Wohliger Schauer vor ausgebombten Häusern
Zum ersten Mal seit Beginn des World-Press-Photo-Wettbewerbs fordert ein Siegerfoto zum Lachen auf
Bildreporter, die in Krisengebieten arbeiten, folgen mit ihrer Bildsprache meist einem ungeschrieben Gesetz. Die Bilder sollen "wirkungsvoll" sein, indem sie den Betrachter betroffen machen. In diesem Stil waren denn auch alle bisherigen 49 Siegerfotos des berühmten World-Press-Photo-Wettbewerbs. In diesem Jahr nun wurde ein Kriegsbild mit humorvollem Einschlag prämiert. Und siehe da – es gibt nicht nur noch mehr von der Sorte, vielleicht gelingt es ihm, den Nahen Osten von einer vielschichtigen Seite zu zeigen, die nicht in gewohnter Weise darstellbar ist.
Viele Fotos, die von den wechselnden Juroren des World-Press-Photo-Wettbewerbs seit 1955 als Siegerbilder gekürt worden waren, gehören inzwischen zum viel beschworenen kollektiven visuellen Gedächtnis. Wie das 1968 von dem AP-Fotografen Eddie Adams während der Tet-Offensive geschossene Bild des Polizeichefs von Saigon, Nguyen Ngoc Loan, der gerade einen gefesselten Vietcong mit seinem Revolver in den Kopf schießt. Oder wie das Porträt des mit Macheten malträtierten Hutu, das James Nachtwey 1994 in Ruanda aufnahm. Alle Siegerbilder waren im Kontext gewaltsamer Konflikte oder sozialer Spannungen entstanden. Dies gilt auch für den diesjährigen Gewinner. Das Bild wurde am 15. August 2006 in Beirut aufgenommen, dem ersten Tag des Waffenstillstandes zwischen Israel und der Hisbollah. Aber statt der üblichen Betroffenheit löst die erste Begegnung mit diesem Bild Belustigung aus. Gemacht hat das geniale Bild der für Getty Images arbeitende Fotograf Spencer Platt.
Als Begründung für die Auswahl genau dieses Bildes wird auf der WPP-Website Michele McNally zitiert, die Vorsitzende der Jury:
It's a picture you can keep looking at. It has the complexity and contradiction of real life, amidst chaos. This photograph makes you look beyond the obvious.
Fünf junge Leute, ein Mann und vier Frauen, fahren gemächlich mit einem blitzblanken, roten Cabrio durch einen von der israelischen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegten Straßenzug. Sie haben sich nicht verirrt, sondern scheinen offensichtlich aus Neugierde gekommen zu sein. Ein Mädchen hält sich ein Tuch vor das Gesicht, nicht um sich vor der Kamera zu verstecken, sondern um unangenehme Gerüche zu dämpfen. Sie und die junge Frau hinter ihr schauen in die Kamera. Auch die Frau vor ihr, neben dem Fahrer sitzend, scheint sich für die Kamera in ihrem engen, weißen T-Shirt in attraktive Pose zu setzten. Im Bild zwischen beiden sitzt das vierte Mädchen und hantiert mit ihrem Mobiltelefon in der typischen Pose eines Handyfotografierers. Sie macht ein erstaunt-angeekelt verzerrtes Gesicht, nicht zu stark, es scheint eher eine Art wohliger Schauer zu sein, den sie gerade durchlebt. Weiterhin sind fünf Personen im Hintergrund zu sehen. Diesmal zufälligerweise vier Männer und eine Frau. Im Gegensatz zu den westlich-freizügig gekleideten Besucherinnen im Cabrio, ist diese Frau nur von hinten zu sehen und sie ist verschleiert, zumindest trägt sie ein züchtiges Kopftuch. Richtige Kriegsbilder sehen normalerweise anders aus!
Seitdem die ersten Kameras in Kriegsgebieten eingesetzt wurden, gab es im Wesentlichen nur zwei Arten des Bildermachens: zu Propagandazwecken oder für die journalistisch-aufklärerische Berichterstattung (wobei historisch betrachtet zuerst nur die Propaganda eine Rolle spielte). Die Grenzen zwischen beiden waren und sind fließend und unscharf. Unbestritten ist jedoch, dass Fotografen wie Nachtwey laut eigenen Aussagen daran glauben, dass Bilder, die in aufrichtiger Absicht gemacht sind, Wahrheiten kommunizieren und Veränderungen anstoßen können. Daraus hat sich eine Art Betroffenheits-Ikonografie entwickelt, die quasi vorschreibt, wie beispielsweise Menschen in Kriegssituationen abzubilden sind: Dramatisch und leidend.
Es soll nicht bestritten werden, dass Kriege für die meisten Menschen elendig und schrecklich sind. Aber ein betroffen machendes Foto eines Menschen ist nicht einfach "die Wahrheit". Nachtwey hat dies selbst einmal so ausgedrückt in einem Kommentar zu Bildern, die er während des Ruandischen Bürgerkriegs in einem Flüchtlingslager gemacht hatte. Man dürfe nicht vergessen, so Nachtwey, dass viele der Menschen, die er in ihrem Elend zeigen würde, wahrscheinlich selbst an den Massenmorden beteiligt gewesen waren, wegen derer ihre Volksgruppe letztendlich vertrieben worden wäre. Wer ist Opfer, wer ist Täter? So einfach ist es also meist nicht. Die Wirklichkeit ist einfach zu komplex, als dass eine einfache Fotografie mehr als einfache Wahrheiten vermitteln könnte.
Spencer Platts Cabrio-Bild passt also nicht in das gewohnte Schema. Es zeigt unerwartete Widersprüche, und ist damit im Kern humorvoll. Es zeigt, dass Menschen neugierig sein können auf Zerstörungen. Es zeigt, dass es junge, locker gekleidete Libanesen gibt, die unbefangen in einem Stadtteil Beiruts cruisen, in dem man als naiver TV-Informierter nur engstirnige Hisbollah-Anhänger und deren schwarzverhüllte Frauen erwartet. Und die Menschen im Hintergrund wiederum scheinen sich selbst nicht an den Trümmertouristen zu stören.
Solche humorvollen Konfliktbilder hat es durchaus schon öfter gegeben. Aber sie wurden nur selten gezeigt. Meist werden die Fotografen solche Bilder dem Ausschuss zugerechnet oder sie haben sie in ihr Archiv verbannt, als weniger bedeutend gewertet als ihre "starken Bilder", die ins Schema der gewohnten Bildsprache passen. Genau dies war jüngst über Thomas Höpker zu lesen und sein an 9/11 in New York gemachtes Bild Blick auf Manhattan von Williamsburg. In scheinbar aufgelockerter Stimmung sieht sich eine Gruppe Jugendlicher die Rauchwolken der zusammenstürzenden Türme an. Das Bild sei ihm zunächst zu abseitig und zweideutig erschienen, so Höpker, deshalb habe er es zunächst aussortiert. Inzwischen ist es geradezu berühmt, nicht zuletzt deshalb, weil Höpker von der amerikanischen Rechten für das Bild scharf angegangen wurde. Von der inneren Widersprüchlichkeit her ist sein Foto sehr gut vergleichbar mit dem von Platt.
Von David Douglas Duncan, dem für LIFE arbeitenden Fotografen des Korea-Krieges, stammt ein weiteres Kriegsdokument zum Schmunzeln: "Captain Ike Fenton, Commanding Officer of Baker Company, … receives reports of dwindling supplies during the battle to secure No-Name Ridge along the Naktong River. Korea, September 1950." Duncan knipst genau in dem Moment, in dem Captain Fenton mit Beam-me-up-Minenspiel die Nachricht erhält, dass seinen Leuten im Gefecht die Munition ausgeht. Obwohl das Bild immer wieder reproduziert wurde, wurde auf die urkomische Szenerie nach meinem Wissen nie bewusst Bezug genommen. Im Gegenteil. Jorge Lewinski zeigt das Bild beispielsweise in seinem einflussreichen Buch "The Camera at War", und zwar auffällig falsch betitelt: "Shell-shocked American Marine, Korea, 1950". Zu vermuten ist, dass Levinski die Beschriftung aus der Luft gegriffen hat. Gut möglich, dass er, ganz der traditionellen Bildsprache verhaftet (was sein Buch belegt), Duncans Fotografie gar nicht als das wahrnehmen konnte, was es ist, sondern es dramatisch-leidend uminterpretieren musste.
Das Schöne an Bildern wie denen von Platt, Höpker und Duncan ist, dass sie dem Betrachter keine Chance zum einfachen Verständnis geben und ihn immer wieder zu neuen Deutungsversuchen ermuntern. Mit dem Mittel des Witzes ist eine ihrer zentralen Botschaften: "Hey, es gibt mehr als das, was du hier siehst!" Diese Botschaft verbreiten sie effektiver, als die ausgefeilteste theoretische Abhandlung über Ikonografie. Somit sieht jeder Betrachter etwas anderes.
In dem diesjährigen World-Press-Photo-Siegerbild sehe ich das ganze Chaos des Nahen Ostens. Die täglichen Nachrichten versuchen, in ihren Minuten-Info-Häppchen möglichst ein verständliches Bild zu zeichnen. Da gibt es "Palästinenser", und manche von denen gehören zur "Hamas", andere zur "Fatah". Bei den Israelis wiederum gibt es orthodoxe Juden, das Parlament und die Armee. In Wahrheit sieht es dort unten aber wohl eher so aus, wie es Monthy Python in ihrem Film "Das Leben des Brian" skurril und schrullig für die Zeit Jesu erzählt haben.
So wie die jüdischen Befreiungsbewegungen im Film sich vor allem gegenseitig bekriegen, und eben nicht die Römer, so schlagen Hamas und Fatah aufeinander ein. Und jeder kann jeder sein. So wie John Cleese mal in die Rolle des römischen Zenturio schlüpft und mal in die des labernden Rebellenführers, so gibt es laut Presseberichten Palästinenser, die tagsüber mit der Fatah gegen die Hamas und abends mit der Hamas gegen die Fatah kämpfen. Dass die beiden nun eine gemeinsame Regierung bilden, will also nicht viel heißen. Es kann auch sein, dass sie bald gemeinsam gegen die Hisbollah marschieren. Wer wollte das mit Sicherheit ausschließen? Die israelische Seite ist auch nicht viel besser. Zwar wurde das israelische Kernland im Sommerkrieg zum ersten Mal ausdauernd beschossen und die Offensive im Libanon war eine ziemlich Pleite, aber statt sich nun besser zu organisieren und Handlungsoptionen zu erarbeiten, haben die israelischen Politiker Wichtigeres zu tun. Sie verzetteln sich lieber in Skandalen und ein hormongesteuerter, das politische System im allgemeinen und die heimischen Medien im besonderen anpöbelnder Staatspräsident widmet sich der Zerlegung der politischen Restkultur.
Sieht man sich dieses Chaos an, so könnte gerade das Foto Spencer Platts mit der von ihm eröffneten Sichtweise wieder Hoffnung für die Menschen dort unten entstehen lassen.