Will die AfD, dass Deutschland heute verliert?
Muss das DFB-Team Europameister werden, damit Olaf Scholz wieder gewählt wird? Ein Steilpass.
Wenn ich ein Trikot anziehe, dann von meinem Verein.
Kevin Kühnert
Innerhalb der letzten drei Wochen, seit dem überraschend deutlichen Auftaktsieg der Deutschen gegen Schottland, konnte man sehen, dass die Betrachtung der deutschen Nationalmannschaft von Tag zu Tag politischer wird.
Es ist am Ende dann doch erstaunlich wie viel emotionale Energie, wie viel intellektuelle Anstrengung und vor allem wie viel Hoffnung in Deutschland auf die Auftritte der deutschen Fußballnationalmannschaft projiziert wird.
Schland in Sicht! In der Regionalbahn zum Spiel ist es nur eine Frage der Ergebnishöhe. Man schnappt die Tipps auf: 3:1 für Deutschland oder doch 2:0? "Klar hauen wir die Spanier weg." Der, der glaubt, dass Deutschland "nur" nach 1:1 und Elfmeterschießen gewinnt, bekommt lauten Widerspruch. Verlieren ist ausgeschlossen.
Eigentlich hätte Bundeskanzler Olaf Scholz heute um 18 Uhr die Kulturschaffenden der Republik im Kanzleramt empfangen. Schlechte Planung, oder Absicht? Am Dienstag wurde der Termin vorverlegt, nicht wegen der Kulturmenschen, sondern des Kanzlers wegen. Der muss zum Spielbeginn in Stuttgart sein. Darum reicht es wohl nur für ein Grußwort.
Ist heute Abend Schluss mit Schland?
Fußball ist wichtiger als Kultur. Genau gesagt: Fußball ist Kultur. Man glaubt bis heute, Bundeskanzler Gerhard Schröder hätte die Bundestagswahl 2006 gewonnen nach dem bekannten Sommermärchen. Hätte er nur die Geduld gehabt, die Wahl nicht ohne Not auf September 2005 vorzuziehen.
Wird 2024 nun Olaf Scholz' Sommermärchen? Oder ist heute Abend Schluss mit Schland?
"Will die AfD, dass Deutschland verliert?", fragte Markus Lanz schon vor zwei Wochen: "Ich würde die Wette eingehen, dass die AfD fast täglich betet, damit die Nationalmannschaft rausfliegt."
Heißt das im Umkehrschluss, dass der Südtiroler Markus Lanz täglich betet, dass die die deutschen Europameister werden?
"Mit jedem Sieg gewinnt das gute Deutschland", erklärte jedenfalls der Journalist Hajo Schumacher bei Lanz: Neben verschiedenen Hautfarben habe die Nationalmannschaft mit drei Brandenburgern auch "eine Ostquote, die sehr viel höher ist als in Unternehmen. ... Wenn die Rechten finden, dass das eine ganz furchtbare, woke Multikulti-Truppe ist, dann kann ich nur sagen: Jeder Sieg zählt. Das ist das moderne Deutschland. Das ist ein neues Deutschland".
Wie viel 2006 steckt wirklich in 2024? Man sollte es nicht mit 2006 vergleichen, das war einmalig. Und auch das wurde im Rückblick verklärt.
Die Chancen
Wie wird das Spiel ausgehen? Die Geschichte zeigt es uns: die Weltmeister und Europameister der Vorrunden haben selten ein Turnier gewonnen. Erinnern wir uns mal an der Europameisterschaft 2008, die bekanntlich dann von Spanien im Finale gegen Deutschland gewonnen wurde.
Die Mannschaft der Vorrunde waren die Niederlande, die Weltmeister Italien mit 3:0 weggebügelt haben, danach Frankreich mit 4:1 und Rumänien im letzten Spiel mit 2:0. In dieser Todesgruppe hatten sie neun zu eins Tore und neun Punkte. Und dann schieden sie gegen Russland mit einem 1:1 und dann nach Verlängerung mit 1:3 aus.
Wahrscheinlich ist, dass heute die Erfahrung über die Jugend siegt. Dass Toni Kroos ("Er liebt den Ball, der Ball liebt ihn", Thomas Helmer) die Spanier lesen kann. "Am Ende gewinnen die Deutschen" (Gary Linneker).
Wenn wir ernsthaft analysieren, stellen wir fest, dass es eine sehr gute Chance gibt, dass Deutschland heute gewinnen wird.
Zugleich können wir ehrlich sein: Niemand hätte vor zwei Monaten gedacht, dass die deutsche Mannschaft überhaupt ins Viertelfinale kommt. Dass sie diese Widerstandsfähigkeit zeigt gegen Dänemark und die Schweiz.
Aber die Spanier sind ein anderes Niveau. Vielleicht liegt genau das den Deutschen besser als Schweizer oder Dänen.
Eine wünschenswerte Lektion
Für den Autor dieser Zeilen wäre eine andere Lektion wünschenswert: Es wäre wunderbar, könnten die Spanier heute Abend 8:2 (oder 7:1) gewinnen! So wie damals der FC Bayern in Barcelona oder die Löw-Truppe 2014 im Halbfinale gegen Brasilien.
Denn die Deutschen wissen viel. Aber sie müssen noch lernen, wie es sich anfühlt, zu Hause gedemütigt zu werden.
Deutschland könnte wegen der Erfahrung gewinnen. Deutschland könnte aber auch an Erfahrung gewinnen.
Das wird natürlich nicht passieren. Aber man weiß ja nie. Manchmal ... ⚽⚽⚽