Wieder einmal "Fachkräftemangel": ChatGPT wird ideologisch
Was eine intelligente Maschine zum Fachkräftemangel zusammenträgt, verdient eine marxistische Kritik.
ChatGPT, ein vielbeachteter Bot von Künstlicher Intelligenz (KI), nimmt zum vielbeklagten Fachkräftemangel (etwas gekürzt) folgendermaßen Stellung:
"Der Fachkräftemangel in Deutschland ist eine Folge von demografischen Veränderungen, wie der Alterung der Bevölkerung und der sinkenden Geburtenrate, und dem wirtschaftlichen Wachstum, das zu einer höheren Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften führt. Zudem erschweren ein Mangel an Ausbildungsplätzen und eine unzureichende Anpassung der Bildungssysteme den Zugang zu Fachkräften. Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, könnten folgende Maßnahmen ergriffen werden:
- Investitionen in die berufliche Bildung und Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen
- Anpassung der Bildungssysteme an die Bedürfnisse der Wirtschaft
- Förderung der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland
- Erhöhung der Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer durch Anreize und Anhebung des Rentenalters
- Flexibilität durch angepasste Arbeitszeiten und -bedingungen, um berufliche und familiäre Verpflichtungen zu vereinbaren
- Attraktiveres Arbeitsumfeld und bessere Entlohnung
- Flexibilisierung des Arbeitsrechts und Vermeidung von Überregulierung
- Steigerung der Geburtenrate durch Familienfreundlichkeit"
Auf "Objektivität" programmiert
Diese maschinelle Stellungnahme dürfte als Gliederung einer Erörterung im Fach Deutsch problemlos hinreichen. Sogar für einen Hintergrundartikel im Berufsjournalismus ließe sie sich schnell zu einer Recherche erweitern. Etwa dazu, wo solche Dienstleistungen passend zum Thema einem möglichen Personalmangel beziehungsweise den Kosten seiner Behebung entgegenwirken könnten. Die Ausführungen des Bots werden nicht dadurch getrübt, dass ihre Datenbasis nur bis September 2021 reicht und daher die aktuelle mediale Aufregung über den vermeintlichen Missstand noch nicht aufgegriffen wurde.
Denn die regelmäßig und bevorzugt nach Wirtschaftskrisen publizierten Klagen über ein "Mismatch auf den Arbeitsmarkt" liefern digitalen Niederschlag genug. Bemerkenswert ist auch die "Selbstauskunft", die ChatGPT seinem Statement nachschiebt: "Als KI, die von OpenAI trainiert wurde, bin ich neutral und habe keine eigenen Vorlieben oder Meinungen. Meine Aufgabe besteht darin, präzise und objektive Informationen zu liefern und zu beantworten, was ich gefragt werde."
Wir erleben hier also – um dem Folgenden etwas vorzugreifen – ein Phänomen, das der alte Marx sich unmöglich vorstellen konnte, als er meinte, die herrschenden Ideen seien stets nur die Ideen der Herrschenden. Offenbar hat die Entwicklung der Produktivkräfte heute sogar eine Maschine in die Lage versetzt, verbreitete und einhellige Überzeugungen der zweibeinigen Meinungsbildner nachzuplappern und als "neutrale" und "objektive Information" zu präsentieren.
Dass diese "Objektivität" nur eine ist, die aus maßgeblichen Interessen hervorgeht, ist jetzt zu zeigen.
Arbeitsmarkt: Nachfrage schafft Angebot
Das beginnt mit der zitierten Behauptung, der Fachkräftemangel auf dem Arbeitsmarkt resultiere aus einem Missverhältnis zwischen der Demografie als auf der Angebotsseite und einem Wirtschaftswachstum, das getrennt davon nachfragebestimmend sei. Das Wesen dieses seltsamen Marktes trifft das nicht, denn dessen Besonderheit besteht darin, dass seine beiden Seiten, die nachgefragte wie die angebotene Arbeitskraft, den Sachzwängen der kapitalistischen Konkurrenz unterliegen.
Es ist nur eine marktwirtschaftlich interessierte Einbildung, dass zwischen Geburtenrate oder Altersstruktur und dem Bedarf an menschlichen Ressourcen des Wachstums eine Passung bestehen sollte.
Auch deckt das Kapital seinen Personalbedarf nicht einfach aus einer naturwüchsigen Bevölkerung, schon gleich nicht mittels geschäftsschädigender Kosten – beispielsweise für die Vorhaltung, Qualifikation und Versorgung personeller Reserven. Die würden rein hypothetisch in Gestalt von Landsleuten ohne Erwerbseinkommen oder von Fremden, die Elend und Krieg entflohen sind, in genügender Anzahl herumlaufen.
Vielmehr bevölkert die erfolgreiche Akkumulation selbst das Angebot am Arbeitsmarkt, das sie dort nachfragt. So sehr, dass dieses wegen der Einsparung von bezahlter Arbeit durch Kapitalproduktivität systemgemäß – nämlich in der Existenz von Arbeitslosen – meist als Überangebot vorliegt, das seinerseits die Lohnkosten senken hilft. Diese kapitalistische Selbstbedienung geht nicht ohne Widersprüche und Friktionen ab, die dann als Fachkräftemangel beklagt werden.
Hinter der Klage steckt aber die harte Wahrheit, dass sie keinen demografischen Fakten entstammt, sondern dem unternehmerischen Interesse, einen Zustand zu pflegen oder herzustellen, indem ein ausnutzbares Arbeitsvermögen preiswert und im Übermaß zur Verfügung steht. Dieses Interesse bedient sich daher auch des Zugriffs auf ausländische Bevölkerungen.
Dazu braucht es zwar staatliche Lizenz und Betreuung (wie alles unternehmerische Streben), die ökonomische Grundlage sind aber erneut in Konkurrenzerfolge, die im Fall der Euro-Macht Deutschland bis 2020 zum Beispiel einen Zustrom von 1,3 Millionen arbeitssuchendem Osteuropäern herbeiführten. Wobei die Gesamtquote der hier beschäftigten ausländischen Staatsbürger fast 13 Prozent beträgt.
Die Zahl der Beschäftigten, die von bundesdeutschen Unternehmen entlassen bzw. in ihrer Qualifikation überflüssig gemacht werden – oder die von sich aus kündigen, weil sie eine solche Entwicklung antizipieren oder ihrem bisherigen Lohnniveau entkommen wollen, liegt zwischen 3,5 und 4,5 Millionen pro Jahr. Vor allem aus diesem Reservoir bedient sich die Nachfrage nach Arbeits- und Fachkräften.
Die bitterere Ironie dabei: Auch von dem Anteil, dessen Arbeitsvermögen gerade durch profitablere Produktionsmethoden entwertet wurde, wird erwartet, dass er die nötigen Qualifikationen für die modernisierten Beschäftigungsverhältnisse aufweist. Daraus, dass die Betroffenen das nicht tun, wie ihre Entlassung ja dokumentiert, mag ein Reibungsverlust im Geschäftsgang hervorgehen.
Im Gegenzug zwingt der Arbeitsmarkt, wieder als Folge seiner Beherrschung durch das Kapital, den Arbeitssuchenden die Notwendigkeit auf, Beschäftigungschancen in Eigenregie an sich herzustellen bzw. sich mit Löhnen abzufinden, die die entwertete Qualifikation noch hergibt.
Staatsauftrag: Marktwirtschaft nach Plan
Dass die Berufseignung also oft nur in der Bereitschaft besteht, einen schlecht bezahlten Job längerfristig auszuhalten, zeigen die folgenden "Top Ten der Berufe mit dem größten Fachkräftemangel": "Sozialarbeit, Kinderbetreuung, Altenpflege, Bauelektrik, Gesundheitswesen, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik, Informatik, Physiotherapie, Kfz-Technik, Lkw-Fahrer".
Mindestens die Hälfte dieser Tätigkeiten, zu denen noch das Gastgewerbe kommt, wird im niedrigen Lohnsektor entgolten. Die durchschnittliche Verweildauer im Pflegebereich liegt zwischen acht und zwölf Jahren. Den Mangel an Personal, den die Arbeitgeber in solchen Berufen verzeichnen, haben sie also durch die Praxis ihrer Ausbeutung erneut selbst herbeigeführt.
Überdies sind Jobs im Dienstleistungssektor und auch anderswo, die Pandemie hat es gezeigt, auch schnell von Entlassungen betroffen, wenn Krisenfolgen abgewälzt werden sollen, was viele Arbeitnehmer zu einer beruflichen Umorientierung nötigt. Das wiederum, kaum zeigt sich etwas Aufschwung, führt zu lauten Beschwerden in der Gastronomie, an Flughäfen oder am Bau, weil es zeitweilig an Personal fehlt.
Auch dass die staatliche Ausbildung der jungen Berufsanwärter oft einem "Schweinezyklus" folgt, sorgt – was öffentlich mehr zählt als deren Schaden – für bleibende Unzufriedenheit bei privaten und auch öffentlichen Arbeitgebern, ist aber eine der unvermeidlichen Weisen, wie sich eine Konkurrenzgesellschaft mit Personal versorgt.
Dabei stehen sich die kapitalistischen Konkurrenten auch im Wege, wenn zum Beispiel eine Sonderkonjunktur in einem Sektor Arbeitskräfte anzieht und diesen sogar eine Lohnerhöhung beschert.
Wenn die Fraktion der Immobilienbesitzer in Ballungsräumen Mieten verlangt, die mit Löhnen, die dort von der produzierenden Fraktion gezahlt werden, nicht mehr erschwinglich sind.
Wenn in Tschechien Arbeitsplätze entstehen und daher nicht mehr ausreichend billige Kellner über die Grenze der bayerischen Hotellerie zuströmen.
Oder wenn die Schweizer Kapitalisten den deutschen die Ingenieure abwerben.
All das ist kein Geheimnis, reicht aber offenbar nicht, um der Deutung von Lebenserwartung und Geburtenraten als außerordentliche Gründe für ein "Mismatch" den Boden zu entziehen.
Generell zeugt es vom schädlichen Aberwitz der Marktwirtschaft, dass sie die Produktion und die Dienstleistungen beständig und erratisch umwälzt, entsprechend heuert und feuert und sich schon vor und dann in den regelmäßigen Krisen selber in die Quere kommt – dabei aber Ansprüche anmeldet, als herrsche eine Art Planwirtschaft.
Ihren Anspruch auf quantitativ und qualitativ brauchbares Arbeitsvermögen lösen die Arbeitgeber, wie gesehen, freilich nicht in Eigenleistung ein; mehr als den Durchschnittslohn und eine betriebsspezifische Ausbildung im Bedarfsfall gibt, wie sie glaubhaft versichern, ihre Gewinnspanne nicht her.
In der Pflicht sehen sie nach guter Sitte aller Konkurrenzbürger – den Staat. Was der tun muss, hat der Chatbot oben im Wesentlichen aufgelistet und dabei dokumentiert, wie sehr das Wirtschaften zu allgemeinem Bedarf hierzulande dazu dient und davon abhängt, dass die Interessen der herrschenden Klasse aufgehen. Diese praktische Abhängigkeit ist es, die ihnen den Charakter und den Nimbus des "Objektiven" verleiht und sie frech und fordernd macht.
Dem hat sich die arbeitende Klasse wie selbstverständlich zu beugen, darauf gründet auch die Finanzmacht der öffentlichen Hand, für die deshalb Wirtschaftsförderung nicht nur propagandistisch, sondern tatsächlich zur alternativlosen Sozialleistung für das Proletariat gerät. Sein Schaden ist dann nur zu seinem Besten.
In diesem Sinne die Stellungnahme des Bots noch einmal im Klartext:
Die Unternehmen, wer denn sonst, müssen, wie denn sonst, steuerlich oder mit anderen Zuwendungen dazu angeregt werden, in Berufsbildung und Ausbildungsplätze zu investieren.
Das ganze Bildungssystem bedarf der Anpassung, wenn die Wirtschaft ihre Bedürfnisse anmeldet und auf ein genehmeres Verhältnis von beruflichen und akademischen Laufbahnen sowie auf kürzere Lernzeiten mit mehr Beschäftigungsrelevanz dringt.
Die Zuwanderung preiswerter Fachleute aus dem Ausland muss ebenfalls optimiert werden, was überdies den Vorteil hat, dass deren Ausbildung schon woanders bezahlt wurde und "bei uns" nur ein paar Gemeinkosten und Friktionen in Sachen "Willkommenskultur" anfallen.
Ältere Beschäftigte, so sie noch gebraucht werden können, sind durch Anreize in Beschäftigung zu halten, von denen der wirkungsvollste die Anhebung des Rentenalters ist. Eine gewisse Flexibilität bei Zeit und Geld, die die Beschäftigten mehr kostet als die Betriebe, ist nötig, damit der familiäre Broterwerb durch nur eine Person, die zu 90 Prozent männlich ist, sich endlich überlebt und auch die Frau ihren Produktionsbeitrag leisten kann, weil sie es muss.
Das ist zwar nicht ganz das Gleiche wie die Steigerung der Geburtenrate durch Familienfreundlichkeit, für die sich vor allem der Staat mehr einfallen lassen muss, als den Arbeitskräftemangel durch ausgedehnte Elternzeiten zu verstärken. Auch für die Flexibilisierung des Arbeitsrechts, also für den Abbau von "Beschäftigungshürden", die eine "überregulierte" Rücksicht auf das Personal hervorruft, ist in erster Linie der Staat zuständig, der bei solchen Diensten für das Unternehmerinteresse aber gern das Einverständnis der Gewerkschaften sucht.
Die "beschäftigungsfreundliche" Gestaltung des Arbeitsumfeldes und der Entlohnung überlässt er hauptsächlich den Tarifpartnern, allerdings in der ziemlichen Gewissheit, dass die Arbeitnehmerseite nur das fordert, was in ihren Augen die Kapitalproduktivität der Gegenseite hergibt, und davon, Beispiel IG Metall, ungefähr die Hälfte plus ein paar Zeitkomponenten durchsetzt.
P.S. "wegen Putin"
Eventuelles Einvernehmen dürfte sich auch an einer kleinen Nebenfront des Fachkräftemangels einstellen, von der der KI-Bot noch keine Ahnung haben kann. Falls sich die deutsche Friedensmacht zu einer Wiedereinsetzung der Wehrpflicht entschließen sollte, dürfen Arbeitgeberverbände, Fachwelt und Öffentlichkeit zwar nicht mitentscheiden, aber billigen, dass ein Teil des arbeitsfähigen Nachwuchses vor seinem wachstumsschaffenden Dienstantritt zunächst dem Waffendienst am Vaterland zu überlassen ist.