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Wie viele Kinder wurden in Kolumbien mit solch einer deutschen Pistole ermordet?

Illegal nach Kolumbien exportiert: SP 2022, hier mit 9 mm Luger-Munition. Bild: Augustas Didžgalvis, CC BY-SA 3.0

Polizei schlägt Proteste in dem südamerikanischen Land oft gewaltsam nieder, Menschenrechtslage ist fatal. Sig Sauer lieferte dennoch illegal Pistolen in das Konfliktland – und muss nun dafür zahlen

Sieben Jahre bis zur Genugtuung: Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat unlängst entschieden, dass der deutsche Waffenfabrikant Sig Sauer wegen illegaler Waffenverkäufe in das Konfliktland Kolumbien zahlen muss. Und zwar 11,1 Millionen Euro – die höchste Summe, zu der ein Kleinwaffenhersteller hierzulande je verurteilt wurde.

2014 brachte das Bündnis "Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel" mit einer Strafanzeige den Stein ins Rollen. Bereits im April 2019 verurteilte das Landgericht Kiel drei Manager des Unternehmens aus dem schleswig-holsteinischen Eckernförde zu Geld- und Bewährungsstrafen. Die Staatsanwaltschaft ordnete zudem eine sogenannte Gewinnabschöpfung an, also die Einziehung des Geldes, das Sig Sauer durch die illegalen Waffenexporte eingestrichen hatte.

Der Trick war simpel: Sig Sauers US-Tochterfirma importierte 47.000 Pistolen in die Vereinigten Staaten, die auch als Zielland in der Endverbleibserklärung angegeben wurden. Etwa 38.000 Kleinwaffen schickte man dann rechtswidrig nach Kolumbien. Rechtswidrig, weil der Export in die USA genehmigt war, für das Krisenland Kolumbien jedoch keine Erlaubnis vorlag. Das war ein klarer Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz.

"Sig Sauer sah die eskalierende Gewalt in Kolumbien. Dennoch wollten sie möglichst viele Waffen dorthin exportieren", sagt Ralf Willinger vom Kinderhilfswerk "terre des hommes" gegenüber Telepolis.

Eine Melange an Problemen

Mittlerweile hat der deutsche Waffenhersteller seine gesamte Produktion in die USA verlagert. Die Vermutung liegt nahe, dass sich Sig Sauer damit einer stärkeren Kontrolle ihrer Rüstungsexporte entziehen will. Laut NDR "rückten noch im selben Monat am Standort Eckernförde Polizei, Staatsanwaltschaft und Zoll an". Die Gewinne fließen aber dennoch weiter in die deutsche Holding ("L & O Holding" mit Sitz in Emsdetten).

Im konfliktgeplagten Kolumbien hingegen halten die Proteste an. Die Organisation "Indepaz" aus der Hauptstadt Bogotá listet die Opfer durch staatliche Gewalt akribisch auf [1]. 74 getötete Demonstrierende sind es laut aktuellen Zahlen.

Zahlreiche Verschwundene werden zudem beklagt. Handyvideos zeigen bürgerkriegsartige Szenen, Polizist:innen, die wild in die Menge schießen, junge Protestler durch die Straßen jagen. Viele dieser verwackelten Aufnahmen sind schwer zu verifizieren. Insgesamt hält der Widerstand - mit Unterbrechungen - knapp zwei Jahre an.

Bereits am 21. November 2019, dem ersten Tag des "Paro Nacional" (Generalstreiks), gab es drei Tote. Es ist die größte Protestwelle in der Geschichte Kolumbiens. Mehr als 200.000 Menschen (laut Behörden) bis über eine Million (laut Organisator:innen) begannen damals, ihrem Unmut über die Regierung des Konservativen Iván Duque [2] Ausdruck zu verleihen.

Die Kritik wurzelt in einer Melange an Problemen: Korruption, massive Gewalt gegen Umwelt- und Sozialaktivist:innen sowie Indigene, extreme soziale Ungleichheit, eine schwierige ökonomische Lage - dazu die Pandemie als Brandbeschleuniger. Auch die neoliberale Politik des Präsidenten Duque stößt bei vielen Kolumbianer:innen auf Gegenwehr.

Zu Beginn dieses Jahres plante er eine Steuerreform, die eine höhere Steuerlast für geringe und mittlere Einkommen sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorsah. Damit wollte Duque das Defizit im Staatshaushalt ausgleichen, das durch die Pandemie größer geworden war. Kolumbien sollte so vor einer Abstufung der Ratingagenturen geschützt werden. Mittlerweile ist die Reform gekippt, der Finanzminister Alberto Carasquilla trat zurück.

Zufrieden ist das Volk damit noch lange nicht. Die Regierung bedient sich zur Legitimierung der Gewalt gebetsmühlenartig des Narrativs, die Streikenden seien "Terroristen".

Ermordete Kinder, fehlende Kontrollen

Es ist wahrscheinlich, jedoch nicht eindeutig belegbar, dass unbewaffnete und zumeist friedliche Protestierende in Kolumbien durch deutsche Sig Sauer-Pistolen getötet wurden. Fakt ist: Polizei- und Militäreinheiten wurden mit den Rüstungsgütern ausgestattet. Allerdings gerieten die Kleinwaffen auch in die Hände von Paramilitärs und der organisierten Kriminalität.

Willinger von terre des hommes überrascht das nicht: "Dem Unternehmen ist offenbar egal, wie die Waffen dort eingesetzt werden." Bereits durch minimalste Endverbleibskontrollen der Bundesregierung wären solche illegalen Exporte nicht möglich - etwa das regelmäßige Nachfragen, ob sich die gelieferten Waffen noch am Bestimmungsort befinden, so der Kinderrechtsexperte. "Jede Pommesbude wird hierzulande besser kontrolliert als die Empfänger von Rüstungsgütern."

Terre des hommes konnte zudem Fälle dokumentieren, "in denen Sig Sauer-Pistolen von den kolumbianischen Streitkräften bei der Ermordung von Kindern [3] benutzt worden sind". So der Wortlaut einer 2020 erschienen Studie der Organisation. Die NGO beauftragte dafür einen Journalisten in Kolumbien.

Doch auch die USA versorgt die autoritäre Regierung in Kolumbien mit dem nötigen Equipment, um repressiv gegen Streikende vorzugehen. Amnesty International kritisiert das scharf [4]. Systematische Menschenrechtsverletzungen werden dabei offenbar in Kauf genommen - so wie hierzulande auch. Die Menschenrechtler:innen haben nach eigenen Angaben die Benutzung von "Hochleistungs-Granatenwerfern, hergestellt von der US-amerikanischen Firma Combined Systems" verifiziert.

"Wir werden dich töten, wir werden dich verschwinden lassen"

Cristian Torres hat die willkürliche Gewalt der Polizei am eigenen Leib erfahren. Aber nicht die der normalen Polizei. In Kolumbien wird die ESMAD (Escuadrón Móvil Antidisturbios) von den Demonstrierenden für den Löwenanteil an Toten verantwortlich gemacht. Diese gefürchtete Sondereinheit soll auch für sexuelle Übergriffe gegen Demonstrantinnen [5], das Verschwindenlassen von Protestierenden sowie unrechtmäßige Festnahmen schuldtragend sein.

Am Telefon erzählt Torres von den Geschehnissen des 16. Mai dieses Jahres. Er sei mit seinem Cousin auf einer Mini-Demo in Bogotá gewesen – Jung und Alt, ein friedliches Zusammenkommen, alles ruhig. Knapp 200 Menschen vor Ort. Dann hätten Unbekannte unter einer Statue Feuer gelegt.

Die Stimmung kippte. Sein Cousin sagte noch zu ihm, bald könnte es ungemütlich werden, es sei besser, sich aus dem Staub zu machen. Innerhalb von zehn Minuten seien Einheiten der Esmad eingetroffen, Panik brach aus, Schüsse waren zu hören. Die beiden hätten versucht zu fliehen, Torres verlor seinen Cousin aus den Augen. Schließlich habe die Polizei ihn eingeholt.

"Sie schlugen mehrmals hart zu, auch in den Genitalbereich", erzählt der 27-Jährige. Widerstand habe er jedoch nie geleistet - und auch sonst nichts Verbotenes gemacht an jenem Abend. "Immer wieder haben sie mir gesagt: ‚Wir werden dich töten, wir werden dich verschwinden lassen.‘" Später hätten sie dann sein Telefon einkassiert und ihn gehen lassen.

Aktivisten kämpfen weiter

Solche Berichte gibt es aus dem südamerikanischen Staat zuhauf. Gewalt scheint mittlerweile Teil der DNA Kolumbiens geworden zu sein. Über 50 Jahre bewaffneter Konflikt mit linken Guerillagruppen, rechten Paramilitärs und Streitkräften - das alles hat sich in die Gesellschaft eingekerbt.

Präsident Iván Duque ist Fan militärischer Lösungen. Bereits am ersten Tag der Proteste (21. November 2019) schickte er 170.000 Polizist:innen auf die Straße. Das Suchen des Dialogs, der Schlichtung: Fehlanzeige. Damit steht Duque ganz in der Tradition seines rechtsgerichteten Vorgängers Álvaro Uribe.

Letzterer half dem amtierenden Präsidenten ganz entscheidend dabei [6], die Wahl zu gewinnen. Spiegel-Korrespondent Jens Glüsing schreibt gar [7]: "Ohne die Hilfe Uribes wäre Duque vermutlich nicht zum Präsidenten gewählt worden." Im April 2020 stellte das Bündnis Aktion Aufschrei erneut Strafanzeige.

Sig Sauer soll auch nach den 2014 aufgenommenen Ermittlungen noch Waffen nach Kolumbien geliefert haben – ebenso ins krisengeplagte Mexiko und nach Nicaragua. Die Kieler Staatsanwaltschaft prüft die Vorwürfe derzeit.

Der SWR konnte Dokumente des US-Handelsministeriums einsehen. Besonders pikant dabei: Sig Sauer USA Inc. soll auch nach dem Urteilsspruch im April 2019 rund 10.000 Kleinwaffen nach Kolumbien exportiert haben. Sollten sich die Vorwürfe vor Gericht als erwiesen bestätigen, kämen die Führungskräfte von Sig Sauer nicht mehr mit Bewährungs- und Geldstrafen davon.


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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.indepaz.org.co/victimas-de-violencia-homicida-en-el-marco-del-paro-nacional/
[2] https://www.dw.com/en/colombia-anti-government-protesters-clash-with-police/a-51360862
[3] https://www.tdh.de/fileadmin/user_upload/inhalte/04_Was_wir_tun/Themen/Weitere_Themen/Kleinwaffen/Final_Kleinwaffen_in_kleinen_Haenden_Brot_fuer_die_Welt_terre_des_hommes_Bits_FINAL_20Nov20.pdf
[4] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/05/estados-unidos-armas-usadas-para-reprimir-protestas-colombia/
[5] https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-57579537
[6] https://www.bbc.com/mundo/noticias-america-latina-49147214
[7] https://www.spiegel.de/ausland/kolumbien-die-polizei-schiesst-jugendliche-demonstranten-zusammen-a-7df518b1-8dd4-49be-8e1d-ab4b6622b483