Wird alles immer besser?

Seite 2: Im Labyrinth der Begriffe - oder: Aufklärung, was ist das eigentlich?

Beginnen wir mit den begrifflichen Schwierigkeiten: Sowohl in The Better Angels of Our Nature als auch in Enlightenment Now operiert Pinker mit positiv konnotierten und allgemein als erstrebenswert betrachteten Konzepten. Kaum jemand würde beispielsweise unvernünftiges und unwissenschaftliches Denken für wünschenswert halten oder sich nach einer rückschrittlichen Gesellschaft sehnen, die sich einer Verbesserung der Lebensbedingungen in den Weg stellt - um die von ihm benannten Ideale der Aufklärung einmal auf den Kopf zu stellen.

Um über die Ebene des Allgemeinplatzes hinauszukommen, muss man angesichts dessen zunächst einmal festlegen, was man unter den verwendeten Begriffen verstehen möchte. Wie wir weiter oben bereits andeutungsweise gesehen haben, tut Pinker das durchaus - aber er tut es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, setzt genau diese bestimmte Art und Weise dann jedoch als Normalposition voraus. Was heißt das?

Nehmen wir ein Beispiel: In Enlightenment Now verknüpft Pinker die Durchsetzung des Humanismus beziehungsweise den Fortschrittsgedanken mit ganz bestimmten wirtschaftlichen Traditionen. Pinker tritt hier für die wirtschaftspolitisch weitestgehend klassischen Annahmen der Österreichischen und der Chicagoer Schule ein. Deutlicher gesagt: Pinker vertraut auf die Kraft des freien Marktes. Und noch mehr: Er hält dieses Vertrauen auf die Kraft des freien Marktes für selbstverständlich und alternativlos - was es natürlich nicht ist.

Ähnliches gilt für Pinkers Verständnis von Wissenschaft, das schlicht die Sichtweise des Kritischen Rationalismus spiegelt und andere Konzeptionen von Wissenschaft ausschließt. Alles, was sich nicht in Zahlen ausdrücken und mit statistischen Verfahren überprüfen lässt, hält Pinker tendenziell für unwissenschaftlich. Eine solche Gleichsetzung wissenschaftlichen Denkens und Handelns mit empirisch-quantitativen Methoden ist nicht nur wissenschaftstheoretisch unzureichend, sondern erweist sich bei näherer Betrachtung überdies als historische Verkürzung.

Anders als Pinker dies suggeriert, lassen sich die in der Aufklärung kursierenden Konzepte von Wissenschaft nämlich keineswegs auf die Anwendung quantitativ-empirischer Methoden reduzieren. Ganz im Gegenteil: Sie umfassten neben Methodenpluralismus und Philosophie sowie den Geistes- und Sozialwissenschaften teilweise auch Magie, oft ohne klare Trennung zu den Naturwissenschaften.

Will sagen: Aufklärung mit einem Streben nach Wissenschaftlichkeit und Nachprüfbarkeit in Verbindung bringen zu wollen, ist sicher nicht falsch. Darüber sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Frage, was als wissenschaftlich und nachprüfbar gelten kann, im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich beantwortet wurde und auch heute nicht als entschieden gelten kann.

Vergleichbares lässt sich über die Vernunft sagen, ein weiteres von Pinker ins Spiel gebrachtes Kernmerkmal der Aufklärung: Zwar gibt es in der Aufklärung durchaus eine Betonung der Vernunft als Urteilsinstanz, gleichzeitig aber wird auch immer wieder nachdrücklich auf die Grenzen der Vernunft verwiesen.

Der Skeptizismus der Aufklärung gegen Autoritäten, die eine bestimmte Weltsicht vermittelten, bedeutete also oft das Hinterfragen der eigenen Vernunft und der eigenen Annahmen. Wo diese Selbstkritik fehlt und die eigene Perspektive als völlig unabhängig oder neutral verabsolutiert wird, können leicht feste, unveränderliche Vorstellungen von Richtig und Falsch entstehen.

Eine (zu) einfache Dichotomie: Vernunft und Unvernunft

Über die Erörterung begrifflicher Schwierigkeiten sind wir damit bei einer wichtigen inhaltlichen Bruchstelle angelangt: Obwohl Pinker eine sehr spezifische und historisch nicht ohne Weiteres in dieser Eindeutigkeit nachweisbare Lesart aufklärerischer Ideale vorschlägt, nutzt er den auf Basis dieser Lesart konstruierten Gegensatz von "Aufklärung" und "Unvernunft", um Vertreter anderer Lesarten als Gegner der Aufklärung auszuweisen - darunter so heterogene Gruppierungen wie Umweltschützer, Kapitalismuskritiker und Nationalisten, aber auch so unterschiedliche Denker wie Friedrich Nietzsche und Theodor Adorno, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, Michel Foucault und Edward Said.

Nietzsche ist für Pinker beispielsweise Wurzel gleichsam allen Übels im 20. Jahrhundert, während er in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung (1947) "progressophobia" wittert. Nun mag man zur Philosophie Nietzsches oder zu den Thesen Horkheimers und Adornos stehen, wie man will: Sie ohne weitere Differenzierung dem Lager der Anti-Aufklärer zuzuschlagen, erscheint fragwürdig - und spiegelt interessanterweise genau jene Tendenz der Aufklärung, im Dogma zu erstarren und damit ihr Potential zur Selbstreflexion und Emanzipation zu verlieren, die in den Schriften der eben genannten Autoren zum Thema gemacht wird.

Von der Unsinnigkeit dichotomen Denkens, oder: Wird wirklich alles besser?

Wie aber wirkt sich Pinkers Dichotomie zwischen dem Aufklärerischen und dem Anti-Aufklärerischen auf sein Bild der Geschichte aus? Abstrakt gesprochen bietet sie ihm die Möglichkeit, historische Entwicklungen anhand einer begrenzten Anzahl von Schlüsselereignissen zu strukturieren und zu deuten, mit denen sich untrennbar moralisch-normative Aspekte verbinden, und daraus Handlungsmaximen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten.

Etwas weniger abstrakt gesprochen kann Pinker die Dichotomie nutzen, um ein klar geordnetes Bild der Geschichte vorzulegen, auf das er seine Idee der andauernden Höherentwicklung menschlichen Zusammenlebens projizieren kann.

Mit einer solchen linearen Interpretation ausgewählter geschichtlicher Ereignisse steht Pinker nicht alleine da, sondern lässt sich vielmehr in eine Reihe ähnlich konzipierter Darstellungen einordnen. So verfasste etwa Paulus Orosius, Theologe des 4./5. Jahrhunderts, seine Historiae Adversos Paganos (Geschichte gegen die Heiden), eine Weltgeschichte von den Anfängen bis in seine Gegenwart. Die Absicht dieser Weltgeschichte war es, zu zeigen, dass sich durch das Christentum die Welt insgesamt zum Besseren gewandelt habe, da Kriege und Katastrophen deutlich weniger geworden seien.

Orosius' Weltgeschichte fand das gesamte Mittelalter hindurch bis in die Renaissance weite Verbreitung und prägte nicht nur das Bild der Antike in dieser Epoche entscheidend mit, sondern auch das Bild vom Fortgang der Geschichte als Entfaltung des christlichen Heilsgeschehens. Diese Parallele zu Orosius dient in erster Linie der Illustration einer wichtigen Überlegung: In der Geschichtswissenschaft besteht mittlerweile weitestgehend Einigkeit, dass Geschichtsforschung immer nur zeitgebunden sein kann und von der Perspektive desjenigen abhängt, der sich eines Forschungsgegenstandes annimmt.

Gleichzeitig hat die Geschichte der Geschichtsschreibung herausgearbeitet, auf welch vielfältigen und oftmals nur impliziten Vorannahmen Darstellungen der Vergangenheit beruhen. Darunter fallen nicht nur tendenziöse Werke, die Herrschende, Gruppen oder Ideologien glorifizieren, sondern auch sogenannte "große Erzählungen", die Geschichte aus der Sicht einer übergeordneten Idee betrachten, wie etwa als fortschreitenden Zivilisations- oder Nationalisierungsprozess, als Entfaltung eines religiösen Heilsgeschehens oder als Abfolge von Klassenkämpfen. Auch Sichtweisen, wonach "alles immer besser" oder "alles immer schlechter" wird, fallen in diese Kategorie.

Vor diesem Hintergrund lässt sich kaum abstreiten, dass Enlightenment Now wie auch The Better Angels of Our Nature eine starke historiographische Komponente aufweisen: In beiden Werken wird Geschichte anhand einiger weniger Schlüsselereignisse - allen voran der Aufklärung - strukturiert und dabei insgesamt klar als Erfolgsgeschichte gedeutet.

Aufgrund dieser Weltsicht erfüllen Pinkers Werke zudem eine apologetische Funktion: Sie versuchen die von ihm vertretenen politischen ebenso wie wissenschaftlichen Positionen durch einen Rückgriff auf die Geschichte zu legitimieren. Eigentlich ein durchschaubarer Taschenspielertrick.

Was wir daraus lernen, oder: Vom Wert der Historie für das Leben

Ist also alles Quatsch, was Pinker schreibt? Nicht ganz. Die von ihm aufgeworfene Frage nach den großen Entwicklungslinien der Geschichte sowie nach der Rolle der psychischen Grundausstattung des Menschen bei diesen Entwicklungen ist und bleibt wichtig. Hier schlicht auf Four Better Angels of Our Nature zu verweisen, mag etwas zu holzschnittartig gedacht sein, liefert aber einen Ausgangspunkt für detailliertere Untersuchungen.

Um abschließend ein klassisches Bild zu bemühen: Für den Geschichtsoptimisten ist das Glas halb voll, für den Geschichtspessimisten dagegen halb leer. Was spräche dagegen, sowohl dem Optimisten als auch dem Pessimisten zuzugestehen, dass sie halb Recht und halb Unrecht haben?

Und was spräche dagegen, sich in jedem Fall genauer anzusehen, was für ein Glas man da eigentlich vor sich hat und mit welchem Wasser es gefüllt ist - ohne dann gleich der Versuchung nachzugeben, ein apodiktisches Urteil zu fällen? Ein solches Vorgehen wäre vielleicht ein Schritt in Richtung jener Vernünftigkeit und Wissenschaftlichkeit, die sich Pinker auf die Fahnen schreibt.

Dr. Fabian Hutmacher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Würzburg. Er hat Psychologie, Philosophie und Germanistik studiert und bewegt sich in seiner Forschung gerne an den Übergängen zwischen diesen Disziplinen.

Roland Mayrhofer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Regensburg. Er hat Geschichte und Psychologie studiert und erforscht jetzt gesellschaftliche, historische und wissenschaftstheoretische Aspekte der Psychologie.

Hinweis: Dieser Text ist eine adaptierte Fassung des folgenden Buchkapitels: Hutmacher, F. & Mayrhofer, R. (2020). Steven Pinker. In: G. Jüttemann (Hrsg.), Psychologie der Geschichte (S. 206-212). Lengerich: Pabst Science Publishers. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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