Wir brauchen mehr Putin-Versteher

Nach einem Auftritt im ZDF habe ich viel Kritik wegen meiner Haltung zur russischen Führung geerntet. Doch ich halte daran fest. Denn auch Gorbatschow und Kohl hätten Einspruch erhoben.

Nach meinem Auftritt in der letzten ZDF-Sendung Maybrit Illner über den Ukraine-Krieg haben mir viele Zuschauer vorgeworfen, ich sei ein "Putin-Versteher". Sie haben recht. Wenn wir mit Putin wieder klarkommen wollen, müssen wir ihn besser verstehen als zurzeit, in der wir ihn dämonisieren oder verharmlosen.

Putin-Versteher ist in weiten Kreisen in Deutschland ein Schimpfwort geworden. Das sagt viel über uns und wenig über Putin. Für mich ist Putin-Versteher gerade nicht "Putin-Bewunderer", sondern der Versuch, auch mit Putin so rasch wie möglich zu einem Ende des Kriegs zu kommen, damit das unermessliche Leid dieses Kriegs beendet wird.

Wenn ich das wirklich will, dann muss ich ihn zuerst verstehen. Das ist nicht anders bei unseren Konflikten im Privatleben. Wir werden wohl noch lange Zeit keinen anderen Gegner oder Feind am Verhandlungstisch haben können. Wer sagt "Mit Putin kann man nicht reden", der darf sich nicht wundern, wenn immer noch kein Dialog zustande kommt.

Was heißt eigentlich Putin-Versteher?

Russlands Präsident führt einen verbrecherischen, völkerrechtswidrigen, blutigen und grausamen Krieg gegen 45 Millionen Menschen in der Ukraine. In dieser Situation muss die Ukraine humanitär, wirtschaftlich, aber auch militärisch unterstützt werden und von außen Hilfe bekommen.

Auch Pazifisten dürfen sich nicht hinter ihrem alten Slogan "Frieden schaffen ohne Waffen" verstecken. Wer jetzt den Ukrainern empfiehlt "Frieden schaffen ohne Waffen", handelt zynisch. Das ist unterlassene Hilfeleistung.

Auch die Friedensbewegung muss in dieser Situation umdenken und ihren Appell "Stoppt den Krieg" an die richtige Adresse richten, nämlich an den Aggressor in Moskau.

Das ist schmerzlicher Real-Pazifismus im Gegensatz zum Fundamental-Pazifismus. Fundamental-Pazifismus heute ist ein Pazifismus im Sinne des Aggressors. Diese Unterscheidung machte schon der große Pazifist Albert Einstein, der zwischen verantwortungslosem und verantwortlichem Pazifismus unterschied. Ähnlich argumentiere auch die echte Pazifistin Berta von Suttner. Sie sagte: "Jedes Volk hat selbstverständlich das Recht zur Selbstverteidigung."

Was sagt die Charta der Vereinten Nationen?

So steht das auch in der UNO-Charta. Fundamental-Pazifisten widersprechen und schreiben mir, der ich bei Maybrit Illner auch für die Lieferung deutscher Defensivwaffen plädiert habe: "Alle Waffen töten."

So ähnlich habe ich auch lange argumentiert. Deshalb verstehe ich dieses Denken. Doch gerade in den letzten Wochen zeigt sich, dass Abwehrwaffen aus Deutschland vielen Ukrainern das Leben gerettet haben. Auch in den letzten Tagen. An einem Tag Anfang Januar haben russische Soldaten mit 82 Raketen auf zivile ukrainische Ziele geschossen. Davon konnten über 70 mit Abwehrraketen in der Luft zerstört werden.

Deutsche Waffen haben hunderten Ukrainern das Leben gerettet. Wenn wir nicht ideologisch verbohrt sein wollen, müssen wir in dieser Situation umdenken und lernfähig bleiben. Das darf jedoch nie heißen, mit dem Druck auf Dialog nachzulassen.

Aber: Wenn mein Nachbar um Hilfe ruft, darf ich als Christ und Pazifist mir nicht die Ohren zu halten, wenn ich wirksame Abwehrwaffen habe. Das wäre das Gegenteil dessen, was alle Religionen und Weisheitslehren fordern. "Du sollst nicht töten", heißt auch: "Du sollst nicht töten lassen, wenn du das verhindern kannst." Das ist das Ur-Ethos der Menschheit.

"Feindesliebe" heißt niemals, dass man sich alles bieten lassen muss. Das hieße doch, den wunderbaren jungen Real-Pazifisten aus Nazareth zum Deppen zu erklären. "Feindesliebe" heißt: Sei klüger als dein Feind. Versuche immer, dich in ihn hineinzudenken.

Sei Putin-Versteher, nur dann kannst du vielleicht klarkommen mit ihm und eventuell sogar vernünftige Kompromisse mit ihm schließen. Wir dürfen nicht länger uns für die absolut Guten und die Russen für die absolut Bösen halten. Auch der Westen hat Fehler gemacht.

Ich will drei Realpolitiker nennen, die den Westen an seine bisherigen Fehler gegenüber Putin und Russland immer wieder erinnert haben.

Michail Gorbatschow. Während des Kalten Kriegs musste er sich in Ronald Reagan einfühlen, der weiß Gott kein Pazifist war. Doch sie schafften zusammen die größte militärische Abrüstung aller Zeiten. Und das Ende des Kalten Kriegs.

Das hieß 30 Jahre Frieden – ein Geschenk für die ganze Welt, vor allem für Deutschland. Ein wichtiger Aspekt wurde bei den Nachrufen auf Gorbatschow in Deutschland nahezu komplett übersehen.

Er hatte nach 2014 der Annexion der Krim zugestimmt und gesagt: "Das hätte ich, wäre ich heute Präsident, ähnlich gemacht, aber ohne Gewalt, sondern durch Dialog."

Gorbatschow war vom Westen enttäuscht, der "nie an einem stabilen und demokratischen Russland interessiert gewesen" sei. 2017 sagte mir Gorbatschow in unserem gemeinsamen Buch "Nie wieder Krieg": "Der Westen hat sich nach 1990 Russland gegenüber als Sieger aufgespielt."

Gorbatschow machte nicht die "russische Besatzung der Krim", sondern "die Überheblichkeit Washingtons" für die Verschlechterung des Ost-West-Verhältnisses verantwortlich.

Nach 1990 hatte die Nato 16 Mitglieder. Heute sind es 30 und weitere sollen es werden. Das ist für uns im Westen scheinbar kein Problem: Doch für einen von Angst getriebenen Politiker und Geheimdienst-Mann wie Putin und für Millionen Russen sieht diese Nato-Osterweiterung ganz anders aus. Man muss kein Psychologe sein, um das zu verstehen.

Haben wir die Kuba-Krise 1962 vergessen?

Meine Gegenfrage an westliche Hardliner: Wie würden denn die USA reagieren, wenn Kanada oder Mexiko als direkte Nachbarn zu den Vereinigten Staaten einen Militärpakt mit Russland schlössen? Das haben wir doch 1962 bei der Kuba-Krise gesehen.

Die USA wollten um jeden Preis verhindern, dass Russland nahe den USA Atomraketen stationiert. Die Welt geriet an den Rand eines Atomkriegs. Und soeben haben Atomwissenschaftler die "Weltuntergangsuhr" auf "90 Sekunden vor zwölf" gestellt.

Noch nie standen wir so nah am atomaren Abgrund. Das hat vor wenigen Wochen auch US-Präsident Biden – ebenfalls ein Realpolitiker – so gesagt. Was muss denn noch passieren, bis sowohl Bellizisten als auch Pazifisten neu denken lernen und unser gemeinsames Überleben sichern?

Helmut Schmidt hat oft daran erinnert, dass "Russland seit Gorbatschow nirgendwo seine Grenzen militärisch verletzt und sich nach außen friedlicher verhalten hat als jemals zuvor in zaristischen oder sowjetischen Zeiten". Im Kalten Krieg ging Gorbatschow auf den Westen zu. Jetzt müsste der Westen auf Putin mit einem Angebot zugehen.

Auch Helmut Kohl sprach von "großen Versäumnissen seitens des Westens in den vergangenen Jahren." Kohl: "Die Aufbruchsstimmung in der Ukraine (2014) wurde nicht mehr klug begleitet.

Ebenso hat es an Sensibilität im Umgang mit unseren russischen Nachbarn gemangelt, insbesondere mit Präsident Putin." Ohne den Versuch, gegenseitigen Verstehens können Konflikte in aller Regel nicht gelöst werden. Selbstverständlich hat jedes Land das Recht, um Aufnahme in die Nato zu bitten.

Aber dabei sollte nie wieder das Sicherheitsinteresse Russlands außer Acht bleiben. Auch für den Westen gilt, aus Fehlern zu lernen. Und es war ein großer Fehler, dass man jene vergessen hat, die sich als Verlierer fühlten. Kohl setzte dem Slogan der Friedensbewegung "Frieden schaffen ohne Waffen" vor 40 Jahren den Slogan entgegen "Frieden schaffen mit immer weniger Waffen".

Das heißt: Abrüsten statt wie jetzt immer weiter aufrüsten. Nur so könnte heute die ewige Spirale der Gewalt aufgehoben werden. Jeder verhungerte Mensch ist in dieser reichen Welt eine Schande für unsere Menschlichkeit.

Wir geben jedes Jahr über zweitausend Milliarden US-Dollar fürs Militär aus. Geld, das dann für die Überwindung von Armut und Elend und bei der Bildung fehlt.

Besteht eine Chance, mit Putin in Dialog zu kommen?

Auch der Weg des Real-Pazifismus beginnt mit kleinen Schritten. Vielleicht könnte es helfen, auf diplomatischem Weg Putin zu signalisieren, dass auch der Westen aus seinen bisherigen Fehlern lernen will. Vielleicht!

Und Vorschläge unterbreiten für gemeinsame Abrüstung, bei der alle gewinnen würden. Spätestens jetzt im Atomzeitalter macht uns Sicherheit nur dann sicherer, wenn sie wirklich immer auch die Sicherheit der anderen bedeutet. Auch die Sicherheit der Ukraine und die Sicherheit Russlands. Daran müssen doch alle interessiert sein.

Wer eine Alternative hat, die das Leid der Ukrainer schneller und effektiver beenden helfen kann, möge sich melden. Dass Frieden auch in schwierigen Zeiten möglich ist, hat der Russe Gorbatschow vorgemacht. Jetzt der Westen dran.

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