Wird alles immer besser?
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Ein kritischer Blick auf Steven Pinkers Geschichtsoptimismus
Hand aufs Herz: Gehören Sie zu jenen Menschen, die gerne vergangenen Zeiten nachtrauern und die insgeheim der Meinung sind, dass früher ohnehin alles besser war? Oder gehören Sie eher zu jenen Menschen, die finden, dass zwar nicht alles perfekt läuft, die aber dennoch ein Leben in der Gegenwart stets einem Leben in der Vergangenheit vorziehen würden und die fest daran glauben, dass für die Zukunft weiterer Fortschritt zu erwarten ist? Anders gefragt: Sind sie Geschichtspessimist oder Geschichtsoptimist?
Wie auch immer Ihre eigene Antwort ausfallen mag: Sicher ist, dass Steven Pinker fest auf der Seite der Optimisten steht. Pinker, seines Zeichens Psychologie-Professor in Harvard, hat in den letzten Jahren mit The Better Angels of Our Nature. Why Violence Has Declined (2011) (deutsch: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit) und Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (2018) (deutsch: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung) zwei populärwissenschaftliche Werke vorgelegt, in denen er argumentiert, dass sich die Menschheit im Großen und Ganzen hin zum Besseren entwickelt. Wie kommt Pinker zu dieser Einschätzung?
Warum sich alles zum Besseren entwickelt
In The Better Angels of Our Nature führt Pinker aus, dass Gewalt - sowohl ihre tatsächliche Ausführung wie auch allgemein ihre Akzeptanz - im Lauf der Geschichte und insbesondere seit der Aufklärung immer weiter zurückgegangen sei und in der Gegenwart ihr bisher niedrigstes Niveau erreicht habe. Dieser Rückgang der Gewalt sei zwar nicht in allen Lebensbereichen gleichmäßig erfolgt, nicht ohne Rückfälle vonstattengegangen und auch nicht für alle Zeiten gesichert, lasse sich aber grundsätzlich sowohl im Kleinen wie im Großen, also vom sozialen Miteinander bis hin zum zwischenstaatlichen Handeln nachweisen.
Natürlich kann man beispielsweise die Millionen von Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs nicht wegdiskutieren. Gleichzeitig aber sind wir immer weniger bereit, diese Toten achselzuckend hinzunehmen und nüchtern festzustellen, dass derlei nun einmal zur Geschichte gehöre.
Als entscheidende Entwicklungstendenzen nennt Pinker unter anderem den Übergang von nomadischen Jäger-und-Sammler-Kulturen hin zur Sesshaftwerdung, die Ablösung mittelalterlicher Kleinstaaterei durch die Herausbildung moderner Staatensysteme, die Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts sowie die Stärkung der Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Pinker stellt diese allgemeinen Entwicklungstendenzen hin zu weniger Gewalt nicht einfach als These in den Raum, sondern versucht, seine Behauptung mithilfe einer schier unüberschaubaren Menge an Daten zu belegen.
Dabei verweist er unter anderem auf den relativen Rückgang der Anzahl an Tötungsdelikten, die Zunahme von Ländern, in denen Sklaverei verboten ist oder den Rückgang des Analphabetismus - um nur einige wenige Beispiele aus der Fülle seines Materials zu nennen.
Vier gute Engel
Was aber sind die Kräfte, die solche Entwicklungen treiben? Warum gibt es heute im Allgemeinen weniger Gewalt als früher? Pinker antwortet auf diese Frage mit dem Verweis auf psychologische Mechanismen, versucht den Verlauf der Geschichte also vor dem Hintergrund der emotionalen und kognitiven Grundausstattung des Menschen verständlich zu machen.
Im Hinblick auf seine Neigung zu Gewalt beziehungsweise Gewaltlosigkeit attestiert Pinker dem Menschen eine gewisse Janusköpfigkeit. Einerseits geht er davon aus, dass Menschen aller Zeiten und Kulturen bereit waren und nach wie vor bereit sind, Gewalt einzusetzen - sei es als instrumentelles Mittel der Zielerreichung, als Signal der Dominanz im Kampf um Ansehen und Autorität, als Ausdruck eines nach Rache und Wiedergutmachung strebenden Moralempfindens oder auch einfach als Resultat sadistischer Neigungen.
Pinker unterstellt aber, dass solchen in der menschlichen Natur angelegten destruktiven Kräften vier positive Eigenschaften entgegenstehen - eben jene Better Angels of Our Nature, von denen bereits im Titel des Buches die Rede ist. Dabei denkt Pinker erstens an die Fähigkeit zur Empathie, zweitens an die Fähigkeit der Selbstkontrolle, drittens an einen Sinn für Moral, also ein Gespür für die innerhalb einer Gesellschaft geltenden Normen und Tabus, sowie viertens an die Möglichkeit vernünftigen Abwägens.
Diese Better Angels of Our Nature können unter den spezifischen Bedingungen der Moderne besser zur Geltung kommen als jemals zuvor, argumentiert Pinker. Zum einen verfüge der moderne Staat über ein klares Gewaltmonopol und könne somit das Ausmaß individueller gegenseitiger Ausbeutung begrenzen und zum anderen ermögliche er über die dicht verflochtenen Netzwerke des Handelns und Wirtschaftens einen Austausch von Waren und Ideen über größere Distanzen und für größere Gruppen als zu jedem anderen Zeitpunkt der Geschichte.
Zusammen mit anderen Entwicklungen wie dem Rückgang des Analphabetismus bilde das eine gesunde Basis für die Entfaltung unserer Empathie- und Moralfähigkeiten sowie die Durchsetzung der vernunftgeleiteten Erkenntnis, dass friedliche Kooperation dem gewaltsamen Wettstreit vorzuziehen ist.
Ein Plädoyer für das Festhalten am Projekt der Moderne
Vor diesem Hintergrund hält Pinker - wie er am Ende von The Better Angels of Our Nature schreibt - die von verschiedenen Seiten vorgebrachte Kritik am Projekt der Moderne für verfehlt. All die Nörgler und Miesmacher, die etwa auf den destruktiven Charakter moderner Arbeitswelten, globale Ungerechtigkeiten oder die Gefahren des menschengemachten Klimawandels verweisen, sind für Pinker eindeutig auf Abwegen. Stattdessen empfiehlt er ein Festhalten an den Elementen modernen Denkens und Handelns, die uns an den Punkt geführt haben, an dem wir heute stehen.
Den Versuch einer genaueren Bestimmung eben dieser Elemente modernen Denkens und Handelns unternimmt Pinker in seinem neuesten Buch Enlightenment Now, in dem er - kurz gesagt - dafür plädiert, sich an den Idealen der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts zu orientieren, weil sie der entscheidende Motor für zahllose Verbesserungen des menschlichen Lebens gewesen seien. Unter den Idealen der Aufklärung versteht Pinker dabei ein Konglomerat aus vier Komponenten, die er im Untertitel seines Buches nennt: Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt.
Vernunft, so Pinker, ist die Grundvoraussetzung für jede Form ernsthafter Diskussion. Wer nicht bereit ist, die eigenen Argumente rational zu rechtfertigen, mit dem lohnt eine Debatte im Grunde überhaupt nicht. Schön und gut. Dem würde wahrscheinlich niemand widersprechen. Welche Gründe aber können als rationale Gründe gelten? Pinker gibt hier nur eine negative Antwort: Er versteht die Vernunft als das Gegenstück zu den von ihm sogenannten generators of delusion wie Glaube, Dogma, Autorität, Mystik, Intuition oder Hermeneutik.
Vernünftig ist für Pinker also offenkundig das und nur das, was sich "objektiv" nachprüfen lässt. Zu dieser Lesart passt jedenfalls Pinkers Verständnis von Wissenschaft: Er verknüpft die wissenschaftliche Anwendung von Vernunft nämlich mit bestimmten Methoden beziehungsweise einem erkenntnistheoretischen Apparat, den er mit Stichwörtern wie Skeptizismus, Fallibilismus und empirisches Testen umreißt. Dieses rationale und wissenschaftliche Denken stelle sich im Kontext der Aufklärung in den Dienst des Humanismus, argumentiert Pinker, setze sich also das Wohlergehen der Menschen als oberstes Ziel.
Unter diesen Bedingungen ist dann auch Fortschritt möglich, will sagen: die Einrichtung eines Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das eine Verwirklichung der aufklärerischen Ideale zur obersten Maxime erhebt. Hier schließt sich der Kreis zu The Better Angels of Our Nature: Laut Pinker sind wir auf dem Weg zu einem solchen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem gegenwärtig - allen Unkenrufen zum Trotz - weiter als jemals zuvor. Wir leben vielleicht nicht in der besten aller möglichen Welten, aber wenn wir an den Idealen der Aufklärung festhalten, werden wir ihr zumindest näherkommen.
Und was ist davon zu halten? Versuch einer kritischen Einordnung
Zunächst einmal ist nüchtern festzuhalten, dass Pinkers Überlegungen in der Geschichtswissenschaft fast einhellig auf Ablehnung gestoßen sind. In den entsprechenden Fachkreisen wird dabei vor allem kritisiert, dass Pinker komplexes und ambivalentes Geschehen verzerrend und verfälschend auf einfache und eindeutige Sachverhalte reduziere und dass dies ein Verständnis der tatsächlichen historischen Prozesse verhindere. Anders gesagt: Pinker macht es sich zu leicht und dreht sich die Geschichte so, wie er sie braucht.
Dass solche Kritikpunkte von Seiten der Historiker vorgebracht werden, muss allein noch nicht viel heißen: Es könnte sich - böse gesprochen - auch um eine Abwehrbewegung gestandener HistorikerInnen handeln, die nicht möchten, dass ihnen ein Psychologe ins Handwerk pfuscht und die sich an verschiedenen Details abarbeiten, um sich nicht mit der großen Linie von Pinkers Argumentation auseinandersetzen zu müssen.
Im Folgenden möchten wir aber an mehreren Beispielen herausarbeiten, weshalb es in Pinkers Denkstruktur tatsächlich tieferliegende begriffliche, inhaltliche und methodische Probleme gibt.
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