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Seite 2: In Peking hängen 800. 000 Kameras. Sie nennen es "das Himmelsnetz"

Um zu überwachen, dass ich auch ja nicht meine Wohnung verlasse, wurde vor meiner Tür eine Kamera angeschraubt. Mehr als 800. 000 davon gibt es bereits in Peking. Die Propaganda nennt es das "Himmelsnetz". Jeder Bürger soll zu jeder Zeit identifizierbar sein.

In Shanghai ist das Netz noch dichter. Mehr als drei Millionen Kameras sind in den vergangenen Jahren installiert worden, viele davon an Ampeln. Fußgänger, die bei Rot über die Kreuzung laufen, werden digital geächtet. Sie werden gefilmt und die Videos automatisch mit staatlichen Datenbanken abgeglichen. Die Fotos der Rotsünder erscheinen auf einem Bildschirm am Straßenrand. Dazu der Name und die Anschrift.

Acht der zehn am stärksten überwachten Städte der Welt sind in China zu finden. 2022, also in nicht allzu ferner Zukunft, soll in der Volksrepublik auf jeden zweiten Bürger eine Überwachungskamera kommen. Und sehr viele davon mit Gesichtserkennung. Dieser Tage werden sie aufgerüstet mit Temperatursensoren. Das japanische Restaurant um die Ecke - vor der Krise mal so etwas wie die SZ-Kantine in Peking - hat jetzt so eine Kamera am Eingang aufgebaut. Nachdem ich meine App vorgezeigt habe, werde ich fotografiert und kann auf dem Display meine Körpertemperatur ablesen.

Entwickelt wird diese Technik vor allem in China selbst. Zum Beispiel von dem Unternehmen Sensetime. 2014 gegründet, ist es in nur wenigen Jahren zu einem der führenden Anbieter für Gesichtserkennung und künstliche Intelligenz geworden.

Eine Pressesprecherin begrüßt mich - vor der Corona-Krise - am Eingang der Firmenzentrale im Pekinger Universitätsviertel. Ein Blick von ihr in die Kamera genügt, die Glastür schwingt auf. Neben dem Empfang haben sie einen Ausstellungsraum eingerichtet. "Schauen Sie in diese Kamera", fordert sie mich auf. Auf dem Bildschirm erscheint nun, Geschlecht: männlich. Korrekt. Alter: 30 Jahre. Ich bin 36. Glücklichkeit: 63 Prozent. Attraktivität: 99  Prozent.

Das erscheint mir doch recht großzügig kalkuliert, angeblich sehe ich aus wie Keanu Reeves, behauptet der Algorithmus. "Wow, wie Keanu Reeves. Glückwunsch!", sagt die Sprecherin. Ein zweiter Versuch, diesmal grinse ich. Glücklichkeit: 94 Prozent. Alter: 28 Jahre. An meinem Geschlecht und der vermeintlichen Attraktivität ändert sich nichts. Ich bin noch immer ein Mann und wieder erziele ich 99 Prozent. Nur diesmal soll ich aussehen wie Johnny Depp. Entweder ist die Technik doch nicht so ausgefeilt oder aber sie schummelt mit Absicht und verteilt verkaufsfördernde Komplimente.

Wie erschreckend gut die Sensetime-Kameras wirklich funktionieren, sehe ich ein paar Meter weiter. Ein Bildschirm ist an der Wand angeschraubt, fast wäre ich daran vorbeigelaufen: Zu sehen ist eine Straßenkreuzung. Der Verkehr rauscht vorbei. Da sind Rechtsabbieger, die konsequent Radfahrern die Vorfahrt nehmen, und Fußgänger, die um ihr Leben rennen - Alltag in Peking.

"Gucken Sie einmal aus dem Fenster", sagt die Sprecherin. Der Monitor zeigt exakt die Straßenecke vor dem Gebäude. Die Kamera muss an der Fassade des Gebäudes angebracht worden sein. Das Taxi, das gerade anhält, sehe ich scharf auf dem Bildschirm und weit entfernt durch das Fenster. Das Fahrzeug sei ein Hyundai, meldet das System, dazu das Nummernschild. Auch der Fahrgast, der gerade einsteigt, wird erfasst: "Mann, Mitte 40." Inzwischen ist die Software so gut, dass sie Gesichter selbst dann erkennt, wenn man eine Maske trägt.

Die neue App kombiniert mit dem Himmelsnetz kommt der totalen Überwachung erschreckend nahe.

817 Millionen Menschen in China haben 2019 ein Smartphone besessen. Fast alle von ihnen dürften sich in den vergangenen Wochen bei einer Gesundheitsapp angemeldet haben, die entweder mit dem populären Messenger Wechat oder dem Bezahldienst Alipay verknüpft ist. Basierend auf Reiseinformationen, Mobilfunkdaten und Eingaben staatlicher Stellen entscheidet nun tagtäglich ein Algorithmus für Hunderte Millionen Chinesen, ob sie mit dem Zug fahren dürfen, ein Restaurant betreten können oder aber sich umgehend in Quarantäne begeben müssen.

Dieser Artikel hat den Surveillance Studies-Preis 2021 gewonnen. Telepolis beteiligt sich an diesem Preis.