Worum kämpfen?

Staatlichkeit am Morgen nach Krieg und Konflikt

Zusammen mit den Menschen in der Ukraine möchte die Öffentlichkeit gerade hauptsächlich eines: Ein Ende des Krieges. So schnell wie möglich die Eindämmung der Gewalt, der Verletzung, des Traumas, des Elends und der Tränen. Zumindest eine Waffenruhe ist notwendige Voraussetzung für Friedensverhandlungen und die Einhegung des Konfliktes. Die Friedensverhandlungen werden sich zermürbend und langwierig gestalten; soviel zeichnet sich bereits ab.

Während der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bereit ist, an Maximalpositionen festzuhalten und dabei stündlich mehr Menschenleben bereit ist zu opfern, scheint in Moskau das Kriegsziel ein bewegliches (geworden) zu sein. Unabhängig von der Anzahl der Bomben, die noch fallen werden und den Durchhalteparolen an die Ukrainer zum Trotz nur noch mehr Tod und Schrecken bringen: Wann immer der Krieg zu Ende ist und die Waffen schweigen, sind die Fragen um Souveränität, territoriale Integrität und integre Staatlichkeit nicht ausgefochten. Sie beginnen erst dann.

Im Nachkrieg bildet sich oft eine spezifische, fragile Staatlichkeit heraus. Die "Neuen Kriege", (aber auch ältere Konflikte), die nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem in den 1990er-Jahren eine Blüte erlebten, und die sich dadurch auszeichneten, dass sie innerstaatlich zwischen "ethnischen" Gruppen ausgetragen wurden, haben gegenwärtig eine Vielzahl an Territorien, die in Transition bzw. in Friedensprozessen befindlich sind, hervorgebracht.

Global sind diese Territorien sogar eher Regel als Ausnahme: Derzeit gibt es laut Fragile States Index 2021 von 179 Staaten weltweit circa 117 relativ fragile Staaten. Die Spitzenplätze belegen gescheiterte Staaten und Rogue States wie Jemen, Somalia, Südsudan; Afghanistan schafft es auf Platz neun. In zahlreichen Staaten ist eine Stabilisierung oder gar Befriedung derzeit nicht absehbar.

Gemessen werden gesellschaftliche Kohäsion sowie soziale, ökonomische und politisch-militärische Indikatoren (The Fund for Peace 2022). Die Parameter des Fragile State Index sind der Sicherheitssektor, fraktionierte Eliten, gruppenbezogene Missstände und Beschwerdeverfahren, wirtschaftlicher Abschwung, Abwanderung und Brain Drain, staatliche Legitimität, das Funktionieren des öffentlichen Sektors und Infrastruktur, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, Flüchtlinge und Binnenvertriebene, und externe (militärische) Intervention. Diese Parameter beziehungsweise deren Bewältigung stellen vor allem Nachkriegsgesellschaften vor große Herausforderungen.

Deutschland und Japan dienen bis heute als Beispiele

Praktiker vertreten grosso modo die Ansicht, dass prinzipiell überall eine friedliche Demokratie erwachsen könne, wenn nur genug Energie, Wille und Ressourcen hineinflössen. Das Versprechen der Befriedung im Nachkrieg und des State-Crafting orientiert sich noch immer den Vorzeigebeispielen US-amerikanischer Außenpolitik nach 1945, Deutschland und Japan. Der Ruf nach einem Marshall-Plan kommt also nicht von ungefähr.

In Friedensprozessen werden gewaltsame Vergangenheit und prekäre, unfertige Gegenwart durch die Sonde von Entwicklung gesehen, die einer zwar unbestimmten, in jedem Falle aber besseren Zukunft zuarbeite. Hier hallen implizit zumeist eurozentrische Modernisierungs- und Entwicklungstheorien wider, die jedoch in den letzten Jahren an Plausibilität einbüßten, weil sich die empirische Gegenwart zu anders darstellt.

Dabei wird der Fortschritt zum Frieden immer ohne Vorbehalte in einem nationalstaatlichen Rahmenwerk gedacht. Die Zielvorstellung eines liberalen Friedens seitens der internationalen Gemeinschaft ist heute für alle betroffenen Regionen dieselbe: Demokratisierung soll die Bevölkerung an ihren Geschicken partizipieren lassen, Marktliberalisierung die Ökonomie in Schwung bringen, eine funktionierende und die Menschenrechte achtende, verlässliche Justiz für Gerechtigkeit sorgen, und die Reform des Sicherheitssektors alle Bürger, ungeachtet ihrer Herkunft oder Zugehörigkeiten, vor Gewalt und Kriminalität schützen.

Die gewünschte Richtung des idealen Friedensprozesses sei damit umrissen. Realiter jedoch hadern Post-Konflikt-Gesellschaften fast ausnahmslos mit allen diesen Zielen, selbst wenn der Prozess zum Frieden schon einige Dekaden andauert. Betroffene Regionen sind abhängig von (finanziellen) Inputs und Mediation von außen, der Friede ist oft fragil und schwach, und sie weisen nachhaltige Defizite in Demokratie, Ökonomie und Souveränität auf.

In den letzten Wochen wurde die Situation in der Ukraine oft mit derjenigen der Stadtbevölkerung Sarajevos 1992 verglichen; die Belagerung durch bosnische Serben dauerte fast vier Jahre an. Die bosnische Journalistin Aida Cerkez spricht den Ukrainern heute Mut zu. Sie schreibt in einem offenen Brief, sie besäße noch ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Sarajevo will be, everything else will pass". Modifiziert für die Ukraine sendet sie den Wunsch: "Ukraine will be."