Wohnen sie schon oder leben sie noch?
Integration von Flüchtlingen und die Struktur der Stadt
Ein Schreckgespenst geht um in Europa: die (vermeintliche) Völkerwanderung der Flüchtlinge. Das Thema bestimmt die Agenda - die der Politik wie auch die mediale. Und an den Stammtischen redet man sich die Köpfe heiß. Auch wenn, bedingt durch das Schließen der sog. Balkanroute, die Hitze der diskursiven Gefechte derzeit etwas abgeklungen scheint, so bleibt die Doppelfrage von Migration und Integration doch virulent.
Mit guten Gründen wird von interessierter Seite dringend für eine Beschränkung der massenhaften Zuwanderung nach Europa - sprich: Deutschland - plädiert. Verwiesen wird, wie jüngst etwa vom britischen Publizisten David Goodhart, darauf, dass Gesellschaften empfindliche Zusammenhänge seien, und dass Vertrauen verschwände, wenn Nachbarschaften nicht mehr die dieselbe Sprache sprechen.
Wie berechtigt und angemessen diese Forderung (nach dem Künftigen) sein mag - oder auch nicht -, so wenig darf sie freilich den Blick auf den Status quo verstellen: Was tun mit den Migranten, die schon hier sind? Womit unmittelbar die Frage nach dem gesellschaftlichen Miteinander in bestimmten Räumen aufgeworfen ist. Natürlich muss ihre mögliche Integration vornehmlich über Sprache, (Aus)Bildung und Arbeitsmarkt erfolgen. Aber die Flüchtlinge müssen doch zunächst einmal unterkommen. Das meint indes nicht nur ein vorübergehendes "Dach über den Kopf", sondern ein "Zuhause" - und sei es bloß temporär.
Zwar wird von manchen vehement in Abrede gestellt, dass die Migranten hierzulande überhaupt heimisch werden. Zugleich aber tangiert dieser Punkt den Wesenskern der conditio humana. Denn philosophisch ausgedrückt bedeutet Wohnen so viel wie: sich die Gewissheit des Geschützseins real und symbolisch zu bewahren. Und gesellschaftspolitisch gewendet: Die Wohnsituation ist mitentscheidend für den Integrationserfolg.
Deshalb besteht die Herausforderung nicht nur in der Erstaufnahme respektive die Zwischenunterbringung in den Kommunen während des Asylbewerberverfahrens, sondern in der längerfristigen Versorgung mit angemessenem Wohnraum derjenigen, die hier bleiben werden. Auch wenn es bislang keine belastbaren Erfahrungswerte hinsichtlich des Haushaltsgründungsverhaltens, der Bleibewahrscheinlichkeit oder des Familiennachzugs gibt, muss man doch davon ausgehen, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge nach erfolgter Anerkennung in die wirtschaftlich stärkeren Städte und Regionen ziehen.
Weil dort ohnehin schon ein Mangel an bezahlbaren Wohnungen besteht, verschärft sich der Problemdruck. Einerseits durch die schiere Menge und andererseits durch die Konkurrenz, die zwischen einheimischen Wohnungssuchenden und Zuzüglern geschürt wird. Das wiederum gibt der Tendenz Vorschub, erneut in sich geschlossene Siedlungsgebilde zu errichten, meist an peripheren Standorten.
Die Stichworte, die man nun allenthalben hört, lauten: Serielles Bauen, Typisierung, modulare Systeme, große Stückzahlen. Planerisch setzt das größere Areale voraus, die sich schnell baureif machen lassen. Dabei kann man ja durchaus nachvollziehen, dass die Politik als entscheidungsfreudiger Akteur gesehen werden will, dem es gelingt, in überschaubarer Zeit Ressourcen und Aufmerksamkeit zu bündeln und quantitativ beachtenswerte Effekte zu erzielen. Wenn sich das zufällig mit den ökonomischen Interessen der Wohnungs- wie der Bauwirtschaft trifft - umso besser. Doch damit droht eine Art von Banlieue zu entstehen, in die räumlich ausgelagert wird, was man in den zentralen Bereichen der Stadt nicht haben will.
Diversität oder ethnische Homogenität in den "Ankunftsstädten"
Dass das Leben planbar sei, ist die konstitutive, aber falsche Prämisse eines solchen Programms. Hierzu zwei Thesen:
Erstens, eine gewisse Diversität städtischer Milieus ist unabdingbar. Thomas Schelling, einer der Begründer der Spieltheorie, fragte sich bereits in den 60er Jahren, warum es in großen Städten immer wieder zum Phänomen der Ghettos kommt. Warum drängen sich die Türken in "Klein-Istanbul" in Berlin, die Chinesen New Yorks in Chinatown, die Schwarzen in Harlem, anstatt sich in einem ausgewogenen Mischungsverhältnis zu assimilieren?
Er entwickelte daraufhin auf einem Schachbrett das sog. "Segregationsmodell", wobei er eine Alltagsbeobachtung umsetzte: Wenn eine Spielfigur, die es gewohnt ist, inmitten von "Mitgliedern eigener Kultur" zu leben, plötzlich von mehr als drei "Fremden" direkt umgeben ist (von vier möglichen direkten Nachbarn), zieht sie in eine Gegend um, in der wiederum mindestens drei direkte Nachbarn der eigenen Kultur wohnen. Und nun das gleiche Spiel mit einer andren Ausgangslage - mit drei Ethnien (oder Kulturen oder Religionen). Auf den ersten Blick wird deutlich, dass das Ergebnis ein völlig anderes sein wird. Höhere Ausgangsvielfalt dämmt den Segregationseffekt ein. Es kommt nun allenfalls zu vereinzelten Umzügen, denn nun sind alle Nachbarn von zwei anderen Kulturen umgeben, und die Entscheidung umzuziehen, liegt nicht mehr auf der Hand. In der Folge bleibt es bei einem höheren Mischungsgrad.
Das Beispiel verdeutlicht den Vorteil der Diversität in der sozialen Evolution. Problematisch sind vor allem Mehrheiten-Minderheiten-Konstellationen, bei der die eine Gruppe die andere dominieren kann. In einer Umgebung mit mehr als zwei ethnischen Gruppen entwickelt sich Toleranz leichter; und es wird schwieriger, eine Gruppe zu unterdrücken bzw. auszugrenzen.
Nicht zu Unrecht wird nun - etwa in Doug Saunders gehyptem Buch "Arrival City" - darauf hingewiesen, dass ethnisch homogene Viertel eine Erleichterung für die Eingliederung, oftmals gar das Sprungbrett zum Aufstieg darstellen können. Denn hier bilden sich Netzwerke, man hilft sich - weil man sich kennt, die gleiche Sprache spricht, die Herkunft oder ein ähnliches Schicksal teilt -, gibt sich Kredit und Tipps.
Allerdings muss man den Unterschied zwischen erzwungener und freiwilliger Segregation als kategorial verstehen. Es stimmt zwar, das man am liebsten unter Seinesgleichen lebt, nicht aber, wenn man keine andere Wahl hat. Weshalb durchaus hellsichtig ist, was der große Architekturtheoretiker Sigfried Giedion vor mehr als einem halben Jahrhundert festgehalten hat: "Der Stand einer Kultur hängt davon ab, bis zu welchem Grad eine chaotische Masse in eine integrierte lebendige Gemeinschaft verwandelt werden kann." Auf den Zusammenhang zwischen Demokratie, Kultur und Integration hinweisend, forderte er den Bau von "differenzierten Siedlungen", um die vielfältigen Lebensstile einer offenen Gesellschaft zu berücksichtigen.
Urbane und architektonische Kleinteiligkeit sorgt für größere Flexibilität
Und damit wäre man bei der zweiten These: Übersetzt in die Sphäre von Architektur und Städtebau, heißt Diversität, für eine gewisse Kleinteiligkeit zu sorgen. Die Tatsache, dass Hunderttausende von erschwinglichen Wohnungen fehlen, und die Geschichte unserer Bauproduktion stehen in einem inhärenten Zusammenhang. Letztere wird holzschnittartig gerne so beschrieben: Mangelnde Urbanität, eine Ästhetik der Monotonie und das Gefühl ent-individualisierter Vermassung. Gewiss nicht das, was der Integration dienlich wäre.
Die Crux liegt dabei in der Frage der Größenordnung, oder andersherum, in der städtebaulichen Körnung. Wenn man unter Stadt urbane Vielfalt und Lebendigkeit verstehen, dann braucht sie eine gewisse Kleinteiligkeit. Genau die aber spielt in den Strategien der Immobilienwirtschaft keine oder doch nur eine geringe Rolle. Mehr noch: Kleinteiligkeit wird von Investoren zumeist als kontraproduktiv wahrgenommen. Und dieser Trend ist nur schwer zu durchbrechen.
Betriebswirtschaftlich handelt es sich um die Nutzung positiver Skaleneffekte, um Strategien der Kostenminderung, die bei der Projektierung größerer Gebäudekomplexe zu erzielen sind. Mit anderen Worten: Das Problem besteht in der "Anlage" - jenem baulichen Format, das Gebäude, Freiraum und Erschließung gleichsam zu einer Betriebseinheit zusammenfasst. Hier blühen Monokulturen aller Art, hier wird Homogenität zur Beschränkung. Kleinteilig strukturierte Gebiete hingegen, von öffentlichen Räumen durchzogen, sind im Unterschied dazu entwicklungsfähig.
In einer Stadt, die über eine feine Körnung und ein feinmaschiges öffentliches Wegenetz verfügt, ist für ständige Veränderung gesorgt: Es entstehen kulturelle und ökonomische Konzentrationen aller Art; sie wandern, verändern sich und verschwinden, während an einem anderen Ort etwas auftaucht, von dem man noch gar nicht wissen konnte.
Natürlich, eine Stadt besteht nicht nur aus Hochglanz-Urbanität. Menschen haben die unterschiedlichsten Anforderungen und Erwartungen an sie, und es kann zwischen diesen und anderen Gruppen der Stadtbevölkerung zu durchaus heftigen Konflikten kommen. Einfache Antworten auf die komplexen Problemlagen sind nicht in Sicht. Wer sich für Typisierung als Behausungsmodell entscheidet, senkt unter Umständen die Individualitätsansprüche der Bewohner ab, oder er muss andere Formen für deren Entfaltung finden.
Ohnehin ist Stadtentwicklung mühevolle Detailarbeit, und die individuellen Einwirkungsmöglichkeiten im Prozess sind oftmals begrenzt. Der Schriftsteller Martin Walser hat es in seinem Roman "Ehen in Philippsburg" einmal treffend beschrieben. Denn darin ist einem Protagonisten "die ganze Stadt als eine riesige Schmiede erschienen, in der alles der Bearbeitung unterlag, in der es keinen Unterschied mehr gab zwischen Werkstück und Schmied, alles war zugleich Werkstück und Schmied, jeder und jedes wurde bearbeitet und bearbeitete selbst, ein Ende dieses Prozesses war nicht vorgesehen".