"Wir wohnen jetzt hier!"
Der Streit um Studiengebühren nimmt an Schärfe zu. Seit vier Wochen halten Studenten das Rektorat der Universität Bielefeld besetzt. In anderen Städten bahnen sich ähnliche Auseinandersetzungen an
Die Schlafsäcke, die derzeit im Rektorat der Universität Bielefeld herumliegen, wären sicher geeignet, symbolträchtig auf den Zustand der deutschen Bildungslandschaft hinzuweisen. Denn was grundlegend modernisiert werden müsste, wird derzeit oft nur mit neuen Etiketten beklebt, auf denen klangvolle Bezeichnungen für internationale Studiengänge, furchteinflößende Wortschöpfungen wie Exzellenz-Cluster oder Reizworte wie Studiengebühren stehen.
An der nicht eben zeitgemäßen Ausstattung vieler Universitäten, an undemokratischen, aber durch und durch bürokratischen Strukturen, an der verbesserungsbedürftigen bis katastrophalen Bilanz von Forschung und Lehre ändert sich vorerst nichts - und deshalb werden die Schlafsäcke jetzt gebraucht. Seit dem 1. Februar 2006, als in Anwesenheit von etwa 3.000 Studentinnen und Studenten im Audimax der Bielefelder Universität die Einführung von Studiengebühren durch die professorale Mehrheit der Senatsmitglieder angekündigt wurde, hält der akademische Nachwuchs das Rektorat seines Bildungstempels besetzt.
Zu vergleichbaren Aktionen ist es in den vergangenen Monaten auch in anderen Städten der Bundesrepublik gekommen, doch die Ostwestfalen könnten ihre Kommilitonen in puncto Ausdauer um einiges übertreffen.
20 bis 70 Studenten sind rund um die Uhr im Einsatz oder wenigstens vor Ort, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ihnen geht es um die Aussetzung der geplanten Studiengebühren in Höhe von 500 € pro Semester, welche die Universitäten nach einem Beschluss der Landesregierung selbständig einführen können. Darüber hinaus wollen sie die Rücknahme der Entwürfe zum Hochschulfreiheitsgesetz, eine weitgehende Demokratisierung der Hochschulgremien und den Rücktritt von Rektor Dieter Timmermann erreichen, der die Senatsentscheidung „auf unzulässige Art und Weise“ beeinflusst haben soll.
Die Fronten sind derzeit so verhärtet, dass – außer in einem neu geschaffenen Internet-Forum - nicht einmal miteinander gesprochen wird. Die Mitarbeiter des Rektorats beschäftigen sich vorübergehend in anderen Büros, und die Besetzer, denen der AStA immerhin das Essen spendiert, haben beschlossen, ihren Protest auf unbestimmte Zeit zu verlängern und überhaupt erst dann in Verhandlungen zu treten, wenn ihre Forderungen – mit eventueller Ausnahme des Rücktrittsgesuchs – ernst genommen werden. Bis dahin sollen Arbeitsgruppen inhaltliche Positionen abstecken, Pressetexte erarbeiten und die Infrastruktur im Auge behalten. Manchmal widmen sich die Aktivisten aber auch sinnfreien Beschäftigungen, gibt einer ihrer Sprecher freimütig zu.
Überhaupt würde Idris Riahi wie die meisten anderen Besetzer am liebsten gleich nach Hause gehen. „Wir wohnen jetzt hier, aber wir bleiben nicht, weil wir wollen, sondern weil wir müssen“, sagt Riahi und bezieht sich damit eben nicht allein auf den Protest gegen Studiengebühren, die seiner Meinung nach zu einem sozialen und gesellschaftlichen Ungleichgewicht führen und nur der Sachzwanglogik chronisch unterfinanzierter Universitäten geschuldet sind. Für ihn stehen die Transparenz hochschulinterner Entscheidungen und die studentische Mitbestimmung auf dem Spiel.
In einer Resolution weisen die Protestierenden folgerichtig darauf hin, dass die 252 Professoren der Universität Bielefeld im Senat mit zwölf Sitzen vertreten sind, während die 17.500 Studierenden lediglich vier Sitze beanspruchen dürfen.
Auch wenn der Streit an Schärfe zunimmt – die große Mehrheit scheint er kaum zu tangieren. Im Gespräch mit Telepolis beschreibt Idris Riahi die Beteiligung an der Besetzung des Rektorats als „mager“. Der „harte Kern“ besteht nur aus 20 bis 30 Studierenden, und nicht wenige Kommilitonen sind offenbar der Meinung, man habe das Ganze lassen oder zeitlich begrenzen sollen. Riahi sieht das gelassen. Manche Leute seien halt nicht politisch, die würden sich nicht mal bewegen, wenn seine Gruppe im Rektorat FÜR Studiengebühren demonstrieren wollte.
Das sieht in anderen Städten ähnlich aus, doch die Entwicklung könnte in den nächsten Monaten und Jahren noch eine ungeahnte Dynamik entfalten. In Berlin und Brandenburg wird es wohl vorerst bei Verwaltungsgebühren in Höhe von rund 51 € pro Semester bleiben. Die anderen ostdeutschen Ländern wollen allenfalls Langzeit- oder Zweitstudiengebühren von bis zu 500 € bei Überschreiten der Regelstudienzeit erheben. Bremen verlangt Ähnliches und überdies 500 € von Studierenden, die ihren Erstwohnsitz außerhalb der Hansestadt haben, und in Rheinland-Pfalz plant die sozial-liberale Regierung, so sie denn noch länger im Amt ist, vorerst nicht über die 650 € hinauszugehen, die an Langzeitgebühren für die Überziehung des Studienkontos fällig werden.
500 Euro Studiengebühren – aber für was genau?
Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen werden jedoch im Wintersemester 2006/07, spätestens aber ab dem Sommersemester 2007 allgemeine Studiengebühren im Umfang von bis zu 500 € pro Semester einführen. Sie berufen sich auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die von der früheren rot-grünen Bundesregierung gewährte Garantie eines gebührenfreien Erststudiums im Januar vergangenen Jahres für verfassungswidrig erklärte. Von diesem Urteil will dann vermutlich auch Schleswig-Holstein profitieren, und im Saarland wurde vor wenigen Tagen die Erhebung von Studiengebühren ab dem Wintersemester 2007/08 beschlossen.
Die ASten der saarländischen Hochschulen lehnten die Entscheidung, die ihrer Einschätzung nach auf einem Hinterhof des Universitätsgeländes zustande gekommen ist, in einer ersten Stellungnahme als „skandalös“ ab. „Wenn sechs Leute im Stehen auf einem Parkplatz eine derart bedeutende hochschulpolitische Leitentscheidung treffen, verdeutlicht das die Intransparenz und Unseriosität des gesamten Verfahrens“, monierten die Studierendenvertreter und verknüpften den Protest gegen Studiengebühren wie ihre Bielefelder Kommilitonen mit der Forderung nach mehr Öffentlichkeit und Mitbestimmung. Andernfalls sei ein „Massenexodus nach Rheinland-Pfalz“ zu befürchten.
In Schleswig-Holstein stehen die Zeichen ebenfalls auf Sturm. An der Universität Kiel wurde die Einführung von Studiengebühren bereits angekündigt, weil sich die Chefetage eh zu Höherem berufen fühlt. Prorektor Thomas Bauer verlangte beim Neujahrsempfang mehr Raum für kreative wissenschaftliche Leistungen und weniger Vorschriften von Politik und Gesellschaft. „Lasst die Universitäten endlich in Ruhe“, forderte er vor 380 geladenen Gästen und bezeichnete in einem Anfall von Modernisierungsunlust sowohl die Studienreform mit der Umstellung auf Bachelor und Master als auch die Evaluationen, Hochschulrankings und Universitätsstrukturreformen des Landes als „Hindernisse, die Universitätsprofessoren heute von ihrer eigentlichen Aufgabe abhalten“.
Das behaupten die Studierenden im hohen Norden aber auch von den angestrebten Gebühren und kündigten pünktlich zu einer möglichen Beschlussfassung des Landtages energischen Protest an. Bereits im Januar hatten einige von ihnen das Verwaltungshochhaus der Universität elf Tage in Beschlag genommen. „Jetzt kommt es darauf an, dass sich studentischer Widerstand hörbar und geschlossen zu Wort meldet, sobald das Gesetz auf dem Tisch liegt“, erklärte der Kieler AStA.
Dabei geht es auch in Kiel nicht nur um die Frage der Gebühren, sondern ebenso um die von Wirtschafts- und Wissenschaftsminister Dietrich Austermann (CDU) favorisierte Fusionierung der Universitäten Kiel, Flensburg und Lübeck. Außerdem will Austermann den Rektor, der bislang von den Hochschulgremien gewählt wird, durch einen Präsidenten ersetzen, der von einem externen Hochschulrat bestimmt wird. Diese Regelungen würden das Mitbestimmungsrecht der Studierenden zweifellos erheblich beeinflussen.
Ob der Protest zu den gewünschten Ergebnissen führt, darf zumindest so lange bezweifelt werden, wie sich nur ein Bruchteil der Studentinnen und Studenten an den Aktionen beteiligt. Achtungserfolge sind immerhin möglich, wie das Beispiel der Universität Paderborn zeigt. Auch hier wurde die Schaltzentrale im Februar mehrere Tage zweckentfremdet und Rektor Nikolaus Risch zu einer Stellungnahme provoziert, die einer offenen Drohung einigermaßen ähnlich sah.
Ich sehe es als meine Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber an - und verstehen Sie das bitte als sehr ernst gemeinte Mitteilung: Was Sie hier seit einer Woche tun, ist eine massive Störung der Arbeit der Universität und erzeugt einen schweren ideellen, finanziellen und auch psychischen Schaden. (...) Ihre Aktionen sind illegal und erfüllen den Tatbestand des Hausfriedensbruchs. Ich fordere Sie nachdrücklich auf, sich umfassend zu informieren (also auch an neutralen Stellen), welche Konsequenzen ein Straftatbestand Hausfriedensbruch für Sie persönlich und individuell bedeuten kann. Sagen Sie bitte irgendwann nicht: „Das habe ich nicht gewusst“.
Prof. Dr. Nikolaus Risch
Mittlerweile haben sich die Parteien angenähert. Risch will das Thema Studiengebühren zur erneuten Beratung in den Senat einbringen, seine ungeladenen Gäste räumten daraufhin das Feld, gestatteten sich aber einen deutlichen Hinweis darauf, dass der „Widerstand gegen ein ungerechtes und selektierendes Bildungssystem“ noch keineswegs beendet sei.
Das ist schon deshalb sinnvoll, weil die Einführung von Studiengebühren neue soziale und gesellschaftliche Probleme aufwirft und die gerade in Deutschland besonders drängende Frage, wie der Hochschulzugang unabhängig vom elterlichen Einkommen gewährleistet werden kann, noch einmal verschärft. Mit einem Gebührendarlehen, das in reiferen Jahren einkommensabhängig zurückgezahlt werden soll, sind diese Schwierigkeiten nur teilweise zu beheben, weil sich ein solches Darlehen inklusive BAföG unter Umständen auf rund 50.000 € belaufen kann.
Ebenso wichtig wie Berücksichtigung der individuellen Folgen ist aber die offene Diskussion über die Höhe, die Fließrichtung und schließlich die Berechtigung von Studiengebühren. Dass sich die meisten westdeutschen Bundesländer und ihre Universitäten stillschweigend auf 500 € pro Semester geeinigt zu haben scheinen, ergibt aus Sicht der potenziellen Einzahler ebenso wenig Sinn wie die Undurchschaubarkeit der Verwendungszwecke, die den Verdacht nahe legen, dass hier einmal mehr Unsummen in Fässern ohne Boden verschwinden.
Davon abgesehen können die wenigsten Universitäten in Deutschland momentan ein Studium anbieten, dass 500 € pro Semester wert wäre. Dazu fehlt es ihnen an Ausstattung und Personal, modernen Strukturen, flachen Hierarchien und viel zu oft an internationaler Konkurrenzfähigkeit. Wenn die Studierenden noch nicht einmal eine klare Vorstellung davon haben, wofür sie denn überhaupt zahlen sollen, wird man ihnen den hartnäckigen Widerstand, so er denn friedlich bleibt, kaum verübeln können.