Wirklichkeit, Realismus und Simulation

Ab wann werden Computerspiele tatsächlich gefährlich?

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Noch sind die Gegner, gegen die in Killerspielen mit allen möglichen verfügbaren Mitteln gekämpft wird, von anderen Mitspielern gesteuerte Akteure oder Charaktere, die aufgrund eines vorprogrammierten Verhaltensrepertoires handeln. Realistisch ist in solchen Szenarien bestenfalls annähernd die grafische Repräsentation von Menschen oder menschenähnlichen Wesen. Doch die virtuellen Akteure sollen auch in ihrem Verhalten menschenähnlicher werden - um beispielsweise in realistischen Simulationen Krisen- und Kriegseinsätze zu proben.

Nach den Schulmassaker wird in Deutschland diskutiert, ob Killerspiele die Spieler, vor allem sind Kinder und Jugendliche gemeint, auf Gewalt trimmen und so durch Nachahmung, Desensibilisierung und Einübung in Geschicklichkeiten und Verhaltensmodellen das Überschwappen der Handlungen von der virtuellen Realität in die Wirklichkeit erleichtern oder fördern. Spieler selbst wenden ein, dass es bei ihnen eher um Geschicklichkeit gehe, also um einen Wettbewerb, der aber spielerisch bleibe, weil das Töten der im Spiel sichtbaren Charaktere - es kann ja auch ihr eigener Repräsentant im Spiel sein - nicht als Tötung eines wirklichen Lebewesens oder gar eines Menschen verstanden werde. Beansprucht wird, dass die Trennung von Fiktion/Simulation/Virtualität und Wirklichkeit sehr deutlich in einem Computerspiel erlebt werden, während beispielsweise in einem Film der Realismus noch stärker ausgeprägt sei und man dort mit den Schauspielern mitleide (vgl. auch Brutale Spiele(r)?).

Das scheint zumindest beim amerikanischen Militär auch so ähnlich gesehen zu werden, weswegen beispielsweise vom Defense Modeling and Simulation Office ein Projekt finanziert wird, das mit der Hilfe von Sozialwissenschaftlern die computererzeugten Charaktere realistischer machen soll, um eine bessere Übertragbarkeit des in der Simulation Gelernten zum Handeln in wirklichen Situationen zu erhalten. Der das Projekt leitende Wissenschaftler, der Computerwissenschaftler Barry Silverman von der University of Pennsylvania, arbeitet daran schon seit einigen Jahren.

"Die Erkenntnis nimmt zu, dass realistischere Trainingssimulationen zur besseren Übernahme von Fähigkeiten bei den Übenden führen, doch die existierenden Trainingsspiele sind stärker auf auffällige Grafik denn auf die Modellierung wirklichen menschlichen Verhaltens ausgerichtet. Unser Ziel ist es, Faktoren wie Ermüdung, Stress, persönliche Werte, Gefühle und kulturelle Einflüsse zu integrieren."

Letztlich scheint es also darum zu gehen, dass auch der virtuelle Feind zurückschaut - und dennoch erschossen werden muss. Interessant ist denn auch die Begründung, die Silverman für die Notwendigkeit des neuen Verhaltensrealismus gibt, durch das dann auch die virtuelle Tötung einen anderen Charakter erhalten könnte. Wichtig seien lebensähnliche Charaktere und Situationen für militärische Simulationsspiele, weil US-Truppen immer mehr an Konfliktorten in aller Welt eingesetzt werden und es auch bei friedenserhaltenden Missionen mit Menschenmengen (mobs) oder Terroristen zu tun haben. Auch in den USA könnten Protestierende diejenigen in Unruhe versetzen, die für Ordnung sorgen wollen.

Die virtuellen Gegner sollen wirklichen Menschen auch im Verhalten täuschend ähnlich sein

Vor ihrem wirklichen Einsatz sollen die Soldaten mit den Simulationen die unterschiedlichen Gegner virtuell, aber möglichst lebensecht kennen lernen, beispielsweise Frauen und Kinder, die Steine werfen, Armeen aus kaltblütigen Jugendlichen, die Minderheiten quälen, oder Protestierende, die höchstens noch durch Flugzeuge zum Einhalten gebracht werden können, die über ihre Köpfe hinwegsausen. Eines der Probleme scheint zu sein, dass "sogar" Entscheidungen in Gegenwart von Medien getroffen werden müssen. Die Simulation soll löblicherweise in Reaktion auf erregte Menschenmengen den Soldaten beibringen, nicht zu Verhaltensweisen zu greifen, von denen man weiß, dass sie eher die Aggression schüren.

Diese nur in der Pressemittelung erwähnte sanfte Reaktion in kritischen Situationen dürfte natürlich weniger gefragt sein, wenn es darum geht, im virtuellen Training auch solche Gegner wie die "irakische republikanische Garde, einen Hamas-ähnlichen Selbstmordattentäter oder heimlich operierende Kämpfer Bin Ladins aufzurufen". Da sollen dann angemessene Modelle der unterschiedlichen Terrororganisationen zum Tragen kommen, die das Handeln der Einzelnen prägen. Unter Zuhilfenahme der Spieltheorie geht man dabei beispielsweise von einem rational Handelnden aus, der nach utilitaristischen Überlegungen die Handlungsziele in bestimmten Situationen mit bestimmten Mitteln und an bestimmten Orten maximieren will. Bei einem Terroristen ist dies nach dem Modell die Erzielung des größtmöglichen psychologischen Effekts. Gibt man den Typ der Organisation und die Welt ein, in der deren Mitglieder handeln sollen, so soll das Programm automatisch eine "realistische" Planung und Ausführung erstellen.

Das große Ziel ist, einigermaßen lebensecht handelnde und reagierende virtuelle Akteure zu erhalten, die denken, empfinden, wahrnehmen, sich in verschiedenen Gruppen bewegen und unterschiedliche Rollen spielen, über ein Gedächtnis verfügen, lernen, Entscheidungen treffen, Emotionen zeigen und motorisch Handlungen starten, kurz und technisch verwegen: die so komplex und irrational wie Menschen sind. Modelliert werden muss dazu nicht nur das kognitive System, sondern wichtig sind auch die körperlichen und emotionalen "Subsysteme" mit ihren Zuständen, die Handlungen prägen wie Energiebedarf, Müdigkeit, Schmerz, Panik, da je nach Gestimmtheit oder körperlicher Befindlichkeit anders gehandelt wird oder sich die Leistungsfähigkeit unterscheidet.

Die Fantasie kann alles in Pumpguns verwandeln

Das ist noch alles graue Theorie, doch möglicherweise kommt man der Simulation eines menschenähnlichen, persönlichen Verhaltens von virtuellen Agenten, gegen die man spielt, Schritt für Schritt nicht nur grafisch näher. Interessant ist natürlich die Frage, wann der Punkt erreicht sein würde, an dem der menschliche Spieler zumindest den Eindruck nicht ohne weiteres von sich weisen kann, nicht nur ein intelligentes, sondern auch fühlendes Gegenüber zu haben, das dann wohl selbstverständlich auch so handeln würde, dass es um sein Überleben kämpft, aber auch Eigenschaften hat, die es nicht nur als böse erscheinen lassen. Würde man in der Simulation trainiert, solche virtuellen Wesen abzuschießen oder anderweitig zu traktieren, dann wäre tatsächlich der Schritt von der Simulation in die Wirklichkeit nicht mehr weit und es würde sicherlich eine Desensibilisierung eintreten, auch wenn es sich immer noch nicht um einen Menschen handelt, sondern nur um ein wiederstartbares Programm auf einem Computer.

Viele derjenigen, die jetzt ein Verbot der Killerspiele fordern, bei denen man nicht Bauern oder Damen wie beim Schach oder andere, mehr oder weniger Menschen abbildende Figuren in anderen Spielen, sondern sich bewegende, grafisch menschenähnliche Charaktere abschießt und dabei sein eigenes virtuelles Leben einsetzt, gehen davon aus, dass für manche Spieler hier Wirklichkeit und Simulation nicht mehr unterscheidbar sein können. Das dürfte sich am grafischen Realismus alleine wohl nicht wirklich festmachen lassen, denn ein Übergang vom Spiel zum Ernst gibt es auch bei anderen Spielen. Die Fantasie hilft hier viel nach - und ein Teil der Erziehung oder der Erfahrung, die ein Kind durchläuft, besteht just darin, Spiele, in denen es selbst "interaktiv" real oder virtuell verwickelt ist, und Darstellungen wie Theateraufführungen oder Filme von Wirklichkeit zu unterscheiden, was je nach Kultur, Milieu und Person sehr unterschiedlich ausfallen kann. Die Auseinandersetzung mit Gewalt und Aggression ist ebenso wie im wirklichen Leben Grundbestand der kindlichen Welt. Brutale Erzählungen oder Geschichten können Kinder ebenso stark und nachhaltig beeindrucken wie Filme, reale Erlebnisse oder Nachrichten und Dokumentationen. Menschen müssen nicht unbedingt direkt sehen, was schrecklich oder grausam ist, um dies nicht erahnen oder sich ausmalen zu können. Wer ein Kind aufwachsen lassen will, ohne dass es mögliche Vorbilder an Gewalt sehen oder erfahren kann, muss es von der Welt wie Kasper Hauser abschließen und würde damit bereits selbst ein Verbrechen begehen.

Trotzdem bleibt natürlich die Frage, wie weit eine Gesellschaft den Nachwachsenden der Gewalt in der Wirklichkeit, in der Illusion und jetzt in der Virtualität aussetzen sollen und wie dies geschieht. Sieht man sich den § 131 im deutschen Recht zur Gewaltdarstellung an, so wird hier eine Grenze gezogen, die sehr fragwürdig ist. Wenn Gewalt "verherrlicht" oder "verharmlost" wird oder "das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer der Menschenwürde verletzenden Weise" dargestellt wird, dann soll dies verboten werden. Ausgenommen ist davon - da sonst natürlich auch das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit über Gebühr eingeschränkt würde und selbst die Wahrnehmung von Wirklichkeit und die Reflexion auf sie eingeschränkt würde -, "wenn die Handlung der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte dient". Liest man dies buchstäblich, dann könnte beispielsweise ein Film legitim sein, der die Folterung oder Tötung eines Menschen zeigt, nicht aber ein Spielfilm, bei dem man immer fragen kann, ob er hier etwas verharmlost oder verherrlicht - oder eine Folie zur Nachahmung bzw. eine Erfahrung zur Desensibilisierung bietet.

Was ist gefährlicher: Ego-Shooter, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, Nachrichten oder Schießübungen?

In letzter Zeit gab es immer wieder Hinweise auf diesen § 131, den man doch einmal wirklich umsetzen und nicht nur lasch handhaben sollte. Eigentlich aber verdreht er die Perspektive, wenn wir mehr oder weniger berechtigt der Ermordung von wirklichen Menschen zusehen dürften, es aber verboten wäre, computergenerierte Figuren zu "töten". Selbstverständlich wäre es absurd, den Kindern und allen Menschen nicht mehr die Gewalt in der Welt zu zeigen, die tagtäglich auf eine die Menschenwürde verletzende Weise geschieht. Nur wenn wir wissen - und dies auch emotional wissen -, können wir auch etwas dagegen tun (bestenfalls), auf der anderen Seite können wir eben dadurch auch abstumpfen, da jeden Tag Tausende von Menschen durch Unfälle, Katastrophen, Verbrechen oder Kriege qualvoll sterben oder leiden müssen. Die Nachrichten sind voll davon.

Sind also Computerspiele wie Ego-Shooter bedenklicher als gelesene oder erzählte Geschichten, Mensch-Ärgere-Dich-Nicht, Räuber-und-Gendarme-Spiele mit Pistolen (bum, bum), fiktive Filme oder Nachrichten? Das neue Element des Computerspiels gegenüber herkömmlichen Medien ist die interaktive Komponente, die auch im theatralischen Spiel mit Gleichaltrigen vorhanden ist. Glauben Kinder, die hier mit einer knallenden Pistole oder auch nur mit den Fingern und Peng-peng schießen, dass sie wirklich einen anderen Menschen töten, der dann real oder virtuell niedersinkt und gleich wieder aufersteht? Sollte man auch solche Killerspiele - altersunabhängig, wie Beckstein zudem fordert - verbieten? Und wäre es richtig, Kriegshandlungen so, wie Regierungen es gerne hätten, von Bildern zu reinigen, die zeigen, dass daran Menschen - Gegner wie "Zivilisten" - sterben und leiden? Wollen wir den "sauberen" Krieg?

Simulationen haben zweifellos die Tendenz, immer realistischer zu werden. Die grafische oder visuelle Ebene ist nur der Beginn. Wer will es vernünftigerweise Ordnungskräften oder dem Militär verbieten, sich möglichst realistisch auf Einsätze vorzubereiten, um möglichst wenig eigene Opfer oder "Kollateralschäden" zu erzielen? Doch so wie Soldaten durchaus ihre Reaktionsfähigkeit mit Computerspielen wie Doom oder Counterstrike trainieren könnten, würde eine realistischere Darstellung der virtuellen Akteure sicherlich die Tötungshemmung senken.

Wer jetzt einen virtuellen Terroristen in Counterstrike abschießt, denkt dabei in aller Regel nicht an einen wirklichen Menschen, wenn denn nicht die Fantasie beispringt - und diese kann eben nicht nur Computerspiele "ergänzen". Und gerade wenn die Figur, die man sieht, von einem anderem Computerspieler gelenkt wird, der sichtlich nur im Spiel, aber nicht wirklich getroffen wird, dürfte sich die Desensibilisierung im Rahmen von Mensch-Ärgere-Dich-Nicht halten, das auch als Anleitung zur Aggression gedeutet werden könnte. Überdies entsteht die Spannung bei solchen interaktiven Spielen weniger dadurch, andere abzuschießen, als nicht selbst getroffen zu werden, was dann aber schlichtweg heißt, aus dem Spiel zu fliegen. Sobald jedoch der Gegner tatsächlich menschenähnlich wird, was weit über die grafische Ebene hinausgeht, dann beginnen wirklich die Unterschiede zu verschwimmen - oder sie müssen auf einer neuen, bislang nicht gewohnten Ebene neu gezogen werden.