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Wird Syriens Schicksal von Russland, Türkei und Iran bestimmt?

"Wir sind bereit, Afrin zu verteidigen, mehr denn je". YPG-Press-Office. Screenshot Video/YouTube

Die syrischen Kurden und Syrien nach dem IS: Ein föderales, demokratisches Syrien wird nicht mal als Option in die Gespräche und Verhandlungen eingebracht

Am vergangenen Mittwoch trafen sich die Präsidenten Russlands, der Türkei und Irans (G3-TIR) im russischen Sotschi, um über Syrien zu beraten. Die USA und die UN sind mit ihren Genfer Treffen zur gleichen Frage zeitlich im Verzug. Die Konkurrenz der beiden Kontrahenten USA und Russland um geopolitischen Einfluss ist einer demokratischen Lösung nicht gerade förderlich.

Es besteht die Gefahr, dass die Kurden und ihre Verbündeten auf der Strecke bleiben. Die Türkei, der neue Satellit Russlands bereitet einen Angriff auf den nordsyrischen Kanton Afrin vor, um durch außenpolitische Erfolge vom innenpolitischen Niedergang ablenken zu können. Ob diese Rechnung aufgeht?

Das deutschsprachige, russlandfreundliche Medium Sputniknews feierte die Geburt der "G3 TIR" als historisches Ereignis [1]. Russland hätte entgegen allen Prognosen der syrischen Regierung geholfen, einen Großteil Syriens wieder unter ihre Kontrolle zu bekommen und dadurch seinen eigenen geopolitischen Einfluss in der Region gestärkt.

Dabei geht es allen drei Akteuren einerseits um den Zugriff auf die Ressourcen im Irak wie in Syrien und um die politische Kontrolle in Syrien; andererseits will man auch den Einfluss des Westens und den USA im Nahen Osten schwächen.

Iranische Ambitionen

Iran ist direkter Gewinner der Verhandlungen. Man hat nun freie Bahn für Handelsgeschäfte von Teheran über Syrien bis ans Mittelmeer. Eine schiitische Achse von Iran über den Irak und Syrien bis zur Hisbollah im Libanon ist greifbar nahe. Die zunehmende Islamisierung der Türkei kann Iran nur Recht sein.

Dabei ist es zweitrangig, dass die Türkei mehrheitlich sunnitisch geprägt ist. Iran geht es vor allem darum, auf der Weltbühne mehr Gewicht zu haben und seine internationalen Beziehungen auszubauen.

Türkische Ambitionen

Die Türkei profitiert ebenfalls von dem Deal, denn sie kann ihre Frontstellung gegen die Kurden in Nordsyrien und im Nordirak ausbauen. Noch scheint es zwischen Russland und der Türkei Ungereimtheiten zu geben, was den Umgang mit den kurdischen Gebieten betrifft. Dissens gibt es noch beim weiteren Vorgehen in der Provinz Idlib und bei der türkischen Unterstützung islamistischer Gruppen.

Was die Verhinderung der nordsyrischen Partei PYD an künftigen Verhandlungstischen betrifft, so hofft Erdogan vor allem auf Iran, aber auch auf das Einlenken Russlands. Die USA ist im Hinblick auf die politische Zukunft Syriens für die Türkei kein Partner mehr, da diese an einer Zusammenarbeit mit der nordsyrischen Föderation festhalten. Das geschieht nicht ohne Eigennutz.

Würden die USA die Zusammenarbeit mit den Kurden in Nordsyrien aufgeben, würden sie ihr letztes Einflussgebiet in dieser Region verlieren. Auch so schon ist das Trio USA, Israel und Saudi-Arabien für das Trio Russland, Iran und Türkei keine wirkliche Konkurrenz in Syrien.

Wirtschaftlich geht es der Türkei bei der Annäherung an Russland vor allem um den Bau der Gaspipeline Turkish Stream und den Bau des türkischen Atomkraftwerkes in Akkuyu [2] (einem Erdbebengebiet, Anm. d. Verf.). Die Türkei braucht jetzt, wo ihr reihenweise westliche Investoren abhanden kommen, dringend neue Wirtschaftspartner.

Russische Ambitionen

Russlands Ziel in Bezug auf die Türkei ist, diese aus dem Nato-Verbund herauszulösen. Die Nähe der Türkei zu Russland und der damit verbundene Machtverlust des Westens am Bosporus sichert Russland Zugang zu Öl und neuen Märkten. Dass die Abkehr der Türkei von westlichen Werten eine Islamisierung mit sich bringt und die Hälfte der westlich und säkular orientierten türkischen Bevölkerung der Verfolgung preisgibt, scheint Putin wenig zu interessieren. Dem Problem kann man sich später widmen, mag er denken.

In Syrien verfolgt Putin das Ziel, Assad in Verhandlungen mit den oppositionellen Gruppen zu Kompromissen zu bewegen. Der russische Einfluss auf die syrische Regierung ist schon seit jeher institutionalisiert und steht nicht zur Debatte. Mit Blick auf die Türkei und die Kurden riskiert Putin keinen Konflikt mit den USA und deren Verbündeten. Im Vorfeld des Gipfels gab es Telefonate [3] zwischen Putin, Trump und dem saudischen König Salman bin Abdulaziz.

Das neue Syrien wird "organisiert"

Am vergangenen Montag traf sich Putin mit Assad, um dessen Position zu hören und um ihm Russlands Pläne nahezubringen. Laut Putin hat sich der syrische Präsident nun zu einer umfassenden Verfassungsreform sowie baldigen Neuwahlen bereit erklärt [4]. Aber es scheint, als ob die Zukunft Syriens von den "G3" organisiert werde.

Russland kommt eine wichtige Rolle bei der Frage zu, welchen Stellenwert die verschiedenen Minderheiten in Syrien bekommen und welchen Status die verschiedenen Regionen im Land erhalten [5]. Bis jetzt haben Russland und die USA bzw. die Anti-IS-Allianz, wenn auch verhalten, die Gebiete der "demokratischen Föderation Nordsyrien" vor zu aggressiven Einmischungen der Türkei geschützt.

Allerdings haben Iran und die Türkei keinerlei Interesse an einer mehrheitlich kurdisch verwalteten Region in Syrien. Zu groß ist bei beiden die Angst, dass dies die kurdische Bevölkerung in den Kurdengebieten ihres Landes beflügeln könnte. Damit befinden sie sich im Einklang mit der irakischen Regierung und mit Syriens Machthaber Assad.

Die drei Länder scheinen sich einig zu sein, dass Assad zumindest vorläufig im Amt bleibt. Ein "Syrischer Nationaler Dialog-Kongress", an dem die Opposition und Assad beteiligt sein sollen, bekommt die Aufgabe, eine Roadmap für "Syrien nach dem IS" zu entwickeln. Die Außenministerien der G3 seien beauftragt, die Teilnehmerliste und ein Datum für die Konferenz auszuarbeiten, teilte [6] Putin der Presse mit.

Wer genau mit Opposition gemeint ist, ist nicht bekannt. Erdogan jedenfalls will die Kurden nicht mit am Verhandlungstisch sehen. Er betrachtet die führende Partei der "demokratischen Föderation Nordsyriens", die PYD, und die "Syrian Democratic Forces" (SDF) als Ableger der PKK. Noch scheint Russland den Kurden den Rücken stärken zu wollen. Die Syrien-Konferenz müsse "inklusiv" sein, gab Kremlsprecher Dimitri Peskow an die Medien weiter. Was wird der Preis für die Teilnahme der Kurden an der Konferenz sein, den Russland mit der Türkei ausgehandelt hat?

Weitere Deeskalationszonen geplant

Bereits im Frühjahr wurde zwischen der Türkei und Russland die Einrichtung von vier "Deeskalationszonen" auf syrischem Territorium verabredet. In Sotschi soll nun über die Einrichtung weiterer Zonen verhandelt werden, die anschließend von militärischen Truppen der beteiligten Länder und deren Verbündeten besetzt werden sollen.

In Absprache mit Russland rückten türkische Truppen kürzlich in die nordwestliche Provinz Idlib ein, die eine von vier bisher vereinbarten "Deeskalationszonen" ist. Dort weigert sich die Dschihadisten-Gruppe al-Nusra weiterhin, die Waffen abzugeben und die Deeskalationszone anzuerkennen. Andere islamistische Gruppierungen scheinen kompromissbereiter wie etwa die Miliz Nour al-Din al-Zinki (auch: Nureddin al-Sinki).

Die Türkei als militärischer Sponsor von Nour al-Din al-Zinki und der Allianz Hayat Tahrir al-Sham scheint bei der Abspaltung von Teilen der Gruppen von al-Nusra eine Rolle gespielt zu haben. In der Stadt Darat Izza sind seit einigen Wochen hochrangige türkische Militärs vor Ort, welche die von Russland und Syrien als terroristisch klassifizierten al-Qaida-Ableger al-Nusra Front zum Einlenken bewegen sollen. Letztendlich sind alle islamistischen Milizen ideologisch auf einer Linie. Die Auseinandersetzungen untereinander sind größtenteils auf Kämpfe um Einflussgebiete und Geldquellen (Sponsoren) zurückzuführen.

Türkische Annektion von Afrin in Vorbereitung?

Von der Provinz Idlib aus startet das türkische Militär mit den islamistischen Milizen immer wieder Angriffe auf den Kanton Afrin. Erst am Montag gab es wieder Angriffe mit türkischer Artillerie und Maschinengewehren auf grenznahe Dörfer in Afrin.

Ebenfalls am Montag verkündete der türkische Präsident Erdogan, Afrin müsse von der YPG (kurdische Volksverteidigungskräfte) gesäubert werden [7]. Das YPG-Pressebüro gab daraufhin bekannt [8], dass Hunderte von YPG-Kämpfern entschlossen seien, Afrin im Falle einer Annektion zu verteidigen: "Die Grenze von Afrin (kurd. Efrîn) zu überqueren wird ein Traum für die Türkei bleiben."

Afrin hat für die kurdische Bevölkerung in Nordsyrien eine ähnliche Bedeutung wie Kobane. Ein Angriff auf den völlig isolierten Kanton käme einer Kriegserklärung der gesamten Region gleich, erklärte Murat Karayilan, Mitglied des PKK-Exekutiv-Komitees. In einem Interview mit Sterk TV übermittelte [9] er an Ankara und Moskau die Botschaft: "Als die AKP Kobane mit dem IS angriff, erhob sich unser Volk in den vier Teilen Kurdistans. Im Fall eines Angriffs auf Efrîn werden die Kurden die gleiche Haltung zeigen."

An Putin gewandt wies Karayilan darauf hin, dass die Türkei Afrin nicht ohne die Erlaubnis Russlands angreifen und einmarschieren könne. Von daher würde ein türkischer Angriff wie ein Angriff Putins auf die Kurden gewertet. Er hoffe, dass Putin nicht in diese Falle der Türkei tappe. Russland versuche ja Freundschaft mit den Kurden aufzubauen. Wenn er das wirklich wolle, dann solle Russland die türkische Intervention verweigern, so Karayilan.

Die zunehmenden Luftaktivitäten des türkischen Staates über Rojava (den Kantonen der demokratischen Föderation Nordsyrien, Anm. d. Verf.) sprächen jedoch "keine freundschaftliche Sprache". Ohne die Erlaubnis Russlands könne es keine türkischen Aufklärungsflugzeuge über Afrin geben. Diese Aufklärungsflüge würden die Grundlage für eine Intervention schaffen.

"Syrische Opposition" traf sich in Riad

In der saudi-arabischen Hauptstadt Riad fand in der vergangenen Woche auf Einladung von Außenminister Adel al-Jubeir ein Treffen der sogenannten Syrischen Opposition statt. Bei diesem Treffen versuchte man, die verschiedenen Gruppen zu einer Delegation zu vereinen, die bei den 8. Genfer Gesprächen am 28. November mit am Tisch sitzen soll.

Dies ist ein schwieriges Unterfangen, das bisher immer gescheitert ist, da einige Gruppen von Saudi-Arabien und Katar unterstützt werden, andere von der syrischen "Exilregierung" in Istanbul [10] und wieder andere den Kompromiss mit der syrischen Regierung suchen. Ein Sprecher der syrischen Opposition, der bislang mit am Verhandlungstisch saß, schmiss in Saudi-Arabien schon vor Beginn der Gespräche das Handtuch [11]. Die syrisch-kurdische PYD wird bei den Gesprächen nicht akzeptiert.

Die PYD ist der Meinung, dass politische Verhandlungen in Syrien stattfinden müssen. Sie widersprechen Russland und Assad in deren Einschätzung, der IS sei nun besiegt und man könne zur Tagesordnung übergehen. Der IS übe noch immer Macht aus, meint die Co-Vorsitzende des "Syrischen Demokratischen Rates" (MSD), Ilham Ehmed.

Appell an die Notwendigkeit eines Mentalitätswandels

Die "IS-Mentalität" sei in Syrien immer noch weit verbreitet. Immer noch fachen andere Gruppen die Flammen des Krieges neu an, schaffen Instabilität und übernähmen die Rolle des IS. Demokratische Entwicklungen und Veränderungen in Syrien, der Schutz, die Sicherheit und die Stärkung der Stabilität seien ihrer Meinung nach nur durch die Unterstützung lokaler Verwaltungen möglich. Durch den gemeinsamen Wiederaufbau der Dörfer, Distrikte und Städte mit der Bevölkerung, die Bereitstellung grundlegender Lebensbedürfnisse für die Menschen sei ein Mentalitätswandel möglich.

Die Lösung dieser konkreten Probleme sei sinnvoller als die schon sieben Jahre andauernden, erfolglosen Besprechungen, erklärte [12] Ilham Ehmed. Die Ko-Vorsitzende des Exekutivrates der Demokratischen Nordsyrischen Föderation, Foza Yusuf, kritisierte, man habe sich anscheinend in Sotschi geeinigt, die derzeitige syrische Zentralregierung aufrecht zu erhalten.

Letztendlich solle es einige Reformen geben, aber keine grundlegenden Veränderungen [13]. Dass ein föderales, demokratisches Syrien nicht mal als Option in die Gespräche und Verhandlungen eingebracht wird, wundert nicht, denn im Mittleren und Nahen Osten herrschen fast ausnahmslos Zentralregierungen mit Despoten an der Spitze. Korruption und Klientelismus der Eliten stehen föderalen und demokratischen Entwicklungen ebenfalls im Weg. Wieder einmal wird eine Chance vertan, das Blatt zu wenden.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://de.sputniknews.com/politik/20171122318395621-g3-geburt-historisches-ereignis/
[2] https://de.sputniknews.com/politik/20171118318348829-beziehungen-neues-niveau-worin-gruendet-russisch-tuerkische-annaeherung/
[3] https://deutsch.rt.com/der-nahe-osten/61028-syrien-russland-turkei-iran-frieden-sotschi-putin-ruhani-erdogan/
[4] https://de.sputniknews.com/politik/20171122318403978-putin-gespraech-erdogan-rohani-assad-verfassungsreform/
[5] http://www.tagesspiegel.de/politik/nach-sieben-jahren-krieg-wie-putin-sein-neues-syrien-baut/20613188.html
[6] https://www.zdf.de/nachrichten/heute/gipfel-in-sotschi-zur-loesung-des-syrien-konflikts-100.html
[7] https://www.reuters.com/article/us-mideast-crisis-syria-turkey/syrian-kurdish-ypg-accuses-turkey-of-afrin-aggression-idUSKBN1DL1CT
[8] https://anfenglish.com/rojava/ypg-ypj-fighters-we-are-ready-to-defend-efrin-2328
[9] https://anfenglish.com/features/pkk-s-karayilan-efrin-will-turn-into-kobane-if-turkey-attacks-23286
[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Syrischer_Nationalrat
[11] https://anfenglish.com/news/syria-meeting-in-riyadh-23306
[12] https://anfenglish.com/features/another-round-in-syrian-negotiations-23301
[13] https://anfenglish.com/rojava/rojava-officials-statements-on-sochi-meeting-23322