Wissenschaft in Extremsituationen
Mit einem halben Jahrhundert Verspätung gelang die Publikation einer authentischen soziologischen Studie aus den Konzentrationslagern der NS-Zeit
Noch ein Buch über die NS-Zeit? Obwohl es nichts Neues zu erfahren gibt, ist "Die Gesellschaft des Terrors" von Paul M. Neurath sensationell. Nicht nur wegen der authentischen Analysen, sondern auch als Futter im aktuellen Diskurs über Terror, Gewalt und Folter, in dem Soziologen eher auffällig schweigen.
In der Verhaftungswelle nach dem sogenannten "Anschluss" Österreichs versucht ein SS-Kommando im März 1938, den Soziologen Paul Neurath in Wien zu verhaften. Er war möglicherweise nur das Opfer einer Verwechslung, hatte er doch einen berühmten Vater - Otto Neurath, der schon 1918 wegen seines Engagements in der Münchner Räterepublik zum Staatsfeind Deutschlands geworden war. Der Vater aber war längst emigriert, also griff man sich den Sohn: der entkommt zunächst, wird dann aber verraten und doch inhaftiert.
Meine Tante wohnte am Stadtrand von Wien, und nach den letzten Häusern ging ich rechts hinauf über weite Wiesen und durch die Wälder. Ich wanderte die ganze Nacht. Am Morgen schlief ich ein wenig in einem Graben, dann ging ich weiter, nach Norden, Richtung Tschechoslowakei. Da ich keine Ausweispapiere bei mir hatte, wagte ich nicht, mit dem Zug zu fahren, denn ich befürchtete, dass man die Passagiere durchsuchen würde.
Paul M. Neurath
Doch man begab sich auf Wege, an deren Ende keineswegs die aus versöhnlichen mediale Aufarbeitungen bekannten Gutmenschen warteten:
Es waren österreichische Bauern, die den Nazis halfen, Flüchtlinge zu fangen. Später erfuhr ich, dass mich Bäuerinnen gesehen hatten, als ich in das Feld hineingegangen war, und der SS Bescheid gegeben hatten, die die Grenze entlang auf der Lauer lagen. Da ist ein Fremder in den Feldern, vielleicht ein Flüchtling.' Und sie hatten sich in ihren Wagen gestürzt und waren gekommen, das Wild zu jagen.
Paul M. Neurath
Der Flüchtling wird also verhaftet und erinnert sich im lakonischen Tonfall an seinen Weg in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald:
Ich hatte eine schwere Eisenkette um die Handgelenke, schön blank, aber ansonsten unbequem und mit einem großen Schloss gesichert. Der begleitende Polizeibeamte war höflich und nicht gewalttätig. Im Zug ließ er mich am Fenster sitzen, und ich hatte einen letzten Blick auf den beginnenden Frühling in Österreich. Mittags kamen wir in Wien an, und ich wurde auf der Polizeidirektion der Gestapo übergeben.
Paul M. Neurath
Geschichte einer dichten Beschreibung
Paul Neurath (1911-2001) wurde inhaftiert, kam schließlich aber wieder frei und schrieb seine Geschichte auf. Nicht nur das, er objektivierte sie, indem er seine Erlebnisse zur wissenschaftliche Beobachtung "soziologisierte". Es war anscheinend möglich, noch die persönlichsten Erlebnisse des Konzentrationslagers im Licht soziologischer Tatsachen zu schildern. Oder war dies nur sein Bewältigungsreflex?
Paul Neurath ist mir persönlich noch als Lehrer an der Universität Wien in Erinnerung. Kein Student jedoch kannte die Einzelheiten seiner Geschichte, und Neuraths Lehrgebiet war ziemlich trocken: empirische Methoden und Statistik. Das war einst eben nicht so angesagt wie die "Dialektik" der Frankfurter Emigranten, diesen nahezu mythischen Gestalten, deren Bücher zur Pflichtlektüre aller kritischen Geister gehörte. Ein möglicher Anknüpfungspunkt, das Erbe seines berühmten Vaters Otto Neurath aus der Zwischenkriegszeit, blieb auch eher unbekannt: Paul nahm auf das Projekt der Bildersprache (Sprechende Zeichen) gelegentlich vor Fachpublikum Bezug, wirklich wieder belebt hat die Tradition soziologischer Aufklärung des einstigen "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums" aber niemand.
Gesellschaft ist ein sprödes Konstrukt, das zumeist als kalt und hart, oftmals auch ungerecht erfahren wird. Das Humane in ihr ist wohl eher die Ausnahme als Selbstverständlichkeit, wie Bürgerkriege und globalisierter Terror dies immer wieder in aller Deutlichkeit vorführen. Dass Soziologen von der Frage nicht ablassen, was "Gesellschaft" denn ausmacht, erstaunt ebenso wenig wie die offen gebliebene Antwort, die alles Zählen, Messen und Beschreiben nicht liefern kann.
Da interessieren die Bruchstellen viel mehr, die im Funktionsgefüge etwas sonst nicht Offensichtliches erkennen lassen. "Die Gesellschaft des Terrors" bietet einen solchen Erkenntniswert, der sich vor allem um das Verhältnis von Individuum und politischem Totalitarismus dreht. Hier geht es um die Häftlingsgesellschaft, geschrieben aus der Binnenperspektive von Konzentrationslagern.
Diese Publikation hat eine eigenartige Geschichte, denn der zugrundeliegende Text ist Teil einer soziologischen Dissertation, die Neurath nach seiner Emigration in die USA 1943 verfasst und 1951 an der Columbia University in New York eingereicht hat, die jedoch nie gedruckt wurde. Augenzeugenbericht und wissenschaftliche Analyse zugleich, ist diese Studie ein bemerkenswertes historisches wie wissenschaftliches Dokument, das nun auf Betreiben der Herausgeber (die Soziologen Nico Stehr und Christian Fleck) erstmals übersetzt und, versehen mit einem kompetenten Nachwort, publiziert wurde.
Im amerikanischen Exil, wohin Paul Neurath 1941 nach einem Aufenthalt in Schweden gelangte, arbeitete Paul Neurath zunächst als Forschungsassistent bei Paul Lazarsfeld, einem der bekannteren österreichischen Wissenschafts-Emigranten. Nach dem Krieg führten Forschungsprojekte Neurath unter anderem nach Indien, wo er "Radio Research Studies" gemacht hat. Über Köln ging es später dann zurück nach Wien, wo er (neben einer Lehrstelle in New York) am neu gegründeten sozialwissenschaftlichen "Institut für Höhere Studien" arbeitete und sich schließlich mit dem halbherzigen Hin- und Her wechselnder Gast- und Honorarprofessuren an der Universität Wien zufrieden geben musste.
Dass seine eigene Studie aus der NS-Zeit erst nach so langer Zeit veröffentlicht wird, hat zwei Gründe. Erstens gab es unmittelbar nach Kriegsende eine spezifische Ökonomie der Aufmerksamkeit - die grauenvollen Filmbilder aus den Vernichtungslagern, die die amerikanische Öffentlichkeit mehr in den Bann zogen als aufgeschriebene Beobachtungen und soziologische Reflexionen. Und zweitens hat sich im Herkunftsland des Autors - Österreich, dem Land der diskreten Kumpanei zwischen "entnazifizierten" Professoren und ihren akademischen Protegés - lange Zeit niemand ernsthaft für das Vermächtnis der ins Exil getriebenen Intellektuellen interessiert.
Terror und Wissenschaftstauglichkeit
Studie, Bericht oder politische Analyse - wie lässt sich "Die Gesellschaft des Terrors" nun einordnen? Geschildert wird der Alptraum einer Gestapo-Verhaftung in Wien, wenige Stunden nach dem "Anschluss", der Neurath sich zunächst durch Flucht entziehen kann. Sie bringt ihn zu Fuß und notdürftig gekleidet bis vor die tschechische Grenze. Dort wird er, verraten von der Landbevölkerung, verhaftet und als politischer Häftling der Gestapo übergeben.
Seiner Überstellung ins Konzentrationslager geht weder ein Prozess voran, noch nicht einmal eine Vernehmung. Es wird ihm bald klar, dass es sich um keine normale Haftanstalt handelt. Die Lager waren damals, bis kurz vor Kriegsausbruch 1939, noch keine Vernichtungslager. Dennoch war der Aufenthalt in ihnen kein Spaß: Sie waren Vollzugsorgan des totalitären Machtapparats und damit ein Reich jenseits von Recht und Gerechtigkeit, in welchem die Funktionäre des Totalitarismus sich austoben durften. Der Dienst im Konzentrationslager war Teil der Routineausbildung von SS-Rekruten, die dort ihre Skrupellosigkeit erst einmal zu erlernen hatten.
Neurath konnte selbstverständlich nicht im Lager schreiben, sondern erst später. Die Schilderung der Erlebnisse ist nirgends pathetisch, bleibt restlos nüchtern, im Tonfall eher lakonisch. Sie führt das Verhalten von Menschen in existenziellen Extremsituationen vor und fragt nach dem Verhältnis von totalitärem Staat und Individuum. Theorieansprüche werden sozusagen vertagt. Doch ist er methodisch ernst zu nehmen? Die Fachgutachter der Columbia University (u.a. Robert K. Merton) fanden den Text einst jedenfalls zu unwissenschaftlich.
Tatsächlich stellt er den Versuch einer dichten Beschreibung dar, die gänzlich frei von wissenschaftlichen Zitaten und theoretischem Überbau bleibt. Ebenso drastisch wie diskussionswürdig hingegen sind seine theoretischen Implikationen: Faschismus, Nationalsozialismus und Terror werden weder aus psychologischen noch aus politischen oder ökonomischen Gründen heraus erklärbar. Doch an den Scharnieren der Gesellschaft - also dort, wo die Dinge konkret ausgelebt werden - lassen sich Verhaltensweisen in ihrer Unterschiedlichkeit beschreiben und interpretieren. Für Neurath sind strikte Gruppenzugehörigkeit und sozialer Hintergrund die Folie der Interpretation, die kein Versuch sein will, irgend etwas zu "verstehen".
Was Neuraths Schilderung aber unmissverständlich klarmacht: Nicht der Stacheldraht des Konzentrationslagers trennt die Häftlingsgesellschaft von den normalen Menschen, sondern hier wie dort sind es die realen Machtverhältnisse, an denen sich das Verhalten im einzelnen ausrichtet. Es ist das lückenlose System von Bestrafung und Überwachung, das in jede Alltagsroutine einsickert, groteske Formen annimmt und Unterdrückungs- wie Unterwerfungsgesten umfassend bestimmt. Rebellion dagegen war wenig erfolgversprechend, und so reduziert sich die Überlebensstrategie darauf, der bis hin zum Selbstmord von politischen Häftlingen tendierenden Resignation zu entsagen.
Nach 14 Monaten gelingt Neuraths Entlassung aus Buchenwald, dank einer Freundin namens Lucie, deren Bemühungen um ein Ausreisevisum für den KZ-Häftling letztlich erfolgreich waren. Neuraths wissenschaftliche Berichtlegung wird durch ein Nachwort legitimiert, in dem der Autor seinen szientifischen Anspruch mit der authentischen "Validität der Beobachtungen" aufrichtig versichert. Schließlich hatte er keinerlei Aufzeichnungsmöglichkeiten und beruft sich allein auf seine Erinnerung: "Was der Häftling nicht im Kopf hat, kann er nicht mitnehmen." Eine wissenschaftliche Distanz hat er sich letztlich dennoch abgerungen. Vielleicht aber verdankt sich diese aber gar keiner wirklich wissenschaftlichen Ambition, sondern der Furcht vor der Bedrohlichkeit, die diese Dinge im Kopf des Überlebenden sonst angenommen hätten?
Paul M. Neurath: Die Gesellschaft des Terrors. Innenansichten der Konzentrationslager Dachau und Buchenwald (Social Life in the German Concentration Camps Dachau and Buchenwald). Herausgegeben von Christian Fleck und Nico Stehr. Aus dem Englischen von Hella Beister. Suhrkamp Verlag 2004, 462 Seiten. Leinen. 29,80