Wie uns die Wallstreet unfreiwillig selbst die Finanzkrise erklärt
Das Verhalten der Analysten beim Börsengang von Facebook
Seit der Lehman-Pleite 2008 herrscht angeblich eine Weltfinanzkrise. An deren Erklärung versuchen sich Wirtschaftsredakteure, Nobelpreisträger und Soziologen, Feuilletonisten, Theologen und natürlich der heimische Küchentisch.
Selten konnte man das Verhalten in der Ökonomie, dessen Studium als Behavioral Economics Ansehen genießt, präziser beobachten als am Beispiel des Börsengangs von Facebook. Allerdings interessieren uns hier nicht die Aktien, sondern die Prognosen der Anleger und Wallstreet-Analysten. Exklusiv für Telepolis wurde deren Einschätzung seit dem Montag nach dem Börsengang, also seit dem 21. Mai 2012 aufgezeichnet.
Dass dies überhaupt möglich ist, verdanken wir einem Feature der Nasdaq, dem sogenannten "Community Sentiment", bei dem registrierte Nasdaq-User ihre eigene Prognose für Aktien veröffentlichen dürfen. Ist die Prognose positiv, erscheint ein grünes "bullish". Ein roter Bär dagegen warnt vor dem "bearishen" Sinken der Aktie.
Auf den ersten Blick können wir beruhigt feststellen, dass die Anzahl der Facebook-Bullen in nur einem Monat von 95 auf 70 Prozent gesunken ist. Das alleine aber wäre für verhaltensökonomische Studien wenig interessant.
Am 21.5., am Montag nach dem Börsengang, erwarteten 129 Aktienspezialisten ein Steigen der Aktie. Sie waren in guter Gesellschaft: Auch Investmentbanker, Broker und Analysten sahen mit dem Börsengang eine natürliche Voraussetzung für das Steigen der Aktie, lagen doch die meisten Aktien im Besitz von Mark Zuckerberg, seinem Management und seinen Finanziers, die es sozusagen selbst in der Hand hatten, den Markt zu kontrollieren. Die wenigen Aktien im Drittbesitz aber würden wohl kaum ausreichen, um im Verkaufsfall den Kurs zu drücken. Anders formuliert: Facebook galt als todsichere Aktie, zumal ihre Zukunftserwartung mit Google und Apple verglichen wurde, nicht mit Nokia und T-Com.
Die Hälfte der Wallstreet-Analysten sieht noch heute, also nach dem Verlust eines Drittels des Aktienwertes, Facebook als "Strong Buy". Nur etwa 10 Prozent empfehlen, die Aktie jetzt zu verkaufen.
Drei Erklärungen:
- Nur wir dummen, pessimistischen Europäer erkennen nicht, dass Facebook Inc. das, leider bisher völlig unterbewertete, Unternehmen der Zukunft ist.
- Jetzt, nach dem Verlust eine Drittels, kann es nur noch wieder bergauf gehen.
- Drittens: Wallstreet-Analysten und ihre Community-Sentiment-Schüler sind völlig ahnungslos.
Es ist nicht auszuschließen, dass Erklärung eins stimmt. Vielleicht kaufen ja Microsoft oder Apple Facebook auf. Vielleicht hat Facebook bereits die Mehrheit an Nokia erworben. Wir hier können nicht alles wissen - schon gar nicht, welche Megadeals im Hintergrund von Postfächern in Delaware laufen. Immerhin hat ja AOL einmal Time Warner gekauft.
Die chartistische Hoffnung, die Aktie könne sich deshalb erholen, weil sie gesunken ist, führt schnell zu Erklärung drei: Wenn nämlich der gesamte Sachverstand der Wallstreet-Analysten seinen Kunden nicht geraten hat, die Facebook-Aktie bei 38 Dollar zu verkaufen, um sie dann bei 23 zurückzukaufen, weil sie sich sowieso wieder erholt, dann ist dieser Sachverstand zumindest für die Kunden eine wirtschaftliche Gefahr. Die Analysten hätten nämlich im Dienste ihrer Kunden auch den umgekehrten Knick in der Kurve ansagen müssen.
Da sie dies nicht getan haben, ist ihre Hoffnung auf Erholung der direkte Weg in Antwort drei: Es gibt keinen Sachverstand an der Wallstreet. Die Zahl der Bullen in Bezug auf die Facebook-Aktie hat nämlich vom 21.5. bis zum 28.7. von 129 auf 175 zugenommen. Einfacher gesagt: Jeder dieser Bullen hat nur Verluste eingefahren. Und er rät uns, diese Flopaktie zu kaufen.
Wie aber erklärt uns die Wallstreet dadurch die Finanzkrise? Sechs Punkte zur Diskussion:
- Alarmsignale. Die Wallstreet kann keine Alarmsignale erkennen, weil sie immer "bullish" sein muss. Sie ist durch ihren Optimismus blind.
- Gleichgewicht. Die Wallstreet glaubt noch immer, Wirtschaft geschehe in zyklischen Bewegungen, die in ein natürliches Gleichgewicht münden.
- Community. Die Wallstreet-Analysten treffen Mehrheitseinschätzungen, die bereits deshalb falsch sein müssen, weil es ja dann zu wenig Verkäufer gäbe, durch die erst Geld mit Bullenprognosen verdient werden kann.
- Innerer Wert. Wenn die Facebook-Aktien nach Mehrheit der Analystenmeinung tatsächlich einen derart hohen inneren Wert hätte - warum gibt es dann keinen Run auf sie?
- Starke Marke. Dass Facebook eine weltweit bekannte Marke mit einer Milliarde User ist, zeigt uns, dass ganz offensichtlich Markenbekanntheit und Markenstärke nicht zu Werbekunden und Aktionären führen. Was können wir daraus für die Rettung von Großbanken mit weltweiter Bekanntheit und Millionen Kunden lernen?
- Chaos. Weder die Analysten noch sonst jemand weiß, warum eine Aktie, eine Währung oder eine Anleihe sinkt oder steigt. Wenn wir es nämlich wüssten - wie George Soros - würden wir versuchen, den Markt zu schlagen - und es würde gelingen!
Alle sechs Punkte finden sich als bewährte Elemente jeder Finanzkrise: fehlender Alarm zuallererst, dann Hoffnung auf Wiederherstellung des Gleichgewichts, gerne als kollektives Mantra, dann Beschwörung des inneren Wertes der "Realwirtschaft" und der starken Marke ("Morgan Stanley"), am Ende dann das ungeordnete Chaos mit Madoff, Asmussen und Griechenland.
Dürfen wir hoffen, dass zumindest für Finanzkrisen die Wallstreet der beste Lehrmeister ist?
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