Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen
Der Philosoph und Physiker Heinz von Foerster über die Entwicklung der Kybernetik, die Computermetapher des Geistes und die Versuche, das Gehirn zu verstehen.
Heinz von Foerster, 1911, gilt als der "Sokrates des kybernetischen Denkens". Der studierte Physiker war zunächst in verschiedenen Forschungslaboratorien in Deutschland und Österreich tätig. 1949 emigrierte er mit einer quantenphysikalischen Theorie des Gedächtnisses im Gepäck in die USA, arbeitete dort mit den Pionieren der Kybernetik - dem Mathematiker Norbert Wiener, dem Neurologen Warren McCulloch und dem Erfinder des Computers John von Neumann - zusammen und gründete schließlich an der University of Illinois das inzwischen legendäre Biologische Computer Labor (BCL), das zu einem Zentrum der kognitionswissenschaftlichen Forschung wurde. Physiker und Philosophen, Biologen und Mathematiker widmeten sich in der inspierenden Atmosphäre dieses Instituts Fragen der Erkenntnistheorie und arbeiteten an den logischen und methodischen Problemen, die das Erkennen des Erkennens mit sich bringt.
Heinz von Foersters Verdienst ist es, immer wieder auf die unvermeidlichen blinden Flecken und Idiosynkrasien des Beobachters aufmerksam gemacht zu haben, der sich dem vermeintlich von ihm unabhängigen Objekt der Beschreibung nähert. Er hat den erkenntniskritischen Zweifel in die Kybernetik eingeführt und auf diese Weise die mechanistisch zu nennenden Vorstellungen der frühen Kybernetiker irritiert, die mit einem ganz ungebrochenen Enthusiasmus vom Bau eines "artificial brain" sprachen. Seit seiner Emeritierung im Jahre 1972 lebt Heinz von Foerster im kalifornischen Pescadero und reist noch immer um die Welt, um Vorträge zu halten, die das Publikum stets wegen seiner Lebendigkeit begeistert.
Mit Heinz von Foerster sprach Bernhard Pörksen
Das fundamentale Prinzip: Zirkularität
Wer in der wissenschaftlichen Literatur nach Ihrem Namen sucht, der findet Belege, wenn es um Kognition und Konstruktivismus, Theorien des Gedächtnisses und den Begriff der Selbstorganisation geht. Aber am bekanntesten sind Sie wohl als Kybernetiker. Zuerst: Wie könnte eine Definition der Kybernetik, die ja auch für die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz fundamental war, aussehen? Was ist Kybernetik?
Heinz von Foerster: Die Suche nach einer Definition freut mich nicht besonders, da auf diese Weise stets eine konzeptionelle Grenze ins Leben gerufen wird. Sie könnten mich auch fragen: Was ist ein Tisch? Und meine Antwort wäre: Ein Tisch hat vier Beine und einen flachen Deckel, auf den Kinder draufspringen können. Jetzt müssen wir klären, was der Unterschied zwischen einem Tisch, einem Pony und einem Pferd ist. Und schließlich wird es notwendig, über den Unterschied von lebenden Wesen und nichtlebenden Entitäten zu sprechen. Das haben wir nun davon. Für mich hat jede Definition eine grundsätzliche Schwäche: Sie schließt aus, sie begrenzt.
Und doch ist es sinnvoll, die Vielfalt der Definitionen, die gegenwärtig kursieren, etwas zu ordnen. Um ein paar Beispiele zu geben: Bei dem Mathematiker Norbert Wiener findet sich der Satz, Kybernetik sei die Wissenschaft von der Regelung und der Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschinen. Der Unternehmens- und Managementberater Stafford Beer definierte Kybernetik als die Wissenschaft der Organisation; der Neurophilosoph Warren McCulloch sprach von der Kybernetik als einer Erkenntnistheorie, die sich mit der Erzeugung von Wissen durch Kommunikation befaßt. In einer Erklärung der American Society for Cybernetics heißt es: "Cybernetics is a way of thinking, not a collection of facts." Und Gordon Pask schrieb noch allgemeiner: "It might be an art, or a philosophy, a way of life."
Heinz von Foerster: Zuerst möchte ich meiner enormen Freude Ausdruck verleihen, daß in dieser kleinen Sammlung von Bestimmungsversuchen ein so wunderbarer Regenbogen zutage kommt. Das spricht für ein Denken, das die Vielfalt der Zugangsweisen gestattet. Die Breite des Möglichen und diese Lockerheit bilden einen großartigen Stimulus. Es zeigt sich, daß es um eine Haltung geht, die jeder dieser Menschen auf die ihm eigene Weise ausdeutet. Das ist das Faszinierende der Kybernetik: Man fragt ein paar Leute nach einer Definition - und erfährt sehr wenig über Kybernetik, aber eine Menge über den Definierenden, sein Spezialgebiet, seinen Bezug zur Welt, seine Lust mit Metaphern zu spielen, seine Begeisterung für das Management, sein Interesse an Kommunikations- oder Nachrichtentheorien. Ich lerne auf diese Weise meine Freunde Stafford Beer, Warren McCulloch, Norbert Wiener und Gordon Pask noch etwas genauer kennen. Das ist doch herrlich.
Gibt es ein verbindendes Prinzip, das all diesen Vorstellungen über die Kybernetik gemeinsam ist?
Heinz von Foerster: Das fundamentale Prinzip kybernetischen Denkens ist, so meine ich, die Idee der Zirkularität. Da beginnt alles, von dort aus muß man weiterdenken, das ist die Basis. Das Prinzip der Zirkularität zeitigt enorme Folgen, wenn man es zu Ende und in die Tiefe denkt und mit erkenntnistheoretischen Fragen verknüpft. Man betritt auf einmal verbotenes Terrain, befaßt sich mit der unter den Logikern verpönten Selbstbezüglichkeit. Allerdings dauerte es seine Zeit, bis man die Konsequenzen zirkulärer Kausalität voll ausgelotet hat. Ich erinnere mich, daß ich einmal darauf hinwies, daß die Zirkularität doch das Wesentliche der Kybernetik sei und daß man dieses Prinzip noch viel fundamentaler untersuchen müßte. Ich schrieb über eine neue Dimensionalität des Argumentierens, die die lineare Kausalität ablöst. Mein Papier, das als ein Vorwort zu den Berichten einer Reihe von wichtigen Kybernetik-Konferenzen gedacht war, schickte man mir zurück und forderte mich auf, doch lieber über das Wasserklosett, den Thermostat und den Maxwellschen Regulator in einer Dampfmaschine zu schreiben. Ich antwortete, daß ich mich nicht besonders für das Wasserklosett interessiere, und der Thermostat macht das Leben angenehm aber ich finde ihn nicht so schrecklich wichtig.
Die Beispiele, über die man damals sprach, luden ja auch wirklich nicht zu erkenntnistheoretischen Reflexionen ein: Thermostate, Wasserklosetts und das Steuern von Booten standen im Zentrum. Können Sie trotzdem eines dieser Beispiele herausgreifen, um die Zirkularität zu erläutern?
Heinz von Foerster: Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff Kybernetik, den Norbert Wiener prägte und im Jahre 1948 zum Titel seines Buches machte, auf das griechische Wort für Steuermann (kybernetes) zurückgeht, das im Lateinischen zum gubernator und im Englischen zum governor wird. Ein amerikanischer Gouverneur müßte eigentlich, folgt man der Wortgeschichte, ein Kybernetiker sein. Aber zurück zu unserem Beispiel: Was macht ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies permanent. Wenn das Boot vom Kurs und seinem Ziel nach links abweicht, weil der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so daß er weiterhin auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach rechts - und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. In jedem Moment wird die Abweichung in Relation zu dem ins Auge gefaßten Ziel, dem Telos, das zum Beispiel ein Hafen sein kann, korrigiert. Das Betätigen des Steuers, eine Ursache, erzeugt also eine Wirkung; das ist die Kurskorrektur. Und diese Wirkung wird wieder zu einer Ursache, denn man stellt eine neue Kursabweichung fest. Und diese erzeugt ihrerseits eine Wirkung, nämlich wiederum eine Kurskorrektur. Solche Steuerungsvorgänge sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.
Was hier passiert, ist im Grunde genommen ein Prozeß der Informationsauswertung, der jeweils das eigene Verhalten verändert. Man bemerkt eine Kursabweichung und handelt entsprechend, indem man gegensteuert.
Heinz von Foerster: Die frühen Kybernetiker - Norbert Wiener, Claude Shannon, Warren Weaver, Ross Ashby - haben genau diesen Aspekt immer wieder betont. Sie machten deutlich, daß beispielsweise der Steuermann seinem motorischen System "mitteilen" muß, wie und in welchem Ausmaß es das Steuer bewegen soll. Und diese Mitteilung über die Art und Weise der Bewegung im Verhältnis zu einem bestimmten Ziel kann man als einen Vorgang der Informationsauswertung begreifen.
Menschen und Maschinen
Ausgehend von dieser Illustration des Begriffs ließe sich über mögliche Anwendungen reden und die Verwendung dieser Einsichten beim Bau von Kühlschränken, Thermostaten oder Flugabwehrraketen, die ja alle, um ein bestimmtes Ziel - ein bestimmte Temperatur, ein feindliches Objekt - zu erreichen, mit derartigen zirkulär-kausalen Steuerungsmechanismen arbeiten. Das wäre die praktische und teilweise auch martialische Nutzbarmachung zirkulärer Kausalität. Aber ich möchte gerne einen anderen thematischen Strang verfolgen, der eher theoretischer oder epistemologischer Natur ist und stärker mit Ihrer Arbeit zu tun hat. Mich interessiert, wie auf der Basis dieser und anderer Konzepte unter den Kybernetikern die Vorstellung aufkam, das Lebendige selbst, den Menschen und sein Gehirn, entschlüsseln und verstehen zu können.
Heinz von Foerster: Dazu muß man wissen, daß das Studium zirkulär kausaler Prozesse das Konzept der Teleologie für die frühen Kybernetiker interessant gemacht hat. Man stellte sich die Frage: Was macht man, um an ein Ziel zu kommen? Wie geschieht das? Wie lassen sich Maschinen bauen, die auf ein Ziel zusteuern? Können wir mit Hilfe dieser Einsichten lebende Wesen besser verstehen? Norbert Wiener, Arturo Rosenblueth und Julian Bigelow haben im Jahre 1943 das Konzept der Teleologie, das aus dem Mittelalter stammt, wieder in die Wissenschaft eingeführt. Der von ihnen verfaßte Artikel hieß: "Behavior, Purpose, and Teleology". In einer kritischen Analyse des damaligen en-vogue-Begriffs von Verhalten, der sich ausschließlich mit der Beziehung eines "Outputs" zu einem "Input" beschäftigte, bemerkten sie, daß diese enge Definition den handelnden Organismus, seine spezifische Struktur und seine innere Organisation, die eben diese Beziehung erwirkt, völlig ignoriert. Und man analysierte damals auch in einem anderen Zusammenhang einen Frosch - und wies auf die Beobachtung hin, daß dieser sich im Wesentlichen auf ein Ziel, ein Telos, zu bewegt, um beispielsweise eine Fliege zu fangen. Es war die Fokussierung auf das Phänomen der Zielstrebigkeit, die lebende und technische Systeme ähnlich erscheinen ließ.
Das bedeutet, wenn ich richtig verstehe, zweierlei. Das Studium teleologischer Prozesse ließ, erstens, das Phänomen zirkulärer Kausalität offenbar werden: Um an ein Ziel zu kommen, müssen immer wieder einzelne Verhaltensweisen und Handlungen korrigiert werden; eigene Handlungen werden somit zur Ursache eigener Handlungen. Die Idee der Teleologie hat es aber auch - und das ist der zweite wichtige Schritt - möglich gemacht, eine eventuelle Gemeinsamkeit zwischen lebenden und nichtlebenden Systemen zu entdecken.
Heinz von Foerster: Was man zunächst entdeckte, war eine technische Sprache, die sich benutzen ließ, um die Operationen lebender Wesen zu erklären. Bitte erinnern Sie sich, daß ich eine Erklärung als eine semantische Brücke beschrieben habe, die zwei Beobachtungen miteinander verknüpft. Sie ist ein Phänomen der Sprache. Man stellte die Frage: Wieso hüpft der Frosch an einen bestimmten Ort? Und fand die Antwort: Weil er die Fliege, die sich an diesem Ort befindet, fressen will. Was geschah, war, daß man eine semantische Relation konstruierte, die der causa finalis des Aristoteles ähnelt: Die Ursache liegt in der Zukunft, die Handlung in der Gegenwart. Das Hüpfen des Frosches erschien als sein Versuch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Gab es weitere Arbeiten oder Denkansätze, die lebende Wesen und Maschinen in den Vorstellungen der frühen Kybernetiker ähnlich erscheinen ließen?
Heinz von Foerster: Im Jahre 1943 veröffentlichten der Neurophilosoph Warren McCulloch und ein junger brillianter Mathematiker, Walter Pitts, eine Arbeit, die von entscheidender Bedeutung war. Sie trug den Titel "A logical calculus of the ideas immanent in nervous activity" und handelte von der Funktionsweise und Impulsaufnahme und -weitergabe von Neuronen. McCulloch und Pitts zeigten, daß eine einzelne Nervenzelle die merkwürdige Eigenschaft besitzt, daß sie, wenn ein Reiz sie erreicht, entweder reagiert oder nicht reagiert, aber nichts tut, was zwischen Reaktion und Nichtreaktion liegt. Sie feuert oder sie feuert nicht, schickt über das Axon einen elektrischen Impuls oder schickt eben keinen Impuls. Wenn dieser elektrische Impuls nun eine zweite Zelle erreicht und wenn diese Zelle womöglich noch von anderen Zellen Impulse bekommt, dann entstehen merkwürdige Kombinationen. Und wieder gilt: Diese zweite Zelle, die von verschiedenen anderen Zellen Impulse bekommt, feuert oder feuert nicht. McCulloch und Pitts haben gesehen, daß sich diese Aktivität einer Zelle als die Errechnung einer logischen Funktion begreifen läßt, die da lautet: Ja oder nein! Feuern oder Nichtfeuern! Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wurde es schließlich möglich, sich Nervennetze vorzustellen, die alle logischen Funktionen errechnen. Und dann begann man weiter über diese Nervennetze zu spekulieren, die doch eigentlich, so glaubte man, in der Lage seien, über die Gültigkeit oder Nichtgültigkeit eines Satzes zu entscheiden. Man gibt einen Satz in ein Nervennetz hinein - das letzte Neuron, das von dem Impuls dieses Satzes erreicht wird, feuert nicht: Der Satz ist also falsch! Oder es feuert: Der Satz ist also wahr! Das Nervensystem läßt sich, ausgehend von diesen Annahmen, als eine Art Rechner interpretieren, der ein logisches Kalkül durchführt. Und ein Neuron erscheint aus dieser Perspektive als ein Operator, der solche logischen Funktionen berechnet. Diese faszinierenden Ideen und phantastischen mathematischen Gebilde gestatteten es schließlich, künstliche neuronale Netzwerke zu bauen.
Wieso war diese Arbeit so wichtig? Schien es auf diese Weise möglich, die Aktivitäten des Gehirns, das ja auch Sätze und Aussagen verarbeitet und bewertet, technisch zu rekonstruieren?
Die Computermetapher des Geistes
Heinz von Foerster: Natürlich. Denn das Gehirn besteht ja aus Neuronen, die über die Synapsen und die Axone miteinander gekoppelt sind. Ein solches Nervennetz läßt sich dann als ein Rechner verstehen, der Induktionen und Deduktionen gewisser Aussagen und Beobachtungen durchführt. Aber zurück zur Geschichte: Es war der berühmte Mathematiker John von Neumann, der diese Arbeit von McCulloch und Pitts zum Bau von Computern verwendete. Er zeigte, daß die Turing-Maschine und das neuronale Netz, dessen Funktionsweise McCulloch und Pitts skizziert hatten, äquivalente Operatoren darstellen. Auf diese Weise kam schließlich die Computermetapher ins Spiel, die noch heute in der kognitionswissenschaftlichen Forschung prägend ist: Man glaubte, die neuronalen Strukturen, aus denen das Gehirn besteht, nachzubilden, indem man einen Elementarcomputer schuf, der auf den Einsichten von McCulloch und Pitts basierte. Der Bau von Computern, die vermeintlich nach den Prinzipien der Neuronen funktionierten, gestattete schließlich den Rückschluß: Das Gehirn erschien als ein gewaltiger Parallelcomputer.
John von Neumann sprach sogar vom Bau künstlicher Gehirne und wies immer wieder auf die Ähnlichkeit hin, die zwischen den Schaltelementen in Rechensystemen und den Neuronen bestünde.
Heinz von Foerster: Korrekt. Allerdings betrieben nicht allein und ausschließlich die frühen Kybernetiker diese Parallelisierung von Mensch und Maschine oder von Gehirn und Computer; auch die Journalisten haben an der Verbreitung dieser Analogien ihren ganz gewaltigen Anteil. Es klang einfach aufregend, wenn man schreiben konnte: Das Gehirn funktioniert wie eine Maschine, ja, schlimmer noch, es ist nichts anderes als eine Maschine. Und dann die etwas unheimliche Umkehrung dieser Analogie: Diese Maschine arbeitet wie das menschliche Gehirn. Natürlich ist es durchaus verständlich, daß man die Fähigkeiten des eigenen Körpers auf etwas Anderes projiziert, das kommt häufig vor. In diesem Sinne spricht man von Beinen und Gelenken bei Möbeln und Maschinen. Und so wollten in den vierziger Jahren einige Autoren die schnellen Rechner durch eine sprachliche Verkleidung und bestimmte Metaphern verständlich machen. Sie schrieben über das "elektronische Gehirn" und das "Gedächtnis der Maschinen". Obwohl niemand wußte und weiß, wie das Gehirn oder das Gedächtnis funktionieren, erschien es irgendwie witzig und unterhaltend, eine Undurchsichtigkeit durch eine andere zu erklären.
In welcher Hinsicht sind derartige Analogien und Metaphern legitim und sinnvoll?
Heinz von Foerster: Es ist durchaus möglich, eine Operation, die das Gehirn durchführt, mit Hilfe eines maschinellen Mechanismus zu charakterisieren. Das ist in Ordnung. Natürlich kann ich metaphorisch sagen, daß das Gehirn, wenn mir kalt ist, den Wärmeknopf aufdreht. Und daß der Thermostat entsprechend eine bestimmte Außentemperatur erfühlt - und ebenso eine Art Wärmeknopf betätigt. Selbstverständlich ist es legitim, ein Phänomen oder eine Gruppe von Phänomenen mit Hilfe einer Metapher zu beschreiben, wobei man natürlich immer im Bewußtsein behalten sollte, daß jede Beschreibung formaler, mathematischer, quantitativer oder auch poetischer Natur immer nur einen Vergleich darstellt. Wenn man aber die metaphorische Beziehung umkehrt und sagt: So wie diese Maschine, so funktioniert auch das Gehirn, dann wird es gefährlich; man glaubt, das Gehirn zu verstehen, weil man den maschinellen Mechanismus begriffen hat, von dem man ausgeht. Man meint, das Gedächtnis zu begreifen, wenn man es als einen Speichermechanismus metaphorisiert - und beginnt vielleicht nach dem Ort zu suchen, an dem eine bestimmte Information "gespeichert" sein soll. Die Folge ist: Blindheit gegenüber dem Wunder des Gehirns. Mir ist diese Gefahr schon ziemlich früh bewußt geworden, und ich habe daher immer wieder derartige Metaphern und Analogien kritisiert. Aber man hat mir nicht zugehört; ich sprach ins Leere.
Man muß sich vergegenwärtigen, daß eine Metapher in ein bildspendendes und ein bildempfangendes Element zerfällt. Wenn ich sage, das Gehirn sei eine Maschine, so sind unsere Vorstellungen von einer Maschine bildspendend. Das bildempfangende Element ist das Gehirn. Wenn ich dagegen behaupte, eine bestimmte Maschine funktioniere wie ein Gehirn, dann ist die Maschine Bildempfänger und das Gehirn Bildspender. Das heißt: Im Falle der metaphorischen Beziehung von Gehirn und Maschine hat einmal das Gehirn das Primat und einmal die Maschine, deren Merkmale auf das Hirn übertragen werden.
Heinz von Foerster: Das kann man so sagen, ja. Was mir zentral erscheint, ist, daß ein Computer oder eine beliebige Maschine synthetisch hergestellt sind: Sie sind von uns gebaut worden und wir wissen daher auch, wie sie funktionieren. Und wenn man von der Funktionsweise einer solchen Maschine auf das Gehirn oder den Menschen zurückschließt, dann entsteht fälschlicherweise die Idee, man habe jetzt auch das Gehirn und den Menschen verstanden. Das ist das Problem: Man schließt von etwas, das bekannt und verstanden ist, auf etwas Unbekanntes und Unverstandenes - und meint daher leichtsinnigerweise, man habe auch dies begriffen. Übersehen wird, daß es Systeme gibt, die prinzipiell nicht analysierbar sind. Wer das einmal verstanden hat, dem werden diese ganzen Metaphern suspekt.
Von der Behauptung, man könne den menschlichen Geist entschlüsseln, ihn schon in naher Zukunft ganz und gar verstehen, ist ja auch die Künstliche Intelligenz und die Roboterforschung, die in vielem auf der Kybernetik aufbaut, infiziert. Der Mensch wird hier - im Rahmen einer von der Maschinenmetapher bestimmten Vorstellung - als "informationsverarbeitendes System" wahrgenommen; der Vorgang des Denkens erscheint als "Datenverarbeitung" und das Gehirn hat der große Star der Künstlichen Intelligenz, Marvin Minsky, einmal als "Fleischmaschine" bezeichnet.
Heinz von Foerster: Diese Äußerungen zeigen die suggestive Kraft solcher Metaphern: Sie haben, wie man sieht, ihre beschreibende Funktion eingebüßt und sich verselbständigt. Was hier entsteht, ist eine groteske Anbetung der Maschine. Und derartige Bilder und Ideen motivieren zu bestimmten Schritten. So bekamen die Neurophysiologen zu einer bestimmten Zeit sehr viel Geld von den verschiedensten Stiftungen, um im Zellgewebe des Gehirns nach Engrammen zu suchen: Das sollten Erfahrungen sein, die ein Mensch zu einer Zeit seines Lebens gemacht und ab diesem Augenblick, folgt man der Metapher, in seinem Gedächtnis gespeichert hat. Die Frage war: Wo ist das Wörtchen und? Wo befindet sich die Erinnerung an meine Großmutter oder an das Schnitzel, das ich heute gegessen habe? Die Suche nach den Engrammen war und ist erfolglos geblieben. Die Erinnerung ist nicht an einer besonderen Stelle des Gehirns lokalisierbar. Aber ich meine trotzdem, daß solche Vorstellungen und Metaphern gefährlich sind. Sie verführen zu einer trivialisierenden Betrachtung, sie lassen bestimmte Schritte als möglich erscheinen, die vielleicht dem Wunder des Menschen überhaupt nicht angemessen sind.
Kybernetik der Kybernetik
Diese trivialisierende Metaphorik, über die wir sprechen, läßt sich auch erkenntnistheoretisch deuten: Sie ist der sprachliche Indikator einer bestimmten erkenntnistheoretischen Position, eines mechanistischen und im Grunde genommen naiv-realistischen Denkstils. Man geht immer von der vollständigen Durchschaubarkeit und der Nachbildbarkeit eines Phänomens aus, wenn man das menschliche Gehirn als Maschine bzw. als einen Computer begreift oder das Gedächtnis als einen Speicher, der Informationen enthält.
Heinz von Foerster: Der Irrtum dieser glänzenden und hochbegabten Männer war es zu glauben, man bekomme immer bessere Modelle, um das Gehirn zu verstehen. Aber was hier übersehen wurde war, daß man ein Gehirn braucht, um ein Gehirn zu verstehen und Modelle von ihm zu entwickeln. Eigentlich muß man sich selbst erklären und verstehen, um das Gehirn zu begreifen. Die Struktur der Theorie, die ich meine, muß den Anspruch erfüllen, sich selbst zu beschreiben: Das ist, symbolisch gesprochen, der Ouroboros, die Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Auch hier kommt wieder das Phänomen der Zirkularität ins Spiel. Und ich habe versucht, als ich mit meinem Koffer europäischer Überlieferung in Amerika ankam und mit den frühen Kybernetikern zusammenarbeitete, darauf aufmerksam zu machen, daß das Konzept der Zirkularität auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht fundamental ist und sehr weitgehende Konsequenzen hat.
Wie sehen diese aus?
Heinz von Foerster: Was entsteht, ist eine vollkommene andere Haltung gegenüber dem, was man erklären will. Man gerät in eine Schleife hinein, die einen mit dem jeweiligen Gegenstand und Objekt der Betrachtung verbindet. Man muß nicht nur das Gehirn eines anderen erklären, sondern auch noch das eigene, mit dem man diese Erklärung ausarbeitet. Auf einmal sprechen die Kybernetiker über sich selbst, auf einmal entsteht eine Kybernetik der Kybernetik oder eine Kybernetik zweiter Ordnung: Die Kybernetik erster Ordnung trennt das Subjekt vom Objekt, sie verweist auf eine vermeintlich unabhängige Welt `da draußenŽ. Die Kybernetik zweiter Ordnung oder die Kybernetik der Kybernetik ist selbst zirkulär: Man lernt sich als einen Teil der Welt zu verstehen, die man beobachten will. Die gesamte Situation der Beschreibung rutscht in einen anderen Bereich, in dem man plötzlich für seine eigenen Beobachtungen die Verantwortung übernehmen muß.
Es waren Ihre Überlegungen, die den Beobachter in die Kybernetik eingeführt und den Abschied von den naiv-realistischen und mechanistischen Positionen eingeleitet haben.
Heinz von Foerster: Entscheidend ist, daß sich die gesamte Sprache in der Kybernetik zweiter Ordnung ändert; die Referenzen auf eine beobachterunabhängige Welt werden durch die Verweise auf die eigene Person ersetzt. Die Beschreibungen erscheinen immer auch als Selbstbeschreibungen. Aber es ist nicht nur die Sprache, die eine andere wird. Auch die Reflexion über den Sinn und Zweck der Beobachtungen, die man - warum auch immer - anstellt, gewinnen eine andere Dimension; man beginnt, sich darüber klar zu werden, warum man eigentlich etwas wissen oder erfahren will. Ein Erkenntnistheoretiker, der sich mit dem Problem der Kognition befaßt, stellt sich aus einer Perspektive der zweiten Ordnung immer auch die Frage, was denn das Erkennen des Erkennens bringt, welchen Sinn die Versuche haben, den Vorgang der Kognition zu erhellen. Er rechtfertigt die Erkenntnistheorie erkenntnistheoretisch. Auch die Vorstellung, die wir von einem Experiment besitzen, wird aus der Perspektive der zweiten Ordnung eine andere: Man versteht, daß die Frage, die man stellt, schon die mögliche Antwort enthält, die man bekommen kann.
Natürlich läßt sich von einer Kybernetik der Kybernetik sprechen oder von einer Kybernetik zweiter Ordnung, um jeweils die Beobachterabhängigheit allen Erkennens sprachlich zu signalisieren. Diese Begriffe gelten allerdings inbesondere für die Disziplin der Kybernetik, das ist ihr Bezugsort. Aber der Gedanke von der Beobachterabhängigkeit jeder Aussage ist natürlich viel allgemeinerer Natur: Immer gibt es die Verbindung von Subjekt und Objekt, diese enge Beziehung.
Heinz von Foerster: Das ist klar; entsprechend kann man Begriffe erster und zweiter Ordnung unterscheiden. Die Begriffe erster Ordnung basieren auf einer scheinbar objektiven Betrachtung der Welt, die zu einem Äußeren wird. Die Begriffe zweiter Ordnung lassen sich auf sich selbst anwenden; sie gestatten die strikte Trennung von Subjekt und Objekt, dem Beobachter und Beobachteten nicht mehr. Man gesteht sich ein, daß jemand, der über Fragen des Bewußtseins oder des Erkennens spricht, ein Bewußtsein und einen Erkennenden benötigt, um dies zu tun. Eine Beobachtung braucht, so wird einem klar, einen Beobachter. Die Wahrnehmung der Welt verlangt nach einem Menschen, der diese wahrnimmt.
Die Parabel vom blinden Fleck
Können Sie den Begriff der zweiten Ordnung an einem Beispiel illustrieren?
Heinz von Foerster: Ja, man denke nur an das Experiment mit dem Blinden Fleck. Mit einem Auge fixiert man einen Stern - und der schwarze Punkt, der noch eine gewisse Zeit zu sehen ist, verschwindet in einem bestimmten Abstand vom Auge. Er wird unsichtbar. Die physiologische Erklärung lautet, daß der schwarze Punkt in diesem bestimmten Abstand auf einen Bereich der Retina fällt, an dem sich keine Stäbchen und Zapfen befinden und der optische Nerv das Auge verläßt. Was man aber mit dieser physiologischen Argumentation noch nicht geklärt hat, ist die Frage, warum man den Blinden Fleck nicht sieht und warum wir von seiner Existenz nichts ahnen.
Das Gesichtsfeld erscheint uns stets geschlossen; es gibt keine unsichtbaren Stellen. Mit anderen Worten: Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen. Wir sind blind gegenüber unserer eigenen Blindheit, das ist ein Beispiel für eine Problematik der zweiten Ordnung. Das Nichtsehen wird auf sich selbst angewendet. Aber: Die doppelte Verneinung (das Nichtsehen des Nichtsehens) ergibt keine Bejahung. Daß wir sehen, daß wir nicht sehen, heißt nicht, daß wir jetzt sehen. Und das bedeutet, daß sich die Logik der Begriffe zweiter Ordnung nicht mit der orthodoxen Logik verträgt. Denn demgemäß müßten zwei Verneinungen eigentlich eine Bejahung ergeben.
Der Begriff der zweiten Ordnung wird in dem Beispiel, das Sie gewählt haben, ex negativo erläutert. Es handelt sich hier um ein Selbstanwendungsproblem aus der Perspektive der Verneinung. Wir sehen nicht, daß wir nicht sehen.
Heinz von Foerster: Völlig richtig. Natürlich läßt sich auch eine Illustration ex positivo finden. Man denke nur an den Begriff des Zwecks oder Ziels im aristotelischen Sinn. Aus der Perspektive der zweiten Ordnung lautet die Frage: Was ist das Ziel des Ziels? Was ist der Zweck des Zwecks? Warum wird die Idee eines Zwecks überhaupt eingeführt? Wenn ich mit dem Flugzeug unterwegs bin, beobachte ich immer wieder meine Sitznachbarn und sehe mir an, wie sie ihre Schuhe zuschnüren. Wenn das Flugzeug losfliegt, ziehen sich die Leute ihre Schuhe aus. Wenn wir uns dem Ziel nähern, ziehen sie sie wieder an. Sie fädeln die Schuhbänder durch die Löcher und vollführen einen merkwürdigen Tanz mit zehn Fingern: Sie kreieren eine Schleife. Die Beobachtung meiner Sitznachbarn hat ergeben, daß sie alle verschieden tanzen, daß jeder Mensch andere Fingerbewegungen vollzieht, um eine Schleife zu binden. Ein Physiker würde nun eine Differentialgleichung der Fingerbewegungen aufschreiben, lauter verschiedene Gleichungen erhalten - und daher das Phänomen des Fingertanzes für unerklärbar halten. Aus einer teleologischen Sicht ist der Tanz der Finger ganz einfach zu erklären: Er dient dazu, eine Schleife zu binden und den Schuh zuzuknüpfen. Die Idee des Zwecks hat hier - aus einer Perspektive der zweiten Ordnung betrachtet - eine enorme Vereinfachung und Eindeutigkeit der Erklärungen geschaffen. Das ist der Zweck des Zwecks.
Die Begriffe erster Ordnung sind also auf der Ebene des noch nicht erkenntnistheoretisch reflektierten Wahrnehmens und Handelns anzusiedeln. Die Begriffe zweiter Ordnung lassen die erkenntnistheoretische Dimension hinzutreten - und machen die besonderen Interessen eines Beobachters sichtbar, der beispielsweise den Begriff des Zwecks verwendet. Gemeinsam könnten wir jetzt die Abstraktionsleiter noch eine Stufe weiter hinaufklettern und uns aus der Perspektive einer dritten Ordnung die Frage stellen: Was bringen die Begriffe zweiter Ordnung? Was kann man auf dieser Ebene beobachten?
Heinz von Foerster: Sie haben die Antwort schon angedeutet. Die Begriffe zweiter Ordnung entbergen Einsichten in den Prozess des Beobachtens, die auf der Ebene der ersten Ordnung gar nicht möglich sind. Auf dieser Ebene handelt man einfach, verwendet bestimmte Konzepte, Vorannahmen und Theorien, die nicht reflektiert werden. Erst auf der Ebene der zweiten Ordnung entsteht die Möglichkeit der Selbstreflexion. Nichts ist mehr einfach da, nichts ist mehr selbstverständlich. Entscheidend ist, daß der Beobachter für seine Beobachtungen, sein Sprechen und sein Handeln verantwortlich wird. Er ist untrennbar mit dem Gegenstand und Objekt seiner Beschreibung verbunden. Der epistemologische und der logische Bereich der eigenen Aussagen gelangt in eine neue Dimension.
Alle Kreter lügen
Das liegt wohl daran, daß die Beschreibungen der zweiten Ordnung immer auch selbstbezüglich sind. Und wenn man selbstbezügliche Aussagen auf das Gebiet der klassischen aristotelischen Logik überträgt, entstehen Paradoxa.
Heinz von Foerster: Ja, denken Sie nur an Epimenides, der von der Insel Kreta kam und sagte: "Ich bin ein Kreter. Alle Kreter lügen." Man kann diesen Satz verkürzen: "Ich bin ein Lügner!" Was macht man mit einem Menschen, der sagt: "Ich bin ein Lügner"?! Glaubt man ihm? Dann kann er ja kein Lügner sein, also hat er die Wahrheit gesprochen. Wenn er die Wahrheit gesprochen hat, dann hat er aber gelogen, denn er sagt: "Ich bin ein Lügner." Was Logiker seit jener Zeit und bis gestern auf die Palme gebracht hat, ist, daß die Aussage des Epimenides der aristotelischen Forderung - "ein sinnvoller Satz muß entweder wahr oder falsch sein" - nicht genügt. Der Satz wird falsch, wenn man ihn für wahr hält und wahr, wenn man ihn für falsch hält.
Die Verwirrungsversuche des Epimenides haben etwas Sinnloses. Man weiß nie, ob dieser Kreter die Wahrheit sagt oder ob er lügt.
Heinz von Foerster: Vorsicht! Was sich feststellen läßt, ist, daß selbstbezügliche Aussagen in dieser Weise charakterisiert wurden: Man hat behauptet, sie seien sinnlos. Denn sie zwingen einen, so das Argument, ständig von einem Ja zu einem Nein, von einem Nein zu einem Ja überzugehen. Man erinnere sich nur an berühmte Paradox mit dem Barbier, der in einer kleinen Stadt lebt und alle Menschen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert sich der Barbier selbst? Wenn er sich selbst rasiert, dann darf er sich nicht rasieren, denn er rasiert ja nur jene Menschen, die sich nicht selbst rasieren. Und wenn er sich nicht rasiert, dann muß er sich rasieren, da er jene Menschen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Schon im Vorwort der "Principia Mathematica", die Bertrand Russel und Albert North Whitehead verfaßt haben, werden selbstbezügliche Aussagen dieser Art gewissermaßen verboten. Es ist diesen hervorragenden Logikern durchaus klar, daß es die Selbstbezüglichkeit sein muß, die das merkwürdige Paradoxon erzeugt. Das heißt, daß genaugenommen schon das Wörtchen Ich, das ja stets diese Selbstbezüglichkeit etabliert, nicht mehr verwendet werden dürfte. Das ist natürlich grotesk.
Wie gehen Sie in Ihren eigenen Arbeiten mit der Dimension der Selbstbezüglichkeit um?
Heinz von Foerster: Sie wird in den Begriffen der zweiten Ordnung nicht negiert, sondern akzeptiert. Die Akzeptanz der Selbstbezüglichkeit geschieht jedoch nicht auf der Basis irgendeiner ontologischen Idee, sondern auf der Grundlage einer ausgesprochen dynamischen Konzeption: Die klassische Logik geht vom Sein aus. Eine Aussage ist entweder wahr oder falsch. Die Akzeptanz des Paradoxons, für die ich plädiere, führt die Dynamik der Zustände wieder ein. Man redet nicht mehr vom Sein eines Zustandes, sondern vom Werden, integriert die zeitliche Dimension. Es entsteht ein Flip-Flop-Mechanismus: Das Ja generiert das Nein, das Nein generiert das Ja. Die Wahrheit einer Aussage erzeugt die Falschheit; und die Falschheit erzeugt die Wahrheit.
Mir ist noch nicht klar, welche logischen Formalismen Sie verwenden, um die Selbstbezüglichkeit zu integrieren.
Heinz von Foerster: Eines Tages wurde in der Geschichte der Menschheit eine nichteuklidische Geometrie erfunden. Und in ähnlicher Weise hat sich vor einiger Zeit eine nichtaristotelische Logik entwickelt, in der es heute diverse Richtungen gibt. Die verschiedensten Autoren haben immer wieder darauf hingewiesen, daß das Paradoxon nicht diese fürchterliche Todespille der Logik darstellt, sondern daß es durchaus eine Bereicherung sein kann, um über selbstreferentielle Begriffe - Zweck, Bewußtsein, Erkenntnis - zu sprechen. Man denke nur an die Arbeiten des Philosophen Gotthard Günther, der mit einer Art mehrwertigen Logik, die "place-value-logic" genannt wird, die zweiwertige Logik transzendiert und auf unerhörte Weise bereichert hat. Günther untersucht das Erscheinen eines Satzes, seinen logischen Platz. Und es entsteht eine neue Art von Logik, die das Äußern eines Satzes erlaubt oder nicht erlaubt und für die es daher gar kein Problem ist, mit den Paradoxa fertigzuwerden. Verwiesen sei auch auf die paradoxale Logik, die George Spencer-Brown in seinem Buch "Laws of form" präsentiert. Spencer-Brown stellte die Entstehung dieser neuen Dimension, die jeweils gerade das Gegenteil von dem erzeugt, was sie soeben generiert hat, zum ersten Mal formal dar. Es geht nicht um etwas Statisches, sondern um ein dynamisches Eigenverhalten. Auch die Arbeiten von Lars Löfgren möchte ich nennen, er befaßte sich ausschließlich mit selbstreferentiellen Propositionen und sprach von Autologik.
Können Sie ein Beispiel geben für eine solche autologische Aussage?
Heinz von Foerster: Nehmen Sie nur die Frage: Was ist Sprache? In dem Moment, in dem man diese Frage stellt, wird Sprache erzeugt. Sprache läßt sich nicht ontologisch und mit dem Hinweis auf irgendein merkwürdiges Organ, von dessen Existenz der Linguist Noam Chomsky ausgeht, erklären, sondern nur ontogenetisch. Sprache ist nicht, sie geschieht. Die Frage "Was ist Sprache?" beantwortet sich selbst, indem sie ausgesprochen wird. Das ist eine Art logischer Purzelbaum, eine autologische Struktur! Auch hier finden wir wieder das Prinzip der Zirkularität.
Darf ich zusammenfassen? Sie haben zu Beginn dieses Gesprächs die zirkuläre Kausalität als kybernetisches Grundprinzip beschrieben, auf die Zirkularität allen Erkennens hingewiesen und die Konturen einer Kybernetik der Kybernetik skizziert. Schließlich kam die Frage nach einer neuen Logik auf, die die selbstbezüglichen Aussagen der zweiten Ordnung nicht verbietet, sondern gestattet. Immer ging es darum, die Idee der Zirkularität mit all ihren Konsequenzen zu bedenken.
Heinz von Foerster: Tadellos, das ist ein schöner Schluß unseres Gesprächs über Kybernetik und Zirkularität. Und dieser Schluß ist kein Ende, sondern wieder ein Anfang, der nicht zu einem endgültigen Ende führt, sondern wieder ein Anfang sein kann. Zeit ist immer implizit. Man erinnert sich an Heraklits Ausspruch "Alles fließt." Dann setzte er manchmal noch hinzu: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen." Meine Paraphrase zu dem ist: "Man kann nicht zweimal in dasselbe Gesicht schauen." Das einmal gesehene Gesicht sieht man nie wieder, es ist - so wie alles andere - für immer vergangen. Aber ich kann zweimal in das Gesicht von Onkel Theobald schauen, denn es ist die Sprache, die den Strom der Zeit anhält. Es existiert keine Statik, es gibt keine Endgültigkeit des Anfangs und des Endes. Diese Purzelbäume, die hier vollführt werden, lassen sich lernen, ja, ich würde sogar sagen: Man kann sie im Moment des Purzelns genießen.
Hinweis: Dieses Gespräch ist ein Vorabdruck des im April erscheinenden Buches von Heinz von Foerster und Bernhard Pörksen: "Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker." Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg; 192 Seiten.