Wo waren Sie, als Kant geboren wurde?
Ist Kant wirklich (immer noch) die hellste Kerze am Firmament der Philosophie oder nicht doch ein Alleszermalmer als Alleszuständiger? Der Aufklärer in den Medien dieser Tage.
Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.
Friedrich Schiller
Erkennenwollen aber, ehe man erkenne, ist ebenso ungereimt als der weise Vorsatz jenes Scholastikus, schwimmen zu lernen, ehe man sich ins Wasser wage.
G. W. F. Hegel
Im ICE "Immanuel Kant" von Paris nach Kaliningrad gibt es schon seit Längerem kein Zigeunerschnitzel mehr im Bordrestaurant, aber immer noch Königsberger Klopse.
Zwischenhalt in dem kleineren Frankfurt, das so heißt wie eine Frage. Dort schauen wir bei Gesine Schwan vorbei und fragen sie "Was ist Aufklärung?" "Zukunftszuversicht, Rechtsstaat, Freiheit und Vertrauen", antwortete sie im Viervierteltakt der Vernunft.
Privat kein Langweiler. Sonst schon?
Immanuel Kant wird 300. Und blickt man auf das, was die Medien seit einigen Monaten bis zu diesem Tag so alles über den "Alleszermalmer" schreiben, kann man schnell den Eindruck bekommen, aus Immanuel Kant sei endgültig ein Gebrauchsgegenstand geworden, so eine Art Tempo-Taschentuch der Philosophie, mit dem man ziemlich jedes Problem wegwischen oder sich jedenfalls zurecht schnäuzen kann.
Besonders die FAZ, uns bislang weder als Medium der reinen Vernunft noch der Aufklärung bekannt, feiert den Königsberger Philosophen, als ging es um den runden Geburtstag eines Herausgebers. Zwei Seiten plus Leitartikel, und in der FAS legt Feuilletonherausgeber Jürgen Kaube noch mal mit einem mächtigen Aufmacher nach.
Ein Revolutionär sei er gewesen, "im fortgeschrittenen Alter legte er mit der 'Kritik der reinen Vernunft' 1781, der 'Kritik der praktischen Vernunft' 1788 und der 'Kritik der Urteilskraft' 1790 drei Bücher vor, die alles änderten. Es konnte danach nicht mehr so gedacht werden wie zuvor. Die Auffassungen von Gott und der Moral, von der Kindererziehung, dem Schönen und den Naturwissenschaft gerieten ins Wanken. Fast nichts blieb von den Gedanken der Philosophie Kants unberührt".
Das stimmt unbedingt. Aber ist nicht zugleich Kaubes Feststellung, dass Kant "über die Jahrhunderte der Referenzpunkt fast aller philosophischen Schulen" blieb und "salopp formuliert, so gut wie keine Gegner" hat, genau der Anfang des Problems?
Man muss sich zumindest fragen, ob das nicht gegen Kant spricht.
Mode und Philosophie und Modephilosophie
Auch sonst lesen wir Lobendes: "Alles andere als rückwärtsgewandt" (FAZ) sei er gewesen, "alles andere als ein Langweiler" (SZ). Wenn das so betont werden muss, schöpfen wir Verdacht.
Der österreichische Schriftsteller Daniel Kehlmann, gerade noch Experte für Kafka, davor gerade noch Experte für Georg Wilhelm Papst ist jetzt in der SZ Kant-Experte – also fast wie außer Kant nur noch Rüdiger Safranski und Richard David Precht selbst ein Alleszuständiger.
Beim 300, Geburtstag scheint es der SZ besonders wichtig zu betonen, dass Kant privat kein Langweiler war, sondern irgendwie ein Salonlöwe, Schachspieler, Billardspieler, dandyhaft gekleidet und nicht zu vergessen ein "Frauenheld".
Auch in der Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle macht man vor allem klar:
So war Kant, der erst im Alter von 46 Jahren als Professor für Logik und Metaphysik an die Universität Königsberg berufen wurde und seinen Geburtsort, das heutige Kaliningrad, kaum je verließ, keineswegs so dröge wie mitunter behauptet.
Und:
Nicht bloß philosophisch, auch modisch war er auf der Höhe seiner Zeit. Perücke, Rock, Weste, Beinkleid, Strümpfe und Schnallen – alles musste aufeinander abgestimmt sein, war Kant doch davon überzeugt, "dass man in der Wahl der Farben zu Kleid und Weste sich genau nach den Blumen richten müsse", wie einer seiner Studenten notierte.
Auch hier hatte der Philosoph einen einleuchtenden kategorischen Imperativ parat: "Man muss lieber ein Narr in der Mode als außer der Mode sein."
Das ist in seinen Formulierungen natürlich Quatsch und in der Gleichsetzung von Philosophie und Mode zum Fremdschämen.
Was war noch mal Aufklärung?
Dann kommen aber doch bestimmte Themen zum Vorschein, die vielleicht ernsthaft relevant sind. Zum Beispiel die Französische Revolution. Zum Beispiel die Freiheit. Zum Beispiel die Gerechtigkeit. Und vor allem die Rationalität. Was war noch mal Aufklärung?
Der Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit. Nicht der Eingang in sie, nicht immer weiter unmündiger werden, in dem man irgendwelchen Querdenkern, den Maximilian Krahs, den Corona-Leugnern, den Maoisten der Wokeness, den Palästina-Verehrern nachläuft.
Sondern vielleicht mündig werden dadurch, dass man zwischen wahr und falsch unterscheidet, zwischen rational und irrational, dass man nicht die Tugend allein herrschen und so zum Terror werden lässt, sondern Tabus errichtet, Rechtsstaatlichkeit durchsetzt, Moralität in ein Gerüst aus Legalität gießt.
Alle eint die Darstellung von Kant als dem Begründer einer modernen, von der Subjektivität ausgehende Metaphysik, als Inbegriff der klassischen deutschen Philosophie, und der Zeit der Klassik.
Und es stimmt ja: Kant ist nicht nur der wirkungsmächtigste Philosoph des ausgehenden 18. Jahrhunderts, er ist der klassische Philosoph der Moderne. Seinen Ausführungen zu Aufklärung und Wissenschaft, zu Metaphysik und kritischer Vernunft, zu praktischer Vernunft und Urteilskraft wirken bis heute nach.
Seine vier zentralen Fragen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?" schaffen Orientierung.
Vergessen wir dabei nicht: Immanuel Kant und der Marquis de Sade sind Zeitgenossen. Sie spiegeln sich in ihren Vereinseitigungen, ihrer maschinellen und mechanischen Logik.
Wir kennen nur noch Rechthaber – war Kant nicht selber so ein Rechthaber? Das ist auch so eine Frage.
Kant und die Marsmenschen
Kant ist durchaus für Kurioses zu haben. Zum Beispiel widmete er 1755 den dritten Teil seiner "Allgemeinen Naturgeschichte" den "Bewohnern der Gestirne" – man beachte den Plural – und spekulierte über die intelligenten Lebewesen, die vermutlich den Mars bevölkerten – den Menschen "Gefährten des Unglücks".
Des Weiteren schloss Kant mutig vom "Abstande der Planeten von der Sonne" auf "Bau und Trägheit" ihrer Einwohner. Da nun "die beiden Planeten, die Erde und der Mars, die mittelsten Glieder des planetischen Systems" sind, "lässt sich von ihren Bewohnern vielleicht nicht mit Unwahrscheinlichkeit ein mittlerer Stand der physischen sowohl als der moralischen Beschaffenheit ... vermuten."
Womit jene planetarische Konstellation begründet wurde, auf der seither die Marsmenschen gedeihen.
Immanuel Kant lebt hier nicht mehr
Zugleich natürlich immer wieder der übliche Kram: der nennen wir es mal "Hannah Arendt Komplex": von Kant nach Auschwitz und dann nach Jerusalem. Dass Kant mit Auschwitz und Eichmann nichts zu tun hat, ist eine fromme Lüge. Schauen wir uns dafür den Aufsatz an: "Über einen vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen".
Exemplarisch stellt Kant hier den allgemeinen Grundsatz der "Pflicht, die Wahrheit zu sagen", über den konkreten Fall und die vernünftige Reaktion, sich an dem zweckrationalen Nutzen einer Handlung zu orientieren.
Im Aufsatz geht es um den Fall eines Menschen, um dessen Unschuld wir wissen, und den wir bei uns versteckt haben. Er soll von uns trotzdem in jedem Fall an die Polizei ausgeliefert werden, wenn diese uns fragt, ob sich jener Mensch bei uns versteckt habe.
Die Analogie liegt auf der Hand: Wenn wir im Dritten Reich bei uns einen Juden versteckt hatten und die SS vorbeischaut und fragt, dann hätten wir ihn ausliefern sollen. Die moralischen Abgründe liegen hier ebenso auf der Hand wie die Absurdität der abstrakten Konsequenz.
Adorno und Horkheimer schrieben in der "Dialektik der Aufklärung": "Die reine Vernunft wurde zur Unvernunft, zur fehler- und inhaltslosen Verfahrensweise". Schon viel früher findet sich eine breite Front der Kritik gegen dieses aus idiotischem Rigorismus geborene absolute Lügenverbot.
Es ist dieser Aufsatz, der Kants Moraltheorie fast schon widerlegt: Jedes Prinzip kann pervertiert werden, kann falsch sein, kann sich irren und es kann ins Extrem zu Ende gedacht zur reinen Absurdität unserer reinen Unmoral werden.
Im Fall eines Wertekonflikts darf man die Gesinnungsethik zurückstellen und kann am Ende bereit sein, selbst schuldig zu werden, um ein Verbrechen und eine böse Konsequenz zu verhindern.
Rechtssystem als oberste Norm
Wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, dass Menschen auf Erden leben.
Kant, Metaphysik der Sitten, 1797
Trotzdem: Kant hat den Kern der Moderne und der westeuropäischen Werte begründet. Was ihn heute unverhofft attraktiv macht, sind auch die Ideen, die er in der Schrift "Zum ewigen Frieden" formulierte.
Da geht es um die Perspektive eines aufgeklärten Weltbürgertums, dessen moralische Prinzipien in gültiges Recht gegossen werden.
Zu abstrakt? Keineswegs. Wenn die Welt nicht in das Chaos eines neues Mittelalter versinken soll, gibt es keine Alternative dazu, auf das Völkerrecht und ein universales Rechtssystem als oberste Norm zu bestehen. Alle, die das anstreben, finden bei Kant ihre Argumente.