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Seite 4: Wer mag schon abstrakte Kunst? Erhellendes zu Diracs Glanzleistung
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Die Arbeiten von P.A.M. Dirac sind für Alexander Unzicker ganz besonders wichtig, insbesondere dessen Spätwerk, also nachdem dieser die heute nach ihm benannte Gleichung definiert und dafür 1933 den Nobelpreis bekommen hatte. Unzicker leitet seine Ausführungen zur Dirac-Gleichung, die aufgestellt worden war, um ein Elektron relativistisch zu beschreiben, mit einem neugierig machenden Satz ein: "Viele Physiker behaupten, der Spin werde durch eine von Dirac gefundene Gleichung erklärt."12 Da hat er Recht, das tun wir.
Es schließen sich allerdings gar keine Argumente an, die erklären, warum er so skeptisch formuliert. Im Gegenteil, nach ein paar ziemlich wilden Ausführungen schreibt er, die Gleichungen seien nach bestimmten Umformungen lösbar geworden und "die dabei auftretenden Rechenregeln spiegeln in der Tat die merkwürdigen Dreh-Eigenschaften des Elektrons wider, und daher wird der Spin oft als gemeinsames Kind von Relativitätstheorie und Quantenmechanik betrachtet."
Die Gleichung hat angeblich einen schon Dirac selbst ärgernden "Konstruktionsfehler", und zwar den, die Elektronenmasse nicht herleiten zu können. Dies hat Dirac anscheinend wirklich gestört. Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass er nur das Elektron kannte, aber keine weiteren Leptonen. Erst viel später wurden zwei weitere Teilchen entdeckt, die schweren Brüder des Elektrons, das Myon und das Tau, für die Diracs Gleichung ebenfalls gilt. Also muss es mehr als diese eine Gleichung geben, um Leptonenmassen erklären zu können. Nach gegenwärtigem Verständnis ist dies der Higgs-Mechanismus. Von dem hält Unzicker natürlich gar nichts.
Offensichtlich liegt die Dirac-Gleichung Unzicker nicht. Sie ist ihm wohl zu mathematisch, denn er schreibt weiter: "Anders als in dem etwas abstrakten Zahlensystem von Dirac tritt der Spin fast zwangsläufig auf, wenn man über Drehungen im dreidimensionalen Raum nachdenkt." Er beschreibt anschließend, wie ein Kellner einen Teller um sich herum und über seinen Kopf dreht, ohne etwas zu verschütten, und nach einer doppelten Drehung des Tellers um insgesamt 720° wieder in die Ausgangshaltung zurückfindet. Dieses Beispiel ist beliebt, um die Eigenschaft der Wellenfunktion zu beschreiben, nach einer Drehung um 360° ihr Vorzeichen zu wechseln. Erst nach einer weiteren Drehung ist die ursprüngliche Funktion wiederhergestellt. Inwiefern die simple Tatsache, dass es ein einfaches praktisches Beispiel gibt, mit dem ein Aspekt des Elektronenspins illustriert werden kann, fast zwangsläufig das Auftreten halbzahliger Spins erklärt, bleibt Unzickers Geheimnis. Elektronen verhalten sich so, weil es in ihrer relativistischen Natur liegt. Dies ist der fundamentale Aspekt von Raum und Zeit, von dem Unzicker behauptet, er wäre noch nicht bekannt. Es wäre sehr interessant zu erfahren, welche Erkenntnisse ein interessierter Laie aus Unzickers Erklärungen zur Dirac-Gleichung mitnimmt.
Wie den anderen Großen der Physik, deren Lebensleistungen Unzicker mal eben marginalisiert, ergeht es also auch Dirac. Seine Gleichung hat einen schwerwiegenden Konstruktionsfehler und die physikalischen Eigenschaften, die sie für die Mehrheit der Physiker so wunderbar beschreibt, kann man sich eigentlich viel, viel einfacher ganz anders erklären. Dennoch bezieht sich Unzicker immer wieder auf Dirac als unverstandenem Genie, das über grundsätzliche Fragen nachgedacht habe, die die heutigen Leichtgewichte gar nicht mehr stellen würden. Diracs spätere Arbeiten sind jedoch als durchaus wertvoll allgemein anerkannt, seine Ideen werden immer wieder aufgegriffen. Zudem war Dirac wissenschaftlich nicht isoliert und konnte noch ein halbes Jahrhundert an ihnen arbeiten. Er war erst 31 Jahre alt, als er den Nobelpreis erhielt und nahm bis ins hohe Alter an wissenschaftlichen Veranstaltungen teil.
Insbesondere Diracs Idee, Naturkonstanten wie die Gravitationskonstante könnten, verwoben mit der Entwicklung des Universums, zeitlich veränderbar sein, fasziniert Unzicker. Immer wieder jongliert er mit diversen Kombinationen und schreibt sich in Rage, wenn er hört, wie ein paar CERN-Theoretiker nach einem Kaffeeklatsch die Vermutung äußerten, nur dimensionslose Naturkonstanten könnten fundamental sein13 Seine Begeisterung für Zahlenspiele ist wenig erhellend und sehr ermüdend. Wäre er Medienwissenschaftler, würde er sich wahrscheinlich mit Eifer der unglaublich bedeutenden Frage widmen, wie es denn sein kann, dass jeden Tag genau so viel passiert, um die Tageszeitungen des nächsten Tages exakt zu füllen.
Epidemiologischer Schluckauf am CERN? Mit dem Higgs auf der Krankenstation
Was Witten als Theoretiker für Unzicker ist, ist das CERN als Stätte der Experimentalphysik. Parallel zu seinem ersten Buch hatte er im Internet vollmundig gegen die Existenz des Higgs gewettet. Nun, dank der professionell-wissenschaftlicher Formulierungen der CERN-Physiker, es sei ein Boson gefunden worden, das mit dem Higgs-Boson des Standardmodells konsistent ist, kann Unzicker immer noch davon träumen, er habe Chancen, doch noch Recht zu behalten. Die ursprüngliche Pressemitteilung vom 4. Juli 2012 findet sich hier, frühe Ergebnisse der CMS-Kollaboration hier. Inzwischen gibt es natürlich weitere Publikationen, die auf dem CERN Document Server gelistet sind.
Unzicker schreibt über die Suche am CERN: "Was soll man nach alledem zu der Entdeckung auf Raten des Higgs-Bosons sagen? Zweifel weckt schon der Anspruch, den 'Hintergrund', ein störendes Rauschen, das ein Signal vortäuscht, gut entfernen zu können."14 Die Wortwahl ist interessant, denn dass das Hintergrundrauschen ein Signal vortäuscht, ist eine irreführende Behauptung.
Das Higgs kann auf verschiedene Arten zerfallen. Manche davon sind wirklich nur schwer vom Hintergrund zu trennen, etwa deshalb, weil im Endzustand des Zerfalls viele Teilchen existieren, die nur schwer als Higgs-Produkte zu rekonstruieren sind. Einfach ist jedoch der Zerfall eines Higgs in zwei hochenergetische Photonen. Photonen lassen sich experimentell zuverlässig und genau nachweisen. Allerdings entstehen sie sehr häufig auch bei anderen Reaktionen. Sie herauszufiltern und ein statistisch signifikantes Signal zu bekommen, hatte daher einige Monate gedauert. Unzicker hält das für nicht glaubwürdig. "Es ist bizarr, dass das Higgs identifiziert werden soll, indem es sich in zwei Gamma-Lichtquanten umwandelt - das tun praktisch alle Teilchenpaare." Die CMS-Kollaboration hatte frühzeitig allerdings auch den Zerfall von Higgsteilchen in zwei Z-Bosonen, die mit dem Photon gewissermaßen verwandt sind, gemessen und Übereinstimmung mit den Photonmessungen gefunden.
Unzicker listet auf, was alles schief gehen kann. Er kann sich einfach nicht vorstellen, unter den gegebenen Komplexitäten sei ein Erfolg überhaupt möglich. Und wenn doch, dann wäre es durchaus denkbar, dass die Physiker, bewusst oder unbewusst, Artefakte zum gewünschten Ergebnis umbiegen. Wie kann so einer Fundamentalskepsis überhaupt begegnet werden? Sehen wir uns an, wie weit her es mit seinem Verständnis der Statistik ist.
Am Anfang seines neuen Buches gibt ein Abschnitt darüber Aufschluss.15 Wie so oft in seinen Büchern, passiert auf dieser einen Seite begrifflich eine ganze Menge. Seine Gedanken müssen erst einmal entwirrt werden. Es geht ihm wohl eigentlich um die Frage, ob das Standardmodell gültig ist, ob die physikalische Wirklichkeit also tatsächlich kompliziert ist, ausgehend von den hohen Wahrscheinlichkeiten, die für die Entdeckung von Teilchen angegeben werden. Zur Illustration konstruiert er leider ein epidemiologisches Beispiel, kein physikalisches. Es ist wert, sich sein Konstrukt in Ruhe anzusehen.
"Angenommen, Sie lassen eine Routineuntersuchung beim Arzt machen, die darauf hindeutet, dass Sie an einer unheilbaren Krankheit leiden." Der Test liefere "in 999 von 1000 Fällen" eine richtige Diagnose. Was natürlich beunruhigend ist. Aber es gibt noch Hoffnung. Diese "Wahrscheinlichkeit sagt nämlich nichts darüber aus, wie verbreitet die Krankheit ist, ... zum Beispiel 0,02 Prozent. Wenn sich also 10000 Leute untersuchen lassen, werden darunter im Mittel zwei Erkrankte sein." Da von 1000 Erkrankten 999 erkannt werden, werden diese beiden wohl entdeckt werden. Die sog. Sensitivität ist also 0,999. In dem Beispiel ist die Spezifität, also die Anzahl der Gesunden, die als gesund erkannt werden, auch als 0,999 definiert. Dies führt bei der angenommenen Prävalenz von 0,02 % = 0,0002 dazu, etwa 10 von 9998 Gesunden als krank zu klassifizieren. Im Endeffekt besteht die Gruppe der positiv Getesteten somit aus 12 Personen, zwei wirklich Erkrankten und zehn Gesunden. Ergo, ein positiver Befund ist halb so schlimm!
Unzicker wittert hier, Bayes lässt grüßen, ein wissenschaftstheoretisches Problem. Wie kann ich behaupten, eine wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen zu haben, wenn fünf von sechs Personen fälschlich ausgewählt wurden? Unzicker schreibt viel über angebliche wissenschaftstheoretische Zumutungen der modernen Physik, aber hier hat er sich dummerweise ein Beispiel zurecht gezimmert, das einfach nur schlecht konstruiert ist. Was würde ein Epidemiologe sagen? Ganz einfach. Der Test ist geeignet für erste Screeningmaßnahmen, denn wer sich in der Gruppe der positiv getesteten Personen befindet, hat nun eine Wahrscheinlichkeit von 0,167, wirklich erkrankt zu sein, was wesentlich höher ist als die 0,0002 von zuvor. In Wahrheit also kein Grund zur Entwarnung.
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