Wladimir Putin: Das Selbstbild hat Risse
Wladimir Putin 2022. Bild: Kremlin.ru / CC-BY-4.0 / Grafik: TP
Wie kann man dem russischen Präsidenten angesichts des Angriffskriegs gegen die Ukraine begegnen? (Teil 2 und Schluss)
Das Bild eines arbeitsamen, disziplinierten Präsidenten, der wie ein "Galeerensklave" zum Wohle Russlands "schuftet" (Putins Worte), bekommt allerdings Risse, wenn man Berichten von Oppositionellen über Putins Reichtum und luxuriöser Lebensführung trauen darf. Es ist die Rede von einer Vielzahl von Flugzeugen, mehreren Yachten und Villen, außerdem von undurchsichtigen Geschäftsverbindungen. Der Kreml weist Kritik zurück. Der Präsident benutze lediglich Staatseigentum.
Auch Putins Tagesablauf in seiner Residenz in Novo-Ogaryovo gleicht nicht dem eines Arbeitstiers. Wie es heißt, steht er spät auf, frühstückt ausgiebig, widmet sich sportlichen Tätigkeiten.
An die Arbeit (Lektüre) geht er am frühen Nachmittag und empfängt dann seine Entourage. Familienleben hat er keines, da er sich von seiner Frau scheiden ließ. Wie Bilder, auf denen beide gemeinsam auftraten, andeuten, bestand wohl ein kühles Verhältnis zwischen beiden. Wo seine beiden ehelichen Töchter leben, ist nicht bekannt. Seine "Familie" sind Leibwächter und Mitarbeiter.
Herkunft und psychische Dispositionen
Es ist anzunehmen, dass die am äußeren Verhalten gemachten Beobachtungen mit inneren, psychischen Dispositionen zusammenhängen. Ich wende mich noch einmal der Kindheit Putins zu.
Eine Unsicherheit fängt mit seinen Eltern an. Eine in Georgien lebende alte Frau behauptete im Jahr 2000 in dem Ministerpräsidenten Wladimir Putin ihren als Kind weggebenen, gleichnamigen unehelichen Sohn wiedererkannt zu haben. Er sei mit neun Jahren – nach Zwischenstationen in Georgien – von dem damals kinderlosen Ehepaar Wladimir S. und Marija I. Putin aufgenommen worden, entfernten Verwandten. Diese seien nach Leningrad gezogen und hätten ihn dort als ihren leiblichen Sohn registrieren lassen.
Die von mehreren Journalisten weiterverbreitete und schließlich von Steffen Dobbert nachgeforschte und veröffentlichte Geschichte sieht sehr nach einer aus Zufälligkeiten gewebten Legende aus. Sie könnte in Umlauf gebracht worden sein, um Putin zu schaden.
Dass Vera Putinas verlorener Sohn "Vova" mit dem prominenten Wladimir Putin identisch sein soll, lässt sich weder mit Sicherheit belegen noch widerlegen.
Putin ist im Jahr 2000 dieser Geschichte mit anderen Angaben und Erzählungen entgegengetreten – ohne sie zu erwähnen. Dobbert meint, Putin habe seine wahre Herkunft verleugnet, da sie seinem Weg zur Macht abträglich gewesen wäre.
Putin erzählt von einer Kindheit und Jugend in Leningrad, wo seine Eltern in einer kommunalen Einzimmerwohnung in einem Arbeiterviertel lebten. Zwei Brüder seien lange vor ihm verstorben, sodass er als spätes Einzelkind aufwuchs.
Sein Vater sei Ingenieur mit Hochschulabschluss gewesen und arbeitete in einer Fabrik (Stone, Die Putin-Interviews). Nach einem Jugendfreund war der Vater "ein echter Proletarier", der seinen Sohn liebte, aber immer etwas an ihm auszusetzen hatte.
Wladimir Spiridonowi Putin war streng. Wladimir Putin spricht von "Schlägen", die er erhalten habe. Er hat den Vater als Kriegsinvaliden, der dennoch seine Arbeit bis ins Alter ausführte, erlebt.
Als Partisan und Soldat hatte der Vater im Krieg von den Deutschen Schlimmes erlebt, war nur knapp mit dem Leben davon gekommen und wurde durch Granatsplitter schwer verletzt. Putin schildert ihn als Menschen, der sich für Vaterland, Frau und neugeborenen Bruder heldenhaft und aufopferungsbereit eingesetzt habe.
Als Lehre aus den Kriegserfahrungen des Vaters zieht Putin den Schluss: "Das Leben ist so einfach und grausam" – ein Motto, das wohl auch manches über die Lebenseinstellung Putins verrät.
Putin hebt hervor, dass seine Mutter zu seiner Verwunderung keinen Hass auf die deutschen Soldaten gehabt habe. Ihrer Meinung nach seien sie "harte Arbeiter genau wie wir" gewesen, die "einfach an die Front getrieben wurden."
Die Mutter, Marija Ivanovna Putina, bemühte sich, die Strenge des Vaters auszugleichen. Sie wird als gütig und harmoniebedürftig geschildert. Putin charakterisiert sie als "im Allgemeinen sehr sanfte, freundliche Person". Er berichtet, sie habe ihn früh ohne Wissen des Vaters, der Parteimitglied war, taufen lassen.
Um den Jungen davor zu bewahren, dass er in ein Waisenhaus gesteckt wurde, nahm sie eine Stelle als Hausmeisterin an. Tagsüber arbeiteten die Eltern, der Junge war bis in die Abendstunden sich allein überlassen und verbrachte die Zeit mit anderen Jungen und Mädchen auf dem Hof.
Zur Atmosphäre in der Familie berichtet Putin, sie hätten sich wohl verstanden, aber untereinander wenig Worte gemacht und Emotionen gezeigt: "Ich kann nicht behaupten, dass wir eine sehr emotionale Familie waren … jeder lebte irgendwie in sich selbst."
Folgen einer Elternkonstellation
Was wird ein Kind mit dieser Elternkonstellation, in dieser sozialen Lage empfinden? Sicherlich wird es sich oftmals verlassen, vernachlässigt vorgekommen sein. Im Allgemeinen wird dies als Kränkung des Selbstwertgefühls empfunden, was auch beim Erwachsenen nachwirken kann.
Eine mögliche Reaktion ist die Kompensation durch Größenphantasien, die sich später als Ehrgeiz und Streben nach Macht bemerkbar machen. Da das Kind sich auf sich selbst gestellt sieht, wird es "seine eigenen Regeln" und eine eigene Sicht der Dinge entwickeln. Hat es damit Erfolg, wird es dieses Prinzip und womöglich auch Sichtweise und Regeln als Erwachsener beibehalten.
In einer Einzelkind-Situation wird diese Ich-Bezogenheit verstärkt, da das Kind trotz Vernachlässigung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.
In einer kommunikations- und emotionsarmen Familie ein Kind wenig Anregung zur Entwicklung von Empathie und vielseitiger Beziehungsfähigkeit bekommt. Erfahrungen in der Peer-Group können das nicht vollständig ersetzen, da sie meist einseitig sind.
Die vermeintliche Kränkung durch die Eltern muss nicht zur völligen Ablehnung führen. Es kann sein, dass sie als Entlastungsmöglichkeit idealisiert werden.
Wenn das Gegengewicht einer fürsorglichen Mutter schwach ist, wird sich ein Knabe irgendwann einmal mit dem strengen Vater identifizieren und selbst autoritäre Züge ausbilden, zumal wenn er hinter der Strenge dir verborgene Liebe des Vaters spürt.
Ist eine Familie traumatisiert, etwa durch Armut oder Kriegsereignisse, wird ein Kind ebenfalls unter dem Trauma leiden. Wurde das Trauma nicht bewältigt, dann wird sich auch beim Kind die Wunde nicht schließen. Es wird versuchen, sie durch äußere Aktivitäten zu heilen.
Erfahrene Mängel – Armut etwa – können dazu führen, dass der Erwachsene nach Luxus und Reichtum strebt. Womöglich werden auch Ersatzfiguren oder -umstände gesucht, die für Frustrationen schuldig gemacht werden können.
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass in Putins Kindheit solche "Dispositionen" angelegt wurden. Wahrscheinlich haben auch andere in seiner Generation in der Kindheit Erfahrungen wie er gemacht.
Da nicht alle seinen Weg der Kompensation gehen konnten, bietet er sich als Projektionsfläche zur Bewältigung persönlicher und nationaler Kränkungen an. Die persönlichen Schicksale und Prägungen sind eng mit nationalen und gesellschaftlichen Umständen verwoben – wie das Beispiel der Herkunftsfamilie Putins zeigt.
Rückgriff auf die "Russische Welt"
Putin steht in einer geistigen Tradition Russlands, die über ihn hinausgeht.
Bei der inhaltlichen Analyse von Putins Reden fällt auf, dass er zu russisch-patriotischen, stalinistischen und christlich-orthodoxen Traditionen zurückgreift.
Vorbereiter der Rückorientierung zu nationalen und kirchlich-orthodoxen Ideen sind Philosophen wie der Antidemokrat, Bolschewismusgegner, Hitler-Befürworter, Monarchist, Nationalist, Slawophile, Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche Ivan Iljin (1883-1954). Neuerdings werden solche Ideen von dem neofaschistischen, antiwestlichen und antiliberalen Publizisten Alexander Dugin aufgenommen.
Russischer Patriotismus sieht ein konservatives, "heiliges Russland" dem rationalistischen, liberalen, "dekadenten" Westen gegenüber. Dabei kommt eine Auffassung zum Zuge, die eine einzigartige "russische Zivilisation" und ein einheitliches, historisches, über die russische Nation hinausgreifendes Russland postuliert. Mehr oder weniger ist damit das "Russländische Imperium" des Zarenreiches gemeint.
Diese "Russische Welt" (Русский мир) müsse "Selbstbewahrung" üben, eine "imperiale Wiedergeburt" erfahren und zur offensiven "imperialen Mission" übergehen (A. Dugin). Der Auftrag der Mission ist die russländische, europa- und weltweite Restauration der alten genuinen, vorliberalen Werte und Moral.
Über die Absicht der Wiederherstellung der Einheit der alten russischen Welt hinausgehend wird eine "eurasische Idee" propagiert (A. Dugin), mit der Schaffung einer "freien" eurasischen Zone von Wladiwostok bis Lissabon" (Ex-Staatschef D. Medejew), wohl unter Führung Russland. Die Absicht, die US-Hegemonie in Europa zu brechen, ist deutlich.
Auch diese Idee ist nicht ganz neu. Die sogenannten "Ostler" (Vostočniki) betonten Ende des 19. Jahrhunderts die Nähe Russlands zu Asien und hoben das angeblich friedlich-inklusive Vorgehen des russländischen Imperiums gegenüber der aggressiv-exklusiven Expansion der europäischen Kolonialmächte hervor.
Putin hat sich die Idee der Wiederherstellung der "Russischen Welt" zu eigen gemacht. Sie bestimmt sein geopolitisches und strategisches Konzept.
Russland nationale Sicherheitsstrategie
Eine offizielle Fassung findet das in dem Manifest "Zur nationalen Sicherheitsstrategie Russlands" (2021), das im Westen wenig zur Kenntnis genommen wurde. Das von Putin unterzeichnete und bestätigte Dokument trägt deutlich seine Handschrift. Es beschreibt die von der Politik der Russischen Föderation zu beschreitenden Wege und zu ergreifenden Mittel zu Gewährleistung der nationalen Sicherheit und Interessen.
Ein wesentliches Element ist die Wendung gegen die "zerstörerischen Einflüsse auf grundlegende moralische und kulturellen Normen" durch westliche Lebenshaltungen. Dagegen wird "die Stärkung der traditionellen geistig-moralischen Werte Russlands, die Bewahrung des kulturellen und historischen Erbes des Volkes Russlands" beschworen.
Dieses Erbe sei "aktiven Attacken" von Seiten des Westens ausgesetzt, die beabsichtigten, die "kulturelle Souveränität" Russlands zu zerstören und damit die politisch-staatliche Stabilität zu untergraben. "Der Schutz der traditionellen geistig-moralischen Werte Russlands, der Kultur und des Geschichtsbewusstseins" ziele "auf die Stärkung der Einheit der Völker Russlands auf Grundlage der Identität als Staatsbürger Russlands."
Dies schließt die "Unterstützung der im Ausland lebenden Landsleute bei der Ausübung ihrer Rechte, darunter des Rechts auf Bewahrung der gesamt-russländischen kulturellen Identität ... und die "Stärkung brüderlicher Beziehungen zwischen russischen, belarussischen und ukrainischen Völkern" ein.
Auch die Zusammenarbeit in der "Großen Eurasischen Partnerschaft" wird als Ziel der russischen Politik erklärt.
Stützen Putins
Putin fordert die "Selbstreinigung" des russischen Volkes. Das erinnert an die stalinistischen "Säuberungen". Er meint das nicht im Sinne der kommunistischen Orthodoxie, sondern der russisch-patriotischen Erneuerung beschwört aber damit eine Zeit der Einheit.
Der "tiefgläubige Christ" Putin stützt sich auf die russisch-orthodoxe Kirche, die ihrerseits Putin und seine "vaterländischen" Bestrebungen bejaht, auch den Ukrainekrieg für gerechtfertigt ansieht.
Der Patriarch von Moskau und Russland, Kyrill, ist eng mit Putin verbunden und spricht – wie Putin – vom "gerechten Krieg", einer Lehre, von der die anderen Weltkirchen längst abgerückt sind (Papst Franziskus zu Kyrill: "Krieg ist immer ungerecht.") Tichon, ein national-konservative Metropolit, von dem es heißt, er sei der Beichtvater Putins, ist ebenfalls ein Anhänger des Präsidenten und hat die "Rückholung" der Krim gutgeheißen.
Die orthodoxe Kirche genießt hohe Wertschätzung in der Bevölkerung, auch wenn nur ein Bruchteil der Russen regelmäßig Gottesdienste besucht.
Die offizielle Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche wird allerdings nicht von allen ihren Vertretern mitgetragen. 300 Priester und Diakone haben sich öffentlich gegen den Krieg gewandt.
"Autokratie, Orthodoxie, Volkstümlichkeit" (avtokratija, pravoslavie, narodnost' – nach dem restaurativ ausgerichteten russischen Bildungsminister Sergej S. Uvarov / 1786–1855) und damit verbundene Anti-Westlichkeit – das hat Tradition in Russland. Darauf stützt sich auch Putins System. Das Syndrom ist in der russischen Bevölkerung tief verankert.
Russland und Europa – ein "Bruderzwist"
Es sollte aber nicht vergessen werden, dass diese restaurativen Tendenzen nicht der einzige Traditionsstrang Russlands sind. Die Beziehung Europas und Russlands zueinander in der Neuzeit ist durch gegenseitige Anziehung und Abstoßung gekennzeichnet. Im Zarenreich wechseln Öffnung und Abschließung gegenüber Europa, antagieren Reform und Restauration.
Verdeutlichen lässt sich das an Zar Alexander II. (1855-1881 Kaiser), der als großer Reformer und "Befreierzar" gilt, u.a. durch die Abschaffung der Leibeigenschaft. Er wollte die Rückständigkeit und Isolierung Russlands überwinden und das Zarenreich zivilisatorisch und politisch an Europa heranführen ("Dreikaiserabkommen" zwische Russland, Österreich-Ungarn und Deutschem Reich).
Sein Sohn, Alexander III. ((1881 -1894) – anscheinend zaristisches Vorbild Putins – schraubte die liberalen Neuerungen seines Vaters wieder zurück. Er setzte auf Autokratie, Russifizierung (auch der Ukraine), militärische Stärke (nicht aber Krieg), die orthodoxe Kirche, Geheimpolizei. Für ihn lag die Stärke Russlands in sich selbst.
Putin ist in seiner politische Entwicklung ein Beispiel dieser russischen Ambivalenz. Das Pendel bei ihm und der russischen Bevölkerung schwingt nach seiner Anfangszeit als Präsident wieder zurück in Richtung Abschließung. Das hat aber auch mit der US-amerikanischen und europäischen Politik zu tun, die seit dem Zerfall der Sowjetunion in frühere Bahnen zurückgekehrt ist und Russland zunehmend isoliert hat.
Alte Stereotypen und Feindbilder über Russland gewinnen wieder Einfluss, vollends durch den Ukrainekrieg. Trotz des erneut aufgeflammten "Bruderzwistes" zwischen Russland und den europäischen Mächten sollte bedacht werden, dass Russland von seiner Geschichte her als Teil des "Europäischen Hauses" betrachtet werden kann.
Jedenfalls: die Zustimmung der Mehrheit der russischen Bevölkerung zu Putins Regime beruht nicht nur auf seinem Propagandaapparat und lückenhaft-einseitigen Informationen, sondern auch auf gemeinsamen Werten – wie dargelegt.
Ob die Zustimmung zu Putins imperialistischer und bellizistischer Durchsetzung dieser Werte auf die Dauer bleiben wird, ist allerdings fraglich. Das wird vom Verlauf und Ausgang des Ukrainekrieges abhängen – und davon, wie er und die russischen Medien die Geschehnisse der russischen Bevölkerung plausibel machen können. Vorerst schließen die westlichen Sanktionen und der Krieg die russische Gesellschaft eher zusammen, als dass sie sie auseinanderdividieren.
Diktatorische oder autokratische Staatslenker wie Napoleon, Friedrich II. von Preußen, Hitler, Stalin folgten imperialistischen Ideen. Sie konnten ihr Ziel langfristig verfolgen, da sie Kontrollen, Einschränkungen und zeitliche Beschränkungen ihrer Macht aus dem Wege geräumt hatten. Ihrer Idee ordneten sie alles unter; menschliche Opfer, Verheerungen von Lebensräumen, Zerstörung von staatlichen Strukturen kümmerten sie nicht.
Putin und die russische Militärdoktrin
Es wäre abwegig, Putin mit diesen historischen Gestalten zu vergleichen; aber zumindest eines hat er mit ihnen gemeinsam: sich im Auftrag eines imperialistischen Ideenkomplexes zu sehen. Dank seiner ständigen Wiederwahl kann er diesen langfristig als kühler Stratege mit wechselnder Taktik verfolgen. Aber die russische Militärdoktrin (2015) gibt ihm als obersten Befehlshaber der Streitkräfte auch die Möglichkeit zu Militäreinsätzen, mit Einschluss der Entscheidung über den Einsatz von Kernwaffen.
Wann der "Einsatz der Streitkräfte und anderen Truppen zur Abwehr einer gegen die Russische Föderation [RF] und (oder) ihre Verbündeten gerichteten Aggression und zur Erhaltung (Wiederherstellung) des Friedens …" erfolgt, hat einen weiten interpretatorischen Spielraum.
Er ist schon bei einer drohenden Aggression möglich, kann auch zum Schutz der russischen Bürger außerhalb der Grenzen der RF erfolgen und sich überhaupt auf Gebiete außerhalb der RF erstrecken, "zum Schutz der Interessen der RF und ihrer Bürger sowie der Erhaltung des internationalen Friedens und der Sicherheit".
Kernwaffen gehören zum Abschreckunspotential der RF ("Zügelungsstrategie"), ihr Einsatz kommt in Betracht "als Antwort auf einen gegen die RF und (oder) ihre Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderen Arten von Massenvernichtungswaffen … Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit konventionellen Waffen gegen die RF, bei der die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät." "Die Entscheidung … trifft der Präsident der RF."
Putin ist bereit, zum militärische Mittel zur Verwirklichung seiner geostrategischen und politischen Ziele einzusetzen, auch wenn keine drohende oder unmittelbare Aggression gegen die RF vorlag.
Begründugen im Sinne des Strategiepapiers und der Militärdoktrin ließen sich immer finden. Empathie mit den Opfern und Vermeidung von Zerstörungen ziviler Strukturen sind von ihm nicht zu erwarten.
Auch hier gilt, der Verweis auf das Vorgehen anderer Mächte rechtfertigt nicht das eigene Vorgehen, zumal die RF sich dazu bekennt, "globale Spannungen abzubauen, die internationale Sicherheit zu stärken" und die "Anwendung militärischer Gewalt unter Verletzung der UN-Charta" zu verhindern." (Strategiepapier)
Wie Putin begegnen?
Mit dieser Frage verlasse ich den Boden der Analyse und gebe meine Meinung wieder.
Wahrscheinlich wäre die jetzige Eskalation zwischen dem Westen und Russland zu verhindern gewesen, wenn man rechtzeitig realistisch mit Russland kooperiert und dabei dessen Interessen einbezogen hätte.
Ansätze dazu gab es in der Russland-Politik Deutschlands – die aber nun diskriminiert werden – und auch in der EU. Amerikanisches Hegemoniestreben hat sie überlagert; der unnötige Angriff Putins auf die Ukraine hat die letzten Reste zunichtegemacht.
Nun ist die Situation verfahren. Festigkeit und Maßnahmen gegen Putins völker- und menschenrechtswidrigen Übergriffe sind angebracht. Doch die Eskalationsschraube, die in Gang gesetzt wurde, birgt große und unkalkulierbare Risiken. Sie könnte Europa und Russland, wenn nicht die ganze menschliche Zivilisation in den Abgrund reißen. Dabei weiß die Friedensforschung:
Sicherheit erreicht man nicht mit Abschreckung. Frieden schon gar nicht. […] Hoffnung gibt allein das Festhalten am Dialog ...
Das Fernziel aller menschenfreundlichen und vernünftigen Politik muss sein, eine neue europäische und weltweite Friedenssicherung zu erreichen, die auch russische Interessen einbezieht. Wir sollten daran denken, dass wir noch nach dem Ukrainekrieg – und vielleicht nach Putin – mit Russland zusammenleben.
Wenn wir nicht ständige Unruhe in Europa in Kauf nehmen wollen, werden wir ein Auskommen mit Russland finden müssen Dies wird nicht ohne Abstriche und Kompromisse auf allen Seiten gehen. Zu einer realistischen Politik gehörte auch, die russische Sichtweise ernsthaft wahrzunehmen, was nicht heißt, dass man sie teilen müsste.
Vielleicht hilft auch hier ein Blick in die russisch-europäische Geschichte, in der immer wieder Bündnisse geschlossen und Übereinkünfte gefunden wurden. Doch auch das russische Strategiepapier lässt auf russischer Seite Möglichkeiten der gegenseitigen Konfliktbeilegung und Friedenssicherung erkennen. Sie sollten wahrgenommen werden.
Vielleicht ist die russische Führung zu Kompromissen bereit, wenn man ihr verlässliche Sicherungen in Aussicht stellt. Das könnte für Putin ein gesichtswahrender Ausweg aus weltweiter Isolierung und Fixierung auf die eigene Sichtweise sein.
In der USA-Zeitschrift The Atlantic ist ein bemerkenswerter Artikel zum Ukrainekrieg erschienen, der auf Fehler hinweist, die westliche Politik machen kann und aufzeigt, welche Optionen bleiben. Er endet mit den Worten:
Die schreckliche Realität ist …, dass die beste Option für den Westen darin bestehen könnte, einen Weg zu finden, wie Putin nicht so zur Rechenschaft gezogen werden muss, wie es sein sollte – aber dann nie zu vergessen, was er getan hat.