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Wie sich die Grünen in Lobbyismus und Vetternwirtschaft verstrickt haben

Marco Bülow

Bild Patrick Graichen: Heinrich-Böll-Stiftung / CC-BY-SA-2.0 / Grafik: TP

Die Grünen haben eine historische Chance verpasst. Ihr Projekt in der Regierung wurde auch durch eigene Fehler zerrieben. Negative Kampagnen haben den Rest erledigt.

Eine Debatte hat die letzten Wochen beherrscht: Die Grünen-Personalie Patrick Graichen, das ist der – nun ehemalige – Staatssekretär von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Beschönigungen wurden gegen eine schrille Schlammschlacht gestellt. Dann folgte der Rücktritt. Ein Kampf um das Kompetenzzentrum von Korruption und Vetternwirtschaft oder politischer Alltag? Dabei hätte es so ein schöner Monat für Grüne werden können.

Grüne Themen ignoriert

Die vorherrschende Farbe im Mai ist ja Grün. Alles blüht und gedeiht. Viel Regen hat uns dieses Frühjahr beschert. Die so arg reduzierten Wasserpegel erholen sich, eine Wohltat für Pflanzen und Tiere. Eigentlich auch für uns, auch wenn viele gern besseres Wetter gehabt hätten. Nicht so weit weg sieht die Lage vollständig anders aus. Dürre im Mai.

Was Norditalien letztes Jahr verstärkt erlebt hat, entwickelt sich vor allem in Südfrankreich und Spanien gerade sehr bedrohlich. In den vergangenen zwölf Monaten hat es auf der Nordseite der Pyrenäen rund zwei Drittel weniger geregnet als im Normalfall. Stauseen in Spanien sind bereits jetzt im Frühjahr nur zu 25 Prozent gefüllt.

Das Ergebnis: Wassermangel und folgende Verbote, Einschränkungen und Rationierung, bevor der eigentliche Sommer kommt. Vor allem die Ernteeinbußen werden auch wir zu spüren bekommen. Die steigenden Lebensmittelpreise gehen längst auch auf das Konto von Klimawandel und Wetterextremen. Gerade Spanien lieferte uns bisher viel Obst und Gemüse.

Marco Bülow ist Publizist, Politiker und Aktivist. Von 2002 bis 2021 war er direkt gewählter Abgeordneter der im Bundestag. Bis 2018 für die SPD dann Fraktionslos. Bild: Julia Bornkessel

In Deutschland sind die Lebensmittelpreise von März 2022 bis März 2023 um 22,3 Prozent angestiegen – mehr als die aller anderen Güter. Während die Strompreise zurückgehen, verschärft sich die Lage bei den Lebensmitteln weiter. In vielen Ländern wurden Maßnahmen gegen die heftigen Preissteigerungen getroffen. In Deutschland sind sie weiter nur eine Randnotiz. Dabei kennen wir den Anstieg der Armutszahlen und die Hilferufe der Tafeln und anderer karitativer Einrichtungen.

Es ist ein Phänomen, dass Regierung und Bundestag sich zwar ausgiebig mit den Energiepreisen beschäftigt haben, Eingriffe und Förderungen vornimmt, aber die Lebensmittelpreise missachtet. Das "soziale Herz" wird meist nur an der Tankstelle entdeckt.

Bei den Energiepreisen geht es auch um knallharte Lobbyinteressen. Die Verteuerung der Lebensmittel trifft hauptsächlich die weniger vermögende Bevölkerung, die keine starke Lobby im Rücken hat. Essen müssen sie ja dennoch und der Teil der Branche, die hauptsächlich Billigprodukte verkauft, profitiert erst mal.

Landwirtschaft, Ernährung, Klima, Wasserknappheit – damit einhergehende soziale Verwerfungen – und die Einschränkungen von Freiheit. Gute Themen, gerade für die Grünen. Das wurde zu wenig genutzt.

Grüne in der Defensive

Ähnliches gilt für die gesamte Energiepolitik. Wegen des Dauerfeuers und der Katastrophenpropaganda von Liberalen, Konservativen und der Springerpresse gab es zur Abschaltung der letzten drei alten Atommeiler keine Positivbotschaften. Man wollte nur schnell alles hinter sich bringen.

Im Mai hieß es dann in den ersten Analysen, die Preise seien leicht gesunken, es habe nicht mehr Kohle verfeuert werden müssen und es werde mehr als genug Strom produziert. Auch diese positiven Botschaften schienen kein Gehör zu finden.

Klar, ein wirkliches Fazit wird es erst später geben können. Aber eigentlich müssten die ersten Erkenntnisse den aggressiven Stimmen aus der Union – die selbst den Ausstieg beschlossen hat – vorgehalten werden.

Selbst das Fraunhofer-Institut machte indes deutlich, dass die verbleibenden AKW gar keine so große Lücke reißen können, weil sie nur für gut ein Prozent Endenergie verantwortlich seien.

So wurde der Blackout am Ende stillschweigend abgesagt. Eine kritische Bilanz aber blieb aus, eine Debatte über das Schüren der German Angst der Union fand nicht statt.

Dabei hätten die Grünen, Robert Habeck und sein Ministerium in die Offensive gehen können, zugunsten von erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz.

Auch hätten Habeck und Graichen das Momentum besser nutzen können; etwa, indem sie die Wärmewende sozialpolitisch flankiert hätten.

Stattdessen holten sie ihre taktischen Fehler und die Konzeptlosigkeit ein. Lobbyfreundliche Politik zahlt sich eben nicht aus, wenn man die bisherigen Nutznießer dann wieder verprellt.

Anfangs handelte das Wirtschaftsministerium noch wie unter Peter Altmaier (CDU) und den anderen Vorgängern. Lobbyisten fossiler Energien gingen im Ministerium ein und aus. Sie bestimmten so auch maßgeblich das wichtige Gesetz zur Gasumlage. Das ist mittlerweile der normale Gang, aber diesmal flog es auf.

Es gab heftige Kritik und das Gesetz konnte so nicht durchgesetzt werden. Habeck war in der Defensive. Dann gab es den Bückling Habecks vor einem autokratischen Scheich für neue Gaslieferungen und einen schnellen Ausbau der LNG-Terminals, nachweislich über Bedarf und gegen viele (Umwelt-)Regeln im Eilverfahren.

Aber weder die Lobbydienste noch Deutschland mit Gas und Energie gut über den Winter gebracht zu haben, zahlten sich für die Grünen aus. Als das Wirtschaftsministerium ihre Heizungspläne präsentierte, entrüstete sich nicht nur die Union, sondern auch die alte Energielobby, die vorher noch bevorteilt wurde. Was hatte der Wirtschaftsminister denn erwartet? Dankbarkeit? Und dann passierte etwas, das sonst zwar auch passiert, aber selten zum Thema wird.

Der Fall Graichen

Alle haben die Geschichte nun mehrfach gehört. Am Ende ist von "der Pate", der "Graichen Clan" und dem "System Graichen und Habeck" die Rede. Die Vergleiche und Anspielungen können gar nicht dramatisch genug ausfallen.

Es werden freundschaftliche und verwandtschaftliche Bezüge zu Instituten und deren Mitgliedern aufgeführt, die schon längere Zeit immer wieder mal Aufträge vom Wirtschaftsministerium erhalten, auch durch die Vorgänger. Redaktionen recherchieren, graben aus und Schlagzeile folgt auf Schlagzeile. Wer sonst keine Ahnung davon hat, wie es sonst ist, wie die anderen es praktizieren, hiervon bleibt einiges hängen.

Ich müsste Bestätigung spüren, denn wie oft habe ich aus dem Bundestag auf solche und ähnliche Vorgänge und auf Vorteilsnahme von Politikern hingewiesen. Fast immer sind sie verpufft, gab es kein Interesse an Aufklärung. Es ist ja ein Teil meiner Erfahrung, meiner Beobachtungen, die ich immer wieder vorgebracht habe, die in dem von mir beschriebenen Lobbyland münden.

Aber ich bin genervt, ja von Patrick Graichen, aber mehr noch davon, dass sonst nicht so berichtet wird und von den ganzen Moralisten, die sonst – vor allem in ihren eigenen Reihen – jeden decken und sonst alles beschönigen.

Es ist ganz klar: Ein Staatssekretär muss bei einer Postenvergabe, an der er oder seine Institution beteiligt ist, sich sofort transparent herausziehen, wenn ein Bewerber mit ihm verwandt oder befreundet ist. Natürlich musste Patrick Graichen zurücktreten und es gibt da auch nicht viel zu beschönigen. Er ist bei Weitem nicht der Erste, der nicht anständig handelt, auch deshalb hatte er wohl kaum ein Unrechtsbewusstsein.

Unser System ist mittlerweile genauso gestrickt. Mehr noch, fast jeder neue Minister bläht sein Ministerium mit neuen Positionen auf, besetzt sie mit seinen Kumpels und positioniert auch sonst Freunde und Gefährten an Stellen, auf die sein Ministerium Einfluss hat.

Auf Fachkompetenz wird da meist keine Rücksicht genommen – was im Fall Graichen allerdings andres ist. Nur weil es dann häufig keine engen Verwandten sind, macht es das nicht besser.

Das Ende vom grünen Mai

Fossile Konzernlobbyisten sowie die konservativen und neoliberalen Parteien triumphieren. Doppelmoral siegt. Wenn es ein Kompetenzzentrum für Korruption und Vetternwirtschaft gibt, dann ist es die Union. Schwarze Kassen und Koffer, Maskendeals, Spendenaffären: 56 CSU Landtagsabgeordnete, die mit dem Mitarbeiterbudget des Landes, ihren Ehepartner oder Familienmitglieder mal ein Gehalt besorgt haben.

Die Liste ist so lang. Aber medial in der Gänze kaum aufarbeitet, bedenklich, dass man da fast ausschließlich auf Grafiken und Listen von Satiresendungen wie der Anstalt zurückgreifen muss.

Ich spreche die anderen Parteien ganz sicher nicht frei und es ist gerade das Dilemma, dass sich da fast alle angleichen. Aber ausgerechnet die Union müsste ganz still sein, aber sie wetterte am lautesten und viele Medien spielen mit, wo sie doch sonst gern schweigen und die Journalisten und Insider, die etwas aufdecken, ausbremsen.

Sehr passend dazu, dass die Präsidentin der Europäischen Kommission gerade angeklagt wurde. Es geht um Milliarden-Deals, die Ursula von der Leyen direkt mit Pfizer-Chef Albert Bourla verhandelt hatte.

Es geht um den Verdacht, dass die beiden über Textnachrichten direkt eine Vertragsverlängerung über 1,8 Milliarden Euro für zusätzliche Dosen an EU-Länder ausgehandelt haben. Die europäischen Medien sind voll davon, hier wird dazu von fast allen Seiten geschwiegen. Auch hier hat man dazu fast nur etwas von Martin Sonneborn gehört und gelesen.

Stattdessen gelangen Habeck und die Grünen immer mehr in die Defensive. Das hat sicher auch bei der Wahl in Bremen nicht geholfen und das schlechte Ergebnis der Grünen dort, vertieft ihre Krise. So gibt es nicht nur den Rücktritt von Graichen und weiter geht es? Was sollte eigentlich passieren?

Die Grünen sollten sich ihrer einstigen Grundprinzipien bewusst werden, einen klaren Politik-Kodex aufstellen und befolgen. Sie sollten offensiv vorangehen und sich nicht dem Lobbyismus von profitorientierten Großkonzernen beugen, sich aber auch auf die Gegenwehr einstellen. Das gelingt nur, wenn man selbst sauber bleibt und die anderen attackieren kann.

Aber es ist zu befürchten, dass man den Weg weitergeht, sich der Union anzugleichen, noch mehr mit den Lobbys einlässt, die einem das Leben so schwer machen können. Beim Sponsoring und Großspenden hat man schon sehr aufgeholt und die Drehtür vom wichtigen Mandat zu einem Lobbyisten-Job, häufen sich. Der jüngste Geschenkvorschlag von Robert Habeck, die Strompreise – die ohnehin gerade fallen – für die Industrie zu senken, zeigt die Richtung vor.

Das Schlimmste für unser demokratisches System ist aber, dass sich der Frust auf die Parteien vergrößert. Sowohl durch das Geschrei der Union als auch das Schönreden in der grünen Bubble.

Es ist übrigens ein immer stärker werdendes Stilmittel bei den Konzernlobbyisten, dass man sich nicht mehr versucht weißzuwaschen, sondern lieber die Alternativen oder insgesamt alle anderen zu diffamieren. Das funktioniert manchmal auch mit der Wahrheit.

Negative campaigning hinterlässt immer einen Makel. Und wer denkt, es seien sowieso alle Politiker gleich und keine guten Alternativen denkbar, kann man auch bei dem bleiben, was er oder sie kennt. Und ganz ehrlich – in der Politik brauchen wir auch keine blassgrünen Kopien des Kompetenzzentrums für Korruption, Vetternwirtschaft und Konzernlobbyismus.


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