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Seite 2: Kurz- und langfristige Folgen des Brexit

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Doch welche ökonomischen Folgen der Brexit haben wird, ist längst nicht geklärt. Vor allem der Zugang zum EU-Binnenmarkt ist für die Exportwirtschaft und die Finanzindustrie von entscheidender Bedeutung. Aber dann müsste Großbritannien auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit akzeptieren, denn zum EU-Binnenmarkt und auch zum Europäischen Wirtschaftsraum gehören die sogenannten vier Grundfreiheiten: freier Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital - und Personen. Mit dem "harten Brexit" macht May deutlich, dass sie das Hauptmotivation der Brexiters ernst nimmt: den Zuzug vor allem aus Polen zu begrenzen, den das Land in den vergangenen Jahren erlebt hat.

Immerhin sind bisher, also kurzfristig, keine negativen ökonomischen Folgen durch den Brexit-Entscheid aufgetreten. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Börsen haben sich vom anfänglichen Schock erholt. Entsprechend konnte die Konservativen auf ihrem Parteitag ein Bild vom starken Großbritannien zeichnen, das für den EU-Austritt bestens gerüstet ist. Wie Finanzminister Philip Hammond auf dem Tory-Parteitag sagte, könne die Regierung die Verhandlungen aus einer Position der ökonomischen Stärke heraus beginnen:

Die Beschäftigungsrate steigt, die Löhne steigen. Das Haushaltsdefizit ist gering und die Einkommenssteuer wurde für 10 Millionen Menschen gesenkt.

Philip Hammond

Schottland bleibt dabei?

Aber langfristig? Ganz so problemlos sieht wohl auch die Regierung die Lage nicht, denn immerhin hat Finanzminister Hammond auf dem Tory-Parteitag das bisherige Ziel, weniger Schulden zu machen, aufgegeben. Hammond versprach auch, dass die Regierung alle Geldmittel ersetzen werde, die vor dem Vollzug des Brexit aus Brüssel zugesagt wurden.

Eine Gefahr scheint nicht mehr so groß zu sein: der Zerfall von Großbritannien durch eine Unabhängigkeitserklärung von Schottland. Jedenfalls ist es verdächtig ruhig geworden, nachdem die schottischen Unabhängigkeitsbefürworter nach dem Brexit-Entscheid getönt hatten, jetzt das damals verlorene Referendum wiederholen zu wollen.

Die Begeisterung für Europa sei einer nüchternen Bestandsaufnahme gewichen, kommentierte die FAZ (24.09.2016). Und dazu gehöre auch, dass die schottische Wirtschaft das restliche Großbritannien als Absatzmarkt brauche. Und die schottische Finanzindustrie, nach der Ölindustrie der zweitwichtigste Wirtschaftssektor, brauche die City of London.

Und die EU?

Die Europäische Union bereitet sich jedenfalls darauf vor, dass die Beziehungen mit Großbritannien von Grund auf neu geregelt werden müssen. Rechtliche Grundlage ist die Mitgliedschaft in der WTO, am Ende könnten Freihandelsverträge stehen wie mit den USA oder Kanada. Die EU hat ein Interesse daran, denn es gehen mehr Exporte vom Kontinent auf die Insel als umgekehrt. Aber das auszuhandeln kann Jahre dauern, wie die Geschichte solcher Freihandelsabkommen zeigt.

Politisch war der Brexit auf jeden Fall eine "Klatsche" für Brüssel. Konsequenzen gezogen wurden aber dort bislang keine. Wer dachte, nach dem Austritt eines großen Mitgliedslandes würde quasi automatisch der Kommissionspräsident seinen Rücktritt erklären, sah sich getäuscht. Außerdem sind die EU-Mitglieder in zentralen Fragen wie der Flüchtlingskrise derart uneinig, so dass ein gemeinsames Voranschreiten gerade unmöglich ist. Der Sondergipfel von Bratislava, der eigentlich ein Befreiungsschlag hätte werden sollen, blieb erfolglos und legte alle Meinungsverschiedenheiten offen (Reset: Die Post-EU nach dem Brexit).

EU-Armee ohne Großbritannien

Und doch sind erste Veränderungen sichtbar, und zwar in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik: EU-Politiker wittern nämlich nach dem Brexit-Entscheid die Chance, den Aufbau militärischer EU-Kapazitäten neben der NATO voranzutreiben, die Großbritannien immer blockiert hatte.

Die Vorlage machte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 14. September in seiner Rede in Straßburg: "Europa muss mehr Härte zeigen", sagte er. Konkret forderte er ein gemeinsames Hauptquartier, einen Europäischen Verteidigungsfonds und eine ständige strukturierte Zusammenarbeit für die Mitgliedsstaaten, die das wollen:

Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, unsere Interessen und die europäische Art zu leben zu verteidigen.

Jean-Claude Juncker

Deutschland und Frankreich preschen vor

Und so legten Deutschland und Frankreich pünktlich zum informellen Treffen den EU-Verteidigungsministern im slowakischen Bratislava eine neue Initiative vor:

Nun ist die Zeit gekommen, um unsere Kooperation zu vertiefen, um die optimale Ausschöpfung des gesamten Potentials der EU Verträge zu erreichen. Unter der Prämisse der Entscheidung des Vereinten Königreichs, die Europäische Union zu verlassen, ist es nun unser Ziel, zu 27 weiter voranzuschreiten.

Doch solange die Briten EU-Mitglied sind, wird daraus wohl nichts, da London jede derartige Initiative bis zum Brexit blockieren will.

Oberstes Gericht gefragt

Wer den Brexit-Antrag letztlich beschließen kann, ist in Großbritannien übrigens umstritten. Die Frage ist nämlich, ob das Parlament den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages absegnen muss. Dort heißt es:

Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

Artikel 50

Die Regierung May argumentiert nun, dass das Parlament mit der Entscheidung, ein Referendum abzuhalten, die Entscheidung abgegeben hat. Nachdem das Volk für den Brexit gestimmt habe, könne die Regierung jetzt den Austrittsantrag stellen. Doch das sehen nicht alle Briten so, es gibt derzeit mehrere Klagen dagegen. Am Ende wird die Frage wohl vom Obersten Gericht, dem Supreme Court entschieden werden müssen.