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Wir brauchen eine kritische Bilanz der Corona-Politik

Themen des Tages: Ukraine-Krieg und Kampfjets. UN-Sicherheitsrats zur Aufrüstung der Ukraine. Und Karl Lauterbachs Corona-Selbstkritik.

Liebe Leserinnen und Leser,

1. So schnell werden die USA keine F-16 in die Ukraine schicken.

2. Der UN-Sicherheitsrat ist sich auch mit dem Blick auf die Ukraine vor allem uneins.

3. Der Bundesgesundheitsminister sichert sich bei seiner Selbstkritik zu den Corona-Maßnahmen politisch und rhetorisch ab.

Doch der Reihe nach.

Ukraine, Krieg und Kampfjets

Die Diskussion über die Lieferung von Kampfjets an die Ukraine [1] werde vom öffentlichen politischen Raum in die Beratungszimmer verschoben, stellt heute Telepolis-Autor Thomas Pany fest. Er berichtet aber auch: "US-Präsident Joe Biden antwortete gestern vor dem Weißen Haus auf die Frage eines Journalisten, ob F-16-Jets an die Ukraine geliefert werden, mit einem 'nachdrücklichen Nein'."

John Kirby, im Weißen Haus verantwortlich für die strategische Kommunikation des Nationalen Sicherheitsrates, bekräftigte das Nein mit einem Verweis darauf, dass man ja schon Panzer liefere: "Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass es eine Menge an (militärischen) Potenzialen (i.O. "capability") gibt, die in den kommenden Wochen und Monaten geschickt werden."

Ukraine, Krieg und EU

Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal erhoffe sich den EU-Beitritt seines Landes [2] innerhalb von zwei Jahren – und "einen wesentlichen Sprung nach vorn" beim EU-Ukraine-Gipfel am Freitag in Kiew, so Telepolis-Redakteurin Claudia Wangerin.

"Wir haben einen sehr ehrgeizigen Plan, der Europäischen Union innerhalb der nächsten zwei Jahre beizutreten", zitiert sie Schmyhal aus einem Bericht des US-Magazins Politico vom Montag. Niemand in der EU halte das aber für realistisch, heißt es in dem Bericht.

Sogar die Staats- und Regierungschefs der EU, die sich auf ihrem Gipfel im vergangenen Juni dafür ausgesprochen hätten, der Ukraine den Kandidatenstatus zu verleihen, geben demnach mehr oder weniger vertraulich zu, dass die Aussicht auf einen tatsächlichen Beitritt des Landes noch einige Jahre entfernt sei. Der französische Präsident Emmanuel Macron habe im vergangenen Jahr von "Jahrzehnten" gesprochen.

Ukraine, Krieg und UN-Sicherheitsrat

Im ersten Teil einer Mini-Serie [3] befasst sich Telepolis-Autor Leon Gerleit heute mit der Position der USA zur Aufrüstung der Ukraine. Es folgen diese Woche Texte zu den übrigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates.

Die USA, so schreibt Gerleit, agiere gemäß der Brzeziński-Doktrin, auf deren Basis schon Präsident Jimmy Carter während der Vorbereitung zum Stellvertreterkrieg in Afghanistan riet: Man habe nun die Chance, "den Sowjets ihr eigenes Vietnam zu bereiten".

Wie das Enthüllungsportal Intercept berichtet, herrscht – abgesehen von einigen wenigen Momenten strategischer Zurückhaltung – Einigkeit im Weißen Haus. Die politische Elite und die US-Regierung ziehen an einem Strang und überschütten Ukraine mit Waffen und anderer militärischer Unterstützung.:Leon Gerleit

Corona-Pandemie: Zeit für eine ehrliche Bilanz

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat heute im ARD-Morgenmagazin Fehler bei der Corona-Politik eingeräumt. Er wies zugleich Forderungen zurück, er oder andere politisch Verantwortliche müssten sich für falsches Handeln entschuldigen. Das halte er für "schwierig", sagte der SPD-Politiker. Die jeweilige Corona-Politik und die mit ihr einhergehenden Maßnahmen seien schließlich nach dem damaligen Kenntnisstand entschieden worden.

Vom heutigen Standpunkt aus bewertet, seien die Schließungsanordnungen für Schulen und Kindertagesstätten während der Corona-Pandemie unnötig gewesen. Diese Einrichtungen "so lange geschlossen zu halten", müsse man im Nachhinein als "Kritikpunkt" an der Corona-Politik gelten lassen, so Lauterbach in der ARD. Man sei damals aber den Empfehlungen von Expertinnen und Experten gefolgt.

Damit macht es sich der Bundesgesundheitsminister zu einfach und seine Selbstkritik verkommt zur wohlfeilen Selbstdarstellung. "Schaut her", so spricht es aus dem Auftritt, "ich lerne aus Fehlern." Doch das Gegenteil ist der Fall. Wenn sich der Minister jetzt auf Experten beruft, sich sozusagen hinter deren Aussagen versteckt, dann zeigt er letztlich nur, dass sich das Systemversagen bei künftigen Gesundheitskrisen immer wiederholen kann.

In Deutschland seien viele Wirtschaftsunternehmen "relativ verschont" geblieben und hätten normal weiterarbeiten können, so Lauterbach in der ARD weiter. Gleichzeitig sei man "bei Kindern und Schulen sehr hart eingestiegen". Im Nachhinein habe sich aber die Annahme, dass es in Schulen und Kitas zu vielen Infektionen kommen würde, "in der Form nicht bestätigt".

Genau das aber war schon zum Zeitpunkt der Maßnahmen in der Diskussion gewesen. Womit auch ein zentraler Kritikpunkt von damals bestehen bleibt, hier in Frageform: Wen hat die verantwortliche Politik wahrgenommen, wen als Debattenteilnehmer legitimiert, wen delegitimiert und ignoriert? Diesen Fragen weicht der Bundesgesundheitsminister aus.

Die Schließung von vorschulischen Bildungseinrichtungen und Schulen war immer umstritten. Ebenso wie das Testen von Kindern und die Abstandsregelungen, die nie eingehalten werden konnten und dennoch kollektiv mit der Schließung von Einrichtungen sanktioniert wurden. Kinder und Familien leiden bis heute unter den Folgen, ohne dass der Staat hinreichend hilft.

Wie selbstkritisch sind die Medien?

Die weitgehende Unfähigkeit zur Kritik zieht sich wie ein roter Faden durch den Umgang mit der Pandemie, übrigens auch bei den Medien. Journalisten im gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland, die ihre Frontstellung gegen Ungeimpfte und ihre ungeprüfte Wiedergabe von Regierungspositionen im Nachhinein kritisch und vor allem selbstkritisch bewerten, lassen sich an einer Hand abzählen.

Anders Brian Weichardt, Herausgeber von Dänemarks auflagenstärkster Boulevardzeitung Ekstra-Bladet. Man habe in der Corona-Berichterstattung versagt, schrieb er schon vor gut einem Jahr. Man habe alles geglaubt und wiedergegeben, was die Behörden verkündet hätten. Und wenn es auf kritische Fragen keine Antwort gab, habe man eben nicht nachgefragt.

Redaktionen jedweder Couleur müssen sich einer kritischen Bilanzdebatte stellen. Auch wir bei Telepolis sind mittendrin und sichten derzeit die einschlägigen Beiträge, die seit Beginn der Pandemie erschienen sind.

Zwischenstand: Es gibt in unserem Archiv einige Texte mit maßnahmenkritischen Positionen, die besser hätten recherchiert und von uns eingehender geprüft werden müssen. Wir werden diese Beiträge mit einem entsprechenden Hinweis versehen, aber aus Gründen der Transparenz online belassen.

Auch werden wir in Zukunft noch stärker darauf achten, dass wir trotz des hohen Outputs und des ständigen Blicks auf die Zugriffszahlen Autoren und Inhalte ausreichend prüfen.

Ein Muster hätten wir bei Telepolis früher erkennen müssen: Akteure mit maßnahmenkritischer Haltung, die Daten und Fakten auf eine von vornherein feststehende Schlussfolgerung hin ausgewählt haben, wurden von Telepolis teilweise ohne ausreichende Prüfung veröffentlicht. Uns ist klar, dass dies dann nicht mehr mit Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden kann.

Aber wir sind aufmerksamer geworden. Ein bekannter Finanzwissenschaftler, der einen Lehrauftrag an der Universität Hannover hatte und inzwischen zu den bekanntesten Stimmen der maßnahmenkritischen Szene gehört, hat uns kürzlich einen Artikel zur Übersterblichkeit angeboten. Auf unsere Absage folgte eine bemerkenswerte Reaktion, die unsere Entscheidung im Nachhinein bestätigte: "Offenbar habe ich verpasst, dass Telepolis, für das ich oft geworben hatte, in den linken Mainstream abgedriftet ist. Schade."

Unabhängig von der Frage, was ein "linker Mainstream" ist, können wir dem Absender und auch Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, versichern: Telepolis ist nirgendwohin abgedriftet, außer immer weiter in den Journalismus.

Wenige Tage nach der Absage an den enttäuschten Aktivisten hat sich Prof. Dr. Bernhard Gill vom Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München für uns mit dem Thema Übersterblichkeit beschäftigt.

Artikel zum Thema:

Bernhard Gill: Drei Jahre Pandemie im Spiegel der Übersterblichkeitsstatistik [4]
Philipp Fess: Corona: Nebenwirkungen der Impfung bewusst vernachlässigt? [5]
Kathrin Gerlof: Evaluationsbericht: Und was, bitte, lernen wir daraus? [6]


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7477269

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/Kampfjets-fuer-die-Ukraine-Biden-sagt-Nein-7476770.html
[2] https://www.telepolis.de/features/Ukraine-will-EU-Beitritt-innerhalb-von-zwei-Jahren-7476208.html
[3] https://www.telepolis.de/features/USA-und-Ukraine-Revival-der-Brzezinski-Doktrin-7475739.html
[4] https://www.telepolis.de/features/Drei-Jahre-Pandemie-im-Spiegel-der-Uebersterblichkeitsstatistik-7469407.html
[5] https://www.telepolis.de/features/Corona-Nebenwirkungen-der-Impfung-bewusst-vernachlaessigt-7331579.html
[6] https://www.telepolis.de/features/Evaluationsbericht-Und-was-bitte-lernen-wir-daraus-7183715.html