkeiten und Wissenschaftler, die uns dabei helfen, den Planeten als ein Ganzes zu sehen. Wir haben Astronauten, die bis zum Mond flogen und uns durch Aufnahmen zeigten, wie unser Planet im Kosmos ausschaut.
Für das Finanzwesen haben wir nicht den entsprechenden Astronauten, der über die Banken, Unternehmen und Volkswirtschaften fliegt und uns diesen Planeten aus der Vogelperspektive zeigt. Für mich ist das ein Problem.
Aber ich sehe auch inzwischen positive Entwicklungen. Ich denke da zum Beispiel an die Streiks in Großbritannien, die von den Arbeitern kollektiv organisiert werden. Die Arbeiter sprechen zudem über die Art und Weise, wie das aktuelle Wirtschaftssystem funktioniert. Sie machen darauf aufmerksam, dass die Profite in die Hände des einen Prozent fließen, durch Dividenden und Aktionäre.
Das zeigt deutlich, dass sich die Arbeiter inzwischen nicht mehr allein um ihre Löhne kümmern, sondern die gesamte Volkswirtschaft im Blick haben. Wir können hier den Beginn eines Verstehensprozesses sehen.
"Wir haben die Macht"
Diesen Missbrauch offenzulegen, ist nicht einfach, da die genannten ein Prozent Mittel und Wege kennen, ihre Gewinne an den Arbeitern vorbei zu erwirtschaften.
Ann Pettifor: Natürlich, aber wir haben die Macht, um zum Beispiel Amazon, Apple und Google ins Visier zu nehmen, die alles daransetzen, Steuern zu vermeiden. Sie nehmen all ihr Geld und legen es jenseits der Landesgrenze an, da Kapital immer schon mobil ist. Arbeit ist nicht so mobil, es gibt Einschränkungen hinsichtlich der Beweglichkeit von Arbeitskraft.
Beim Warenaustausch ergeben sich auch Reibungen, Spuren, aber es gibt für den Kapitalfluss keine Begrenzungen. Amazon kann all seine Gewinne in ein Steuerparadies lenken. Wir als Bürger haben aber die Macht, Amazon morgen zu sagen: Tut uns leid, aber ihr könnt keinen Handel in unserem Land betreiben, wenn ihr keine Steuern bezahlt.
Tut uns leid, aber ihr dürft eure Waren nicht an unsere Bevölkerung verkaufen. Falls ihr das dennoch tut, dann beschränken wir euren Zugang zu Landerwerb, Arbeit und all diese Dinge.
Wenn ich sage: Wir haben die Macht, dann denke ich an unsere Regierungen, die diese Macht haben. Sie werden von dieser Macht aber keinen Gebrauch machen, solange wir das nicht einfordern. Es gibt bereits Menschen, die Amazon boykottieren und stattdessen bei ihren regionalen Händlern einkaufen. Doch wir müssen uns in revolutionärem Denken üben, um solche Handlungen auch konsequent umzusetzen.
"Wir lieben dieses System. Wir sind ihm verschworen."
Dagegen steht ganz klar die Bequemlichkeit und All-Verfügbarkeit dieser großen Online-Unternehmen.
Ann Pettifor: Wir lieben dieses System. Wir sind ihm verschworen. Der Kapitalismus hat uns davon überzeugt, dass wir unsere lokale Wirtschaft zerstören und gewährleisten müssen, dass das Silicon Valley und die USA von unserem Konsum profitieren können und nicht unsere ortsansässigen Händler. Wir wurden überredet, dass dies eine gute Sache sei! Die Überredungskunst ist ziemlich geschickt. Doch wie gesagt, regt sich immer mehr Widerstand gegen diese Abhängigkeiten.
Wir sind hier mit einer Herausforderung konfrontiert, die unbegreiflich ist. Die abstrakteste Sache bei diesen ganzen Beziehungen ist Macht. Wir haben die potenzielle Macht, Amazon und Konsorten zurück auf ihre Grenzen zu verweisen. Diese Macht ergreifen wir jedoch nicht, wir streben auch nicht danach. Wir organisieren nicht einen großen Schwarm, eine Intelligenz, um diese Macht zu ergreifen, sondern verharren in unseren Individualitäten.
Genau das ist die Motivation hinter dem Kapitalismus. Sie wollen die alleinige Sorge um das Ego. Sie wollen keine sozialen Interaktionen, sondern wir sollen einzeln in unseren Wohnungen sitzen und von dort aus shoppen. Sie möchten auch keine kollektiven Handlungen. Wir sollten verstehen, dass uns Macht weggenommen wurde, und wir sollten uns diese politische Kraft wieder zurückholen.
Alternative zum Kapitalismus?
Denken Sie, dass es Alternativen zu einem kapitalistischen System gibt?
Ann Pettifor: Ja – und zwar: Faschismus. Die Rechten und die Rechtsextremen fordern bereits das kapitalistische System heraus. In Russland, in Indien, in den Vereinigten Staaten hoffen sie auf das Präsidialamt, zudem in Brasilien und in Ungarn. Das wäre eine Alternative zur freien Marktwirtschaft.
Ich möchte aber keinen Faschismus haben. Wo ist die linke Alternative zum Kapitalismus? Natürlich gibt es eine Alternative zum Kapitalismus. Die Linke muss sich wieder aufstellen und für dieses Modell kämpfen. Die Alternative wäre Sozialismus. Es geht darum, dass die soziale Gerechtigkeit der Hauptpfeiler der Sozialwirtschaft und ökologischer Gerechtigkeit sein sollte.
Sollte das Wohl aller im Fokus dieses Modells sein?
Ann Pettifor: Für mich hat die Menschheit immer schon darauf geachtet. Wir leben in einer Welt der gemeinsamen Aktivitäten: Wir spielen Fußball, wir mögen unsere Nachbarn, wir arbeiten zusammen, um Projekte zu verwirklichen.
Ich kam gestern mit dem Zug aus Großbritannien nach Deutschland und ich überlegte mir, wie haben wir es nur geschafft, einen Eisenbahntunnel unter der Nordsee zu bauen? Wie gründeten wir eine Eisenbahngesellschaft, die das umsetzen konnte? Wir haben in unserer Geschichte gelernt, zusammen zu kommen und uns für eine gemeinsame Sache zu mobilisieren. Nicht jeder von uns lebt in kleinen abgetrennten Schachteln.
Das ist nur eine Seite der Medaille. Es gibt auch jene, die nicht zusammenarbeiten möchten und auf ihren eigenen Vorteil aus sind. Oder die sich bekämpfen.
Ann Pettifor: Der Individualismus von Amazon lehrt uns, Individualisten und Verbraucher zu sein. Aber sie können das nicht komplett durchziehen, weil es eigentlich unserem Wesen widerspricht.
Was im Sommer 2022 in Großbritannien mit den ganzen Streiks passierte, zeigt uns, dass wir uns kollektiv organisieren können. Das ist tief in unserem Wesen verankert.
Das Wall-Street-System ändern
Kommen wir auf den Green New Deal zurück.
Ann Pettifor: Ich bin positiv überrascht, dass die Europäische Union über den Green Deal spricht. Sie sprechen aber nicht über den Green New Deal.
Was ist der Unterschied?
Ann Pettifor: Fundamental beim New Deal 1933 war, dass die US-amerikanische Regierung die Globalisierung als Thema anging. Damals wurde es als Goldstandard bezeichnet, was von der Wall Street zusammen mit der Regierung eingerichtet wurde. Interessant ist hierbei auch die Rolle von Deutschland im Jahr 1919. 1919 war Deutschland zerstört und ganz Europa war sehr schwach nach dem 1. Weltkrieg. In Versailles fand die große Konferenz statt.
Keynes ging zu dieser Konferenz und sagte: Deutschland hat ein Problem – es benötigt Geld. Wir können uns als Alliierte darüber verständigen, einen Fonds einzurichten. Ein Fonds ist das Versprechen, in Zukunft zu bezahlen.
Dieser Fonds kann Deutschland beim Wiederaufbau helfen. Ihr müsst nur dafür sorgen, dass Großbritannien, die Vereinigten Staaten und Frankreich für den Fonds bürgen. Dann wird Geld vorhanden sein. Ihr löst den Fonds aus und generiert eine Milliarde britisches Pfund.
An diesem Punkt mischte sich die Wall Street ein und sagte: Nein! Wir werden Deutschland das Geld leihen. Das geschah dann auch, aber die Wall Street berechnete sehr hohe Zinsen. Sie beuteten Deutschland finanziell aus und es konnte sich von den Kriegsschäden des 1. Weltkriegs nie erholen.
Es endete dann wie bekannt im Faschismus. Darüber habe ich ausführlich geschrieben und ich wünschte mir, die deutsche Bevölkerung verstünde besser, was damals in Versailles passiert ist.
Keynes verließ dann die Versailler Konferenz und schrieb das Buch "The Economic Consequences of the Peace". In diesem Buch griff er sehr scharf die westlichen Regierungschefs an, dass sie Deutschland nicht helfen wollten. Er prophezeite ihnen: Dafür bekommt ihr einen weiteren Krieg. Dafür wurde er sehr heftig kritisiert, aber er hatte Recht.
Und sehen Sie Parallelen zu heute?
Ann Pettifor: In der Pandemie kamen die Regierungen zusammen, um einen Fonds für die Länder des globalen Südens zu verabschieden und zu garantieren. Damit diese durch die Pandemie kommen. Das nenne ich kooperatives Handeln.
Die Wall Street wollte stattdessen Fonds mit hohen Zinsen für Italien, Spanien und Portugal vergeben. Die Länder häuften dann Schulden auf sich und kämen in größere Abhängigkeiten. Die Wall Street würde sicher gut daran verdienen.
"Der Green Deal geht nicht weit genug"
Die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen spricht momentan ja viel über den Green Deal. Was hat es damit auf sich?
Ann Pettifor: Die Europäische Kommission spricht über den Green Deal und nicht über den Green New Deal aus dem schlichten Grund, dass sie nicht das Finanzsystem ändern möchten. Während der Pandemie gingen wir aber genau in diese Richtung.
Es wurden öffentlich garantierte Fonds ausgelöst, die für die südlichen Länder nachhaltiger sind. Der US-amerikanische Green Deal beinhaltet ähnliches: Sie möchten nicht darüber nachdenken, wie wir das Wall-Street-System ändern könnten. Aus diesem Grund geht dieser Green Deal nicht weit genug.
"Ohne den Staat können sie aber nicht agieren"
Der Green New Deal geht weiter?
Ann Pettifor: Viel weiter! Es ist ein sehr radikaler Vorschlag. Er wurde aber verwässert, weil über alles Mögliche gesprochen und der Wandel des Finanzsystems ausgespart wurde. Als wir diesen Green New Deal 2007 und 2008 entwickelten, gab es auf der einen Seite eine Vielzahl von Geldtheoretikern und auf der anderen Seite eine Vielzahl an Ökologen und Umweltschützern.
Die Verständigung untereinander fiel uns schwer, denn wir sprachen jeweils andere Sprachen. Wir mussten große Schlachten kämpfen. Es hat uns ein Jahr gekostet, den Text gemeinsam schreiben zu können. Am Ende fanden wir aber einen systemoffenen Zugang, der die finanziellen und ökonomischen Probleme mit den Herausforderungen der Ökologie verbinden konnte.
Man kann sich nur schlecht um die Wälder kümmern, während die Wall-Street-Ökonomen Kohlenstoffdioxidhandel ermöglichen. Es geht hierbei um die Angst vor der Macht des Finanzwesens.
Sie haben durch uns so viel Macht erlangt. Ohne den Staat können sie aber nicht agieren. Die Finanzkrise war vorhersehbar. Als die Krise dann tatsächlich kam, dachte ich: Nun, da die Wall Street die Weltwirtschaft ruiniert hatte, hätten wir doch einiges von diesem Beispiel lernen können. Die Wall-Street-Ökonomen dachten schon, sie würden ins Gefängnis gehen.
Aber nein, ins Gefängnis mussten sie nicht. Die Zentralbanken gaben ihnen sogar noch mehr Macht. Sie erhielten noch mehr Geld. Die Bürger atmeten auf und meinten: Gott sei Dank ist alles wieder ganz normal! Wir fragten nicht: Warum passierte das denn? Kann es sich wiederholen?
Die Unfähigkeit, dieses Bankensystem zu durchschauen
Und kann es?
Ann Pettifor: In Europa sehe ich das Problem, dass wir kaum etwas von diesen Bankern im Gegenzug für den Zugang zum europäischen Finanzmarkt verlangen. Stattdessen empfangen wir sie mit offenen Armen und bieten ihnen Notfallprogramme für ihren möglichen Zusammenbruch und Exzess.
Die Öffentlichkeit reagiert darauf mit der Unfähigkeit, dieses Bankensystem zu durchschauen. Aber das müssen wir, wenn wir unsere Macht nicht abgeben möchten!
Mich erinnert das an eine Art von Schneeblindheit – hier wohl eher: Geldblindheit.
Ann Pettifor: Ja, Schneeblindheit. So könnte man das umschreiben.
Journalismus fördernIhr Beitrag für guten Journalismus
Durch Ihre Unterstützung werden Sie Teil einer Community, die unabhängigen und freien Qualitätsjournalismus schätzt und fördert. Bei uns finden Sie ein breites Spektrum an einzigartigen Themen und unabhängigen Stimmen.