Wird Winnetou tabu?

Illustration: Karl-May-Gesellschaft. Gemeinfrei

Der Ravensburger-Verlag nimmt Bücher über den "jungen Häuptling Winnetou" wieder vom Markt. Er reagiert mit seinem spontanen Rückzug auf eine Kritik an Karl May, die seit Jahren bekannt ist, und lässt seine Autoren im Regen stehen.

Winnetou lebt. Er fährt einen Chevrolet Camaro, ein sogenanntes Pony-Car, was nicht unbedingt korrekt ist, und ist ein Fan von 1860 München, was für viele unbedingt der einzig korrekte Fußball-Club in der Stadt ist. Winnetou ist ein klangvoller Name, gemacht für Legenden, eine inspirierende Fantasie. Und damit ist auch ein Geschäftsfeld verbunden.

Davon ging der Ravensburger Verlag aus und verrannte sich auf vernageltem Terrain. Zum Kinofilm, der den Helden einstmaliger Kindheiten neu in gegenwärtige Kindheiten pflanzen will - "Der junge Häuptling Winnetou" - brachte der Verlag zwei Kinderbücher auf den Markt: "das passende ‚Buch zum Film‘ ab 8 Jahren und das ‚Erstlesebuch zum Film‘ ab 7 Jahren". Dazu im Angebot: ein Stickerbuch und ein Puzzle.

Das sind Merchandising-Produkte. Wer die Bücher verfasst hat, spielt offenbar keine Rolle, weder für den Verlag noch für die Öffentlichkeit, mit der es der Verlag zu tun bekam.

Der Verlag nahm die Produkte wieder vom Markt. Die Begründung schlägt Wellen.

Wir haben die vielen negativen Rückmeldungen zu unserem Buch "Der junge Häuptling Winnetou" verfolgt und wir haben heute entschieden, die Auslieferung der Titel zu stoppen und sie aus dem Programm zu nehmen.

Wir danken Euch für Eure Kritik. Euer Feedback hat uns deutlich gezeigt, dass wir mit den Winnetou-Titeln die Gefühle anderer verletzt haben. Das war nie unsere Absicht und das ist auch nicht mit unseren Ravensburger Werten zu vereinbaren. Wir entschuldigen uns dafür ausdrücklich.

Ravensburger Kinderbücher

Es gab einen sogenannten Shitstorm auf dem Instagram-Account des Verlages, wo auch die obige Entschuldigung im Namen der "Ravensburger Werte" veröffentlicht wurde. Schaut man jetzt auf den Account, so steht man im zweiten Entrüstungssturm. "Man, ihr habt doch wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun."

Wie wird der Verlag auf diese "vielen negativen Rückmeldungen" reagieren?

"Howgh"

Aus den Medien prasselte ein wahrer Hagel an Kritik auf den Verlag nieder. Der Fall Winnetou bewegt die Erwachsenen in den Redaktionen. Man darf nicht mehr Indianer sagen, klagt der Boulevard: "Aber ich werde "Indianer" sagen, bis ich in die "ewigen Jagdgründe" eingehe. Howgh! Ich habe gesprochen!".

In den weniger sentimentalen Redaktionen wird dem Verlag vorgeworfen, dass er vorschnell gehandelt habe. Die NZZ rät:

Der Ravensburger-Verlag hätte entspannt bleiben und sowohl dem Urteil seiner Redaktion als auch den Kaufentscheidungen seiner Kunden vertrauen sollen. Diejenigen, die im Netz Marterpfähle errichten, sind ungeduldig. Wenn man ihre Aufregung freundlich, aber bestimmt zurückweist, suchen sie sich andere Opfer.

NZZ

Das sind nur zwei Stimmen aus dem riesig angewachsenen Entrüstungskonzert. Ein durchdringendes Leitmotiv ist: Die "Cancel-Kultur" ist eine Minderheit, der man nicht diese Macht einräumen darf.

Ravensburger überlässt ein paar Hundert anonymen Aktivisten die Abstimmung darüber, was gelesen werden darf. Dieses zensorische Gebaren ist gefährlicher Unfug und trägt zur Verdummung jeder Debatte bei.

Morgenpost

Die Vorwürfe, die dem Verlag von Vertretern einer neuen Sensibilität, das Schlagwort dazu heißt "woke", gemacht werden, sind nicht neu. Die Bücher würden den Genozid, die Kolonialisierung und die Verbrechen, die an den nordamerikanischen Ureinwohnern verübt wurden, romantisieren und dadurch verharmlosen, so der Kern der Kritik.

Warum jetzt?

Das sind Vorwürfe, die sich an das Werk von Karl May richten. Karl-May-Fans haben dafür längst ihre Antworten im Köcher. Karl May habe den "Länderraub" wiederholt verurteilt, heißt es in einem Karl-May-Diskussionsforum. Zu den Karl-May-Festspielen gibt es eine Diskussion über die kulturelle Aneignung mit dem "Bad-Segeberg-Winnetou" Alexander Klaws im mdr, "mit Kulturwissenschaftlern und Native Americans". Eine kritische Auseinandersetzung mit Karl May ist längst im Gang.

Der Verlag hat davon gewusst. Er setzt nach eigenen Angaben "Sensibility Reader" ein, "die unsere Titel noch einmal kritisch auf den richtigen Umgang mit diesen Themen prüfen." Und räumt jetzt einen Fehler ein: "Bei den Winnetou-Titeln ist uns das leider nicht gelungen, sie entsprechen nicht den Ravensburger Standards, deshalb entfernen wir sie aus dem Programm."

Als Standards werden gegenüber der Zeitung Schwäbische genannt: "Fairness, Gemeinsamkeit und Vielfalt" und Leitlinien wie "sachliche Ausgewogenheit und Respekt vor allen Kulturen und Lebensweisen. Rassismus und kulturelle Aneignung sollen darin keinen Platz haben."

Warum merkt der Verlag, dass die Kinderbücher diesen Leitlinien nicht entsprechen, erst so spät, nach der Social-Media-Kritik, wie es den Anschein hat?

Welchen neuen, bislang von den sensitiven Lektoren nicht bedachten kritischen Ansätze - die er erst über Instagram erfahren hat? - haben den Verlag zu seinem Schritt bewogen?

Oder war es die schiere Wucht im Neuland der erregungsverknallten sozialen Medien, die man scheute? Lässt man dann lieber seine Autoren im Regen stehen, weil die sowieso namenlos sind?

Karl May hat Literatur geschrieben. Seine Bücher, die beim Schriftsteller Arno Schmid gleich neben dem früher in Irland verbotenen "Ulysses" von James Joyce griffbereit auf dem Schreibtisch standen, werden nicht zuletzt durch dessen Einsatz als literarisch wertvoll eingestuft. Arno Schmidts bekannt reicher Wortschatz und sein Witz dürften heute noch reichen, um in eine aktuelle Diskussion über Karl May einzusteigen, die mehrere Schattierungen aufnehmen kann.

Falsche Richtung

Einer der bekanntesten Kolonialschriftsteller war Joseph Conrad, muss er auch auf den Index und sollte besser nicht mehr unter die Leserschaft kommen wie Dostojewski nach Wünschen aus der Ukraine?

Solche erzieherischen Reinheitsgebote bedeuten nichts Gutes, keine Bereicherung der Diskussion, keine Debatte mit Esprit, sondern eine Verarmung der Einbildungskraft und Fantasie und innere Zensur im Namen einer Kritik, bei der der Propaganda-Verdacht ganz oben steht. Als ob die Leserschaft nicht selbst entscheiden kann, was ihr gefällt.

Man muss diese Kritik nicht so behandeln, als ob da eine Staatsanwaltschaft spricht. Wie wäre es mit Auseinandersetzung statt eines schnellen Rückzuges? Dabei sollte ein Verlag auf der Seite seiner Autoren stehen und für deren Arbeit, die man ja schon begutachtet hatte, streiten. Das dürfte nicht nur in Ravensburg als Minimalwert der Anständigkeit gelten.

Es geht nicht nur um den oder die Autoren und Autorinnen, die an den Büchern, die jetzt vom Markt genommen werden, gearbeitet haben, sondern das Vorgehen setzt auch Zeichen für künftige Konflikte.