Wie wirklichkeitsfremd darf Kulturpolitik eigentlich noch sein?
Seite 2: IV. Was tun? Für einen NEUSTART KONZERTE - Draußen / Drinnen!
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- IV. Was tun? Für einen NEUSTART KONZERTE - Draußen / Drinnen!
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Was also tun?
Zum Erhalt der unabhängigen Zeitkultur sind effektive Soforthilfen nötig:
• Wirksame und umfassende Hilfen zur Existenzsicherung von Clubs, Venues und soziokulturellen Zentren - dazu gehört essentiell auch ein Gesetz, das diesen Gewerbemietern erlaubt, ihre Nettomieten und Pachten für die Dauer der Zwangsschließungen um mindestens 60 Prozent zu reduzieren!
• Umfassende Hilfen für örtliche Konzertveranstalter und Tourneeveranstalter
• Ein prinzipielles "Kultur-Existenzgeld" - eine Art Arbeitslosenversicherung für selbständige Kulturschaffende und Kulturarbeiter*innen, also für die Hunderttausenden Solo-Selbständigen im Kulturbereich, die unverschuldet in Not geraten sind und um ihre Existenz kämpfen.10
Bei all diesen Maßnahmen sollte im Mittelpunkt stehen, die fragile Infrastruktur der Zeitkultur langfristig zu retten. Nur wenn die lebendige Szene aus Venues, Veranstalter*innen und Kulturarbeiter*innen erhalten bleibt, nur wenn also eine Art Humus der Zeitkultur gerettet werden kann, können Musiker*innen und Bands langfristig ihre Tätigkeit ausüben, Musik machen und die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft sichern.
Es muss aber auch darum gehen, der Konzertszene im Bereich der Zeitkultur einen sinnvollen Wiedereinstieg zu ermöglichen. Die Konzert- und Clubszene liegt auf Eis, sie ist in einen Corona-Tiefschlaf versetzt. Wer küsst sie wach?
Es geht hier keinesfalls darum, populistische Forderungen in die Welt zu setzen. Es ist problematisch, wenn Großveranstalter aktuell fordern, dass in absehbarer Zeit wieder Live-Musik mit vollen Kapazitäten stattfinden müsse, "weil die Sehnsucht von Fans und Künstlern sich auf Dauer nicht unterdrücken lässt". Mit egoistischen und unbedachten Schnellschüssen ist weder den Musiker*innen, noch den Kulturarbeiter*innen, noch den Veranstalter*innen und Venues geholfen.
Die Erinnerung an die Situation im März diesen Jahres sollte eigentlich noch frisch sein: Zu einem Zeitpunkt, da in ganz Europa das öffentliche Leben in einen Ruhezustand versetzt wurde, durften in Großbritannien weiter ungehindert Großveranstaltungen stattfinden: Fußball- und Rugbyspiele, das Pferderennen Cheltenham mit 250.000 Zuschauern, aber auch Tourneen wie die der Stereophonics mit großen Hallenkonzerten in London, Glasgow und Cardiff.
Wir alle kennen das Resultat der unverantwortlichen Politik Boris Johnsons: Großbritannien hat eine der höchsten Zahlen von Covid-19-Infektionen in ganz Europa und die höchste Zahl von Todesfällen bzw. die zweithöchste Zahl von Toten pro Einwohnern in Europa. Oder, ein aktuelles Beispiel: Noch vor wenigen Tagen gab es in Tschechien bei Besuchen etwa in der Oper keine Restriktionen, jeder Platz wurde besetzt, das Maskentragen praktisch nicht kontrolliert. Am 1.10. mußte die tschechische Regierung den Ausnahmezustand ausrufen…
Nein, es gilt weiterhin und angesichts auch hierzulande steigender Infektionszahlen Vorsicht, Vernunft und Eigenverantwortung walten zu lassen. Und ehrlich gesagt bin ich ziemlich stolz auf meine Branche, auf all die Veranstalter*innen, Clubs, Venues und soziokulturellen Zentren, die mit Beginn der Pandemie immenses Verantwortungsbewusstsein gezeigt und die notwendigen Schließungen mitgetragen haben.
Hier zeigt sich, dass Konzert- und Clubszene verantwortungsvoll handeln und die Sicherheit und Gesundheit der Menschen, für die sie Konzerte und Clubabende organisieren, über alles andere stellen. Umso wichtiger ist es, dass dieser Szene, die unverschuldet in Not geraten und seit mehr als einem halben Jahr zur Untätigkeit gezwungen ist, nicht nur wirtschaftlich geholfen, sondern ihr auch eine klare "Neustart Konzert"-Perspektive aufgezeigt wird.
Natürlich sind die gewohnten Tanzevents einstweilen aus Vernunftgründen nur schwer vorstellbar, und Rock- oder HipHop-Konzerte mit Menschen, die eng an eng in vollen Clubs ausgelassen tanzen und verschwitzt die Acts feiern, wird es wohl so bald noch nicht wieder geben. Konzerte als Veranstaltungen mit "sozialer Distanz" funktionieren vornehmlich im Klassikbereich, wo die Distanz der Darreichungsform ja förmlich eingeschrieben ist.
Aber auch im Bereich der Zeitkultur sind längst etliche Konzerte wieder denkbar: Auch in der Popkultur gibt es viele Arten von Musik, für die Konzerte mit Bestuhlung und Mund-Nasen-Bedeckung durchgeführt werden könnten. Und es gibt etliche Venues, soziokulturelle Zentren und, ja, sogar Clubs, bei denen die Bedingungen für einen #NeustartKonzerte günstig sind, die also zum Beispiel über moderne und effektive Belüftungsanlagen und pandemiegerechte Schutzvorrichtungen (etwa im Eingangs- oder Sanitärbereich) verfügen; hier hat das Regierungsprogramm als Teil von "Neustart Kultur" ja durchaus bereits gute Ergebnisse gezeigt, die relativ geringen für Venues und Clubs zur Verfügung stehenden Mittel (25 Mio. Euro) waren allerdings binnen kürzester Zeit aufgebraucht, eine Aufstockung ist dringend geboten.
Eine flächendeckende Ausstattung aller Venues und Clubs mit modernen Klima- und Belüftungssystemen ist das Gebot der Stunde. Hier sollten auch Maßnahmen zur Desinfektion der Luft mit ultraviolettem Licht zum Zuge kommen. Wir wissen, dass es in Innenräumen nicht ausreicht, einen möglichst großen Abstand zu anderen Menschen zu halten, weil dies zwar das Risiko von Tröpfcheninfektionen senkt, nicht aber vollständig vor den Aerosolen in der Raumluft schützt. Zusätzlich zu modernen Belüftungsanlagen kann hochenergetisches ultraviolettes Licht hilfreich sein, das Bakterien und Viren abtötet.11
Detaillierte und von den Behörden abgenommene Hygiene- und Schutzkonzepte sind für Konzertveranstalter*innen und Club- und Venue-Betreiber*innen selbstverständlich. Und die korrekte Erfassung der Kontaktdaten aller Gäste ist bei Clubs und Venues weitaus effektiver garantiert als bei Bars, Restaurants, Kirchen oder privaten Feiern wie Hochzeiten.
Personalisierte Tickets sind im Konzertbereich sowieso kein Problem, und was Mund-Nasen-Bedeckung angeht, kann bei Konzerten durch das Securitypersonal allemal eine bessere Kontrolle garantiert werden als zum Beispiel beim ÖPNV, wo derartige Kontrollen aktuell ja kaum stattfinden und sich die Deutsche Bahn sogar weigert, ihr Personal entsprechend kontrollieren zu lassen.
Verordnungen, dass nur die sogenannten OP-Masken und vor allem die FFP2-Masken akzeptiert werden, nicht aber irgendwelche vors Gesicht gebundenen Schals oder Tücher, sollte die öffentliche Hand ohnedies längst schon verabschiedet haben. Und wollen wir wetten, dass das Publikum von Pop-Konzerten eine Maskenpflicht akzeptieren wird, wenn diese dazu führt, dass Konzerte überhaupt wieder stattfinden können?
Natürlich, bei einem "Neustart Konzerte" bleibt ein gewichtiges Problem: Mit den durch einen notwendigen Mindestabstand bedingten deutlich verringerten Zuschauerzahlen ist ein wirtschaftlich vertretbares Abwickeln von Konzerten nicht möglich. Sowieso sind Venue- und vor allem kleinere Clubkonzerte extrem knapp kalkuliert, Veranstalterlegende Karsten Jahnke hat mal gesagt, dass es nicht die Frage sei, ob man mit Clubkonzerten Geld verliere, sondern nur wieviel. Hier wird ein neuartiger Zuschussfonds der öffentlichen Hand notwendig sein, mit dem das Defizit von Konzerten mit geringeren Besucherzahlen während der Pandemie gedeckt wird.
Ein derartiger Fonds hätte gegenüber pauschalen Hilfszahlungen an Musiker*innen, Veranstalter*innen, Kulturarbeiter*innen und Club- und Venuebetreiber*innen einen unbestreitbaren Vorteil: Es würde Musik finanziert werden, nicht Leerstand und Stille. Musiker*innen würden Gagen und die meist soloselbständigen Kulturarbeiter*innen Honorare erhalten, Venuebetreiber*innen und Veranstalter*innen könnten endlich wieder eigene Einnahmen erzielen und Konzertangebote machen - und die Zuschüsse zur Finanzierung von Verlusten, die aus der Durchführung von Konzerten entstehen, wären allemal geringer, als wenn Untätigkeit und Leerstand subventioniert werden. "Neustart Konzerte": Handeln finanzieren statt Nichtstun und Stillstand!
Vor allem würde ein derartiges, vorsichtig Schritt für Schritt entwickeltes und kontinuierlich immer wieder überprüftes "Neustart Konzerte"-Programm auch das verhängnisvolle Signal beseitigen, wonach Popkonzerte und Club- und Venuebesuche hochgefährliche Unternehmungen seien. Wie wollen die politisch Verantwortlichen rechtfertigen, dass im Klassikbereich 500 bis 1.000 Zuschauer*innen zugelassen werden, in ebenso geeigneten Venues der Zeitkultur aber nur 200 bis 300, wenn überhaupt?
Warum dürfen in der bayerischen Staatsoper 500 Menschen Aufführungen genießen, in der Münchner Muffathalle aber nur 200? Und wenn man beispielsweise aus der Berliner Philharmonie, in der etwa ein Viertel der Plätze besetzt werden dürfen und wo man persönlich auf die wenigen Plätze geleitet wird, während die Garderoben und die Gastronomie geschlossen bleiben, wenn man also aus der Philharmonie mit dem BVG-Bus nach Hause fährt, wird die Maskenpflicht im ÖPNV nicht kontrolliert, und man sieht aus dem Fenster etliche Kneipen und Restaurants, in denen die Corona-Auflagen systematisch ignoriert werden.
In Fußballstadien werden wieder Tausende Zuschauer*innen zugelassen, Theater- und Opernbesuche sind möglich, und in Bayern werden Wirtshausfeste, bei denen Blasmusik aufspielt, mit 1.000 enthemmten, das Saufen und Feiern zelebrierenden Menschen genehmigt - aber die Popkultur soll gefährlich sein? Angst essen Säle auf?
Die bayerische Landesregierung hat die Losung "professionell vor privat" ausgegeben: Dort, wo es professionelle Veranstalter und Ansprechpartner gibt, seien es Kulturmanager oder Wirte, sind demnach die Voraussetzungen zur Pandemiebekämpfung wesentlich besser als im privaten, sozusagen unkontrollierten Bereich. Daraus sind Schlüsse zu ziehen, nicht nur für eine vorsichtige und schrittweise, aber dringend nötige Wiedereröffnung von Clubs und Venues, sondern durchaus auch für Tanzveranstaltungen unter freiem Himmel. Natürlich, "Partypeople" in Berliner Parks oder auf dem Frankfurter Opernplatz haben ein schlechtes Image, und das durchaus zurecht: Wenn Hunderte junger Menschen bar jeglicher Corona-Sicherheitsmaßnahmen, also ohne an "AHA" auch nur zu denken, wild feiern, ist das nicht nur irrsinnig und rücksichtslos gegenüber den Mitmenschen, sondern es beweist auch mangelndes Verantwortungsgefühl und Sozialverhalten.
Andrerseits: "Der Versuch, die steigenden diffusen Ansteckungszahlen bestimmten Alterskohorten oder gesellschaftlichen Bereichen allein zuzuschieben, hilft uns nicht weiter", so der Berliner Kultursenator Klaus Lederer. Junge Menschen werden feierwillig bleiben, sie werden weiter nach dem Gemeinschaftsgefühl unter einem Groove suchen, und ehrlich gesagt: ich finde das durchaus verständlich. Warum also nicht Angebote machen?
Gerade die zur Verfügung stehenden Tests bieten doch neue Möglichkeiten, in Pandemie-Zeiten auch jungen Menschen Tanzveranstaltungen beispielsweise unter freiem Himmel, aber mit Verantwortung anzubieten. Wie wäre es, wenn man die Club-Betreiber*innen einladen würde, derartige Events in öffentlichen Parks oder auf öffentlichen Plätzen zu organisieren?
Mit geringem Eintritt, guten DJs, mit gescannten persönlichen Details und von kompetentem Securitypersonal kontrollierten AHA-Kriterien, also Abstand zu den anderen und Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen. Mit derartigen Angeboten, die von der öffentlichen Hand mit relativ geringen Mitteln zu subventionieren wären, könnte man etliche unkontrollierte private Feiern verhindern und gleichzeitig den mehr oder minder zum Nichtstun verurteilten Club-Betreiber*innen und Kulturarbeiter*innen wenigstens zu kleinen Tätigkeiten verhelfen. Denn, nochmal Klaus Lederer: "Was nicht funktioniert, ist, alles, was Spaß macht, zu verbieten." Das bestehende Corona-Klima, das "Folgsamkeit zur eigenen Sicherheit" (Katja Maurer) propagiert, statt verantwortliches Mitdenken und solidarische Handlungsweisen zu fördern, ist gesellschaftlich verhängnisvoll und sollte überwunden werden.
Mit einem derartigen konkreten Förderprogramm NEUSTART KONZERTE: DRAUSSEN / DRINNEN könnte für alle Beteiligten, von Musiker*innen über Kulturarbeiter*innen und Veranstalter*innen bis hin zu den Fans, endlich ein Fünkchen Hoffnung am Ende des Tunnels bestehen, eine Möglichkeit, die "Bewusstlosigkeit der Beteiligten" (Engels) zu durchbrechen.
Wenn man die Tunnel-Metapher aufgreifen möchte: Vielleicht erleben wir eine Situation wie in Friedrich Dürrenmatts gleichnamiger Erzählung - wir erwarten einen kurzen Tunnel und bald schon das Licht am Ende desselben, "jede Sekunde musste sich ja in der Scheibe der erste fahle Schimmer des Tages zeigen, sich blitzschnell ausweiten und mit voller, goldener Helle gewaltig hereinbrechen"; doch der Tunnel wird möglicherweise nicht enden, und es kann sein, dass der Zug mit ungeheurer Geschwindigkeit immer weiter in den Tunnel hineinrast. Dürrenmatts Erzählung endet mit der Frage "Was sollen wir tun?" Die Antwort: "Nichts."
Derzeit gehen wir ja davon aus, dass die Corona-Krise irgendwie durchzustehen sei und danach alles wieder so werde, wie es vor der Krise war. "Das Leben, wie wir es kannten, wird wieder zurückkehren", sagte Kanzlerin Merkel gerade im Bundestag. Ich fürchte, das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Die weltweiten Pandemien - ob Covid-19, SARS, MERS, Zika-Virus oder die "Vogelgrippe" - häufen sich, breiten sich global aus und kommen in immer kürzeren Abständen über uns.
Solange das Modell der weltmarktorientierten Landwirtschaft vorherrscht, also das globale Agrobusiness, solange wir weltweit schwindende Biodiversität, Landübernutzung und Massentierhaltung erleben, solange die ökologische Krise und der Raubbau an der Natur ebenso wenig gestoppt werden wie Ungleichheit und Armut, solange wir also an unserer imperialen Lebensweise festhalten, werden wir regelmäßig und in immer kürzeren Abständen mit tödlichen Pandemien konfrontiert werden.12
Pandemien sind in der heutigen globalen Wirtschaft mit den Kapitalkreisläufen verbunden, die die Umweltbedingungen verändern, globale Warenketten gelten als Treiber von Pandemien.13 Das gleißende Licht, das wir voller Hoffnung am Ende des Tunnels zu sehen meinen, entpuppt sich vielleicht eher als eine Art Hochgeschwindigkeitszug, der ungehemmt auf uns zurast - gut möglich, dass wir uns noch nach dem idyllischen Dunkel des Tunnels zurücksehnen…