Wo bleibt der Sozialprotest 2.0?
Mit Andreas Ehrholdt ist ein wichtiger Protagonist der Sozialproteste gegen die Agenda 2010 gestorben. Kurze Zeit war er deren Gesicht. Was bleibt von "Schluss mit Hartz IV – heute wir morgen ihr"?
"Schluss mit Hartz IV, denn heute wir und morgen ihr" – diesen Satz schrieb Andreas Ehrholdt im Juli 2004 auf selbst gefertigte Plakate, mit denen er zu Demonstrationen in Magdeburg aufrief. Damit wurde er im Spätsommer und Herbst 2004 für kurze Zeit zum Medienstar. Denn aus den Protesten in Magdeburg entwickelte sich in wenigen Wochen in Ostdeutschland eine Protestbewegung gegen die Einführung von Hartz IV.
In der Hochphase gingen dort in allen größeren Städten Tausende Menschen auf die Straße. Aber auch in Kleinstädten und Dörfern gab es Proteste gegen die neuen Zumutungen für einkommensarme Menschen. Denn darum ging es bei den Hartz-IV-Reformen, die nicht nur erwerbslose Menschen schlechter stelltem, sondern auch Lohnabhängige, deren Einkommen nicht zum Leben reichte und die aufstocken mussten.
Es gab im Spätsommer 2004 natürlich auch Versuche, die Proteste nach Westdeutschland zu exportieren. Doch dort erreichten sie bei Weiten nicht die Ausmaße wie in der ehemaligen DDR. Viele Medienvertreter, Forschende und auch Aktivisten versuchten die Ursachen zu ergründen. Deswegen fand Andreas Ehrholdt für kurze Zeit so großes Interesse.
Er war nicht nur ein Initiator der Proteste, er verkörperte sie auch. In der DDR hatte er eine Ausbildung als Elektromaschinenbauer absolviert. Aus der SED war er ausgeschlossen worden, nachdem er einen Ausreiseantrag in die BRD gestellt hatte. Im Sommer 1989 gelang ihm wie Tausenden über die BRD-Botschaft in Budapest doch noch die Ausreise.
Wenige Monate nach dem Mauerfall war er zurück in seiner Heimatregion. Dort machte er wie viele einen Crashkurs in Sachen Kapitalismus durch, wurde erwerbslos und war auf staatliche Leistungen angewiesen. Die bevorstehende Einführung des "Arbeitslosengeld II" – im Volksmund Hartz IV – inklusive Sanktionsregeln empfand er später wie viele in Ostdeutschland als ein weiteres Beispiel für Ungerechtigkeit.
Deshalb hatte er für die Proteste bewusst einen Montag ausgewählt und erinnerte damit an die Montagsdemonstrationen gegen die autoritäre SED-Politik im Herbst 1989. Dagegen liefen manche frühere DDR-Bürgerrechtler Sturm, die letztendlich vor allem rechte Bürger waren und vor einer Vereinnahmung der Montagsdemo-Tradition sprachen.
Es ging gegen jede Ausgrenzung
Linke DDR-Oppositionelle hingegen solidarisieren sich ausdrücklich mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV. Die Protestbewegung war sehr breit – auch Rechte liefen mit. Doch es engagierten sich dort schnell auch die unterschiedlichsten linken Gruppen, von Gewerkschaftern bis zu Autonomen.
Sie prägten bald das Bild und sorgten dafür, dass die Proteste gegen Hartz IV nicht von rechts dominiert wurden. Dabei ging es nicht nur um die Frage, ob Menschen aus der rechten Szene mitliefen. Es ging um die Botschaft der Proteste und die war ganz eindeutig. Es ging darum, dass kein Mensch, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Einkommen so behandelt werden sollte, wie es das Hartz-IV-Regime vorsah.
Diese Grundaussage vertrat auch Ehrholdt, obwohl er in den 1990er-Jahren kurze Zeit Mitglied der CDU gewesen war und 1998 erfolglos auf der Liste rechten Mittelstandspartei für den Landtag von Sachsen-Anhalt kandiert hatte. 2004 gründete er die Gruppierung "Freie Bürger für Soziale Gerechtigkeit", die aber nie größere Bedeutung erlangte.
Doch er bediente eben keine nationalistische Erzählung, was schon in der Parole deutlich wurde, die er auf die Plakate schrieb. "Schluss mit Hartz IV – heute wir morgen ihr" grenzte eben niemanden aus. Im Gegenteil, damit wurden auch die Menschen angesprochen, die vorerst nicht von dem Sanktionen des Regimes betroffen, doch das konnte sich ändern. Damit hatte er die Rolle des Hartz-IV-Regimes sehr präzise erfasst.
Es sollte Menschen abschrecken und sie dazu bringen, Lohnarbeit um jeden Preis anzunehmen, um nur nicht in die Fänge des Sanktionsregimes zu geraten. Das hatte auch fatale Folgen in der Arbeitswelt. Die Lohnabhängigen ließen sich Verschlechterungen bei Lohn und Arbeitsbedingungen gefallen, um nur nicht in Hartz IV zu landen. An sie richtete sich Ehrholdts Parole.
Wie soziale Proteste nationalistisch umcodiert wurden
Heute ist aber die Parole "Weg mit Hartz IV, das Volk sind wir" bekannter, die allerdings viel eher offen für eine nationalistische Lesart ist und Menschen ausgrenzt, die nicht zu diesen imaginierten Volk zählen. Hier war schon die Saat dafür gelegt, aus sozialen Protesten nationalistische Manifestationen zu machen, wie sie von der AfD und ihrem Umfeld heute mit Erfolg in Ostdeutschland propagiert werden. Dass diese Umcodierung gelungen ist, könnte auch daran liegen, dass Menschen wie Andreas Ehrholdt beiseite geschoben wurden.
Er wurde Mitglied der Partei Die Linke, bemühte sich dort anfangs auch ohne Erfolg um Funktionen. Vielleicht war er zu basisnah für die Funktionäre. Dabei wäre es interessant gewesen, zu erfahren, was ein Andreas Ehrholdt dazu sagt, dass in der Linkspartei, angesichts der Angst vor ihrem Totalabsturz der Kampf zwischen Sozialkonservativen und Sozialliberalen auf Hochtouren weiterläuft.
Mal trifft sich die eine Strömung in Hannover, mal die andere Strömung in Berlin, um festzustellen, dass sie mit der anderen nicht mehr gemeinsam in einer Partei sein will.
Wo würde da ein Andreas Ehrholdt verortet, wie würde er sich selber verorten? Würde er sich nicht verbitten, in solche Schubladen gesperrt zu werden? Er hatte sich im letzten Jahrzehnt nicht mehr in der Öffentlichkeit geäußert. Seine 2011 veröffentliche Autobiographie mit den Titel "Ihr habt Euch selbst verraten" wurde kaum beachtet.
Dabei steckt schon im Titel eine große Enttäuschung über die Entwicklung der Protestbewegung. Da hatte der Prozess der Nationalisierung einer sozialen Bewegung schon eingesetzt, die dazu führte, dass die AfD in Ostdeutschland eine solche Bedeutung bekommen konnte.
Drei Protagonisten einer emanzipatorischen Protestbewegung
Am 25. Mai ist Andreas Ehrholdt im Alter von knapp 62 Jahren gestorben. Neben ihm starben in den letzten Wochen auch Anne Allex und Arno Dübel, die drei sehr unterschiedliche Formen eines emanzipatorischen Widerstands gegen die Zumutungen des Hartz-IV-Regimes praktizierten, die nicht von Rechten vereinbart werden konnte.
Dübel wurde mit seiner in Talkshows geäußerten Überzeugung, dass man auch ohne Lohnarbeit das Recht auf ein schönes Leben hat, zum Hassobjekt derer, die ganz viele Opfer auf sich nehmen, nur um wieder Lohnarbeit zu bekommen. Anne Allex, die 2007 das Schwarzbuch Hartz IV mit herausgegeben und das Notruftelefon gegen Zwangsräumungen unter Hartz IV mit initiiert hatte, war 2007 auch Gründerin des AK Marginalisierte gestern und heute, der sich für die Rechte als asozial stigmatisierter Menschen in Vergangenheit und Gegenwart einsetzte. Die Losung "Kein Mensch ist asozial" war ihr Leitspruch. Die drei Personen stehen so auch Konzepte, die noch heute gegen die rechte Umcodierung sozialer in nationalistische Proteste wirksam wären.