Wozu überhaupt noch Demokratie?

Seite 3: Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer

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Zuletzt hat der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty in seinem Buch "Le capital au XXIe siècle" (Das Kapital im 21. Jahrhundert) so etwas wie die Weltformel des Kapitalismus postuliert: Return on Capital ist größer als Economic Growth (r > g). Die Rendite aus Vermögen übertrifft stets das Wirtschaftswachstum. Das allerdings haben alle Analytiker und Kritiker schon immer gesagt, die erkannten, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden.

Pikettys Weltformel erschüttert den von Milton Friedman geprägten Volksglauben, dass Kapitalismus, Marktfreiheit und Demokratie sich komplementär zueinander verhalten. Er bestätigt einmal mehr: Der Kapitalismus erdrückt die Demokratie:

Die Kapitalanhäufung führt zu immer größeren Ungleichheiten in der Gesellschaft, die als Ungerechtigkeit empfunden werden und deshalb destabilisierend wirken. Wenn die Rendite des Kapitals vier bis fünf Prozent beträgt, … die Wirtschaft aber nur mit einem Prozent im Jahr wächst, nimmt die anfängliche Ungleichheit rasend schnell zu. Unsere demokratischen Gesellschaften stützen sich jedoch auf das Leistungsprinzip oder zumindest auf die Hoffnung darauf, dass Leistung gerecht belohnt wird.

Thomas Piketty

Und weiter:

Der Demokratie liegt der Glaube an eine Gesellschaft zu Grunde, in der die soziale Ungleichheit vor allem auf Leistung und Arbeit beruht, nicht auf Abstammung, Erbe und Kapital. In der Demokratie gerät sonst die proklamierte Gleichheit der Rechte aller Bürger in schreienden Gegensatz zur real existierenden Ungleichheit der Lebensverhältnisse. Ohne rationale Rechtfertigung lässt sich diese Ungleichheit nicht ertragen. …

Die Dynamik des Kapitalismus kennt keine Moralität. Sie entfaltet sich endlos weiter, solange die Institutionen der Demokratie sie nicht regulieren, wenn nötig radikal.

Und genau das haben sie bis jetzt nicht geschafft. Und es sieht nicht danach aus, dass sie es jemals in der Zukunft schaffen werden.

Unter dem Einfluss der in den meisten demokratischen Staaten explodierten Staatsverschuldung haben sich die wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnisse in der Welt völlig verschoben.

Noch zu Beginn der 1990er Jahre betrug die gesamte Wertschöpfung der Weltwirtschaft 15 Billionen Euro. Davon waren gerade mal 1,5 Billionen spekulative Produkte der Finanzwirtschaft. Zu Beginn der 2010er Jahre beträgt das weltweite Wirtschaftsaufkommen rund 50 Billionen Euro, die spekulativen Produkte der Finanzbranche aber betragen über 500 Billionen Euro. Die Realwirtschaft hat sich in zwanzig Jahren verdreifacht, die Spekulationswirtschaft aber verdreihundertfacht.

Als Folge dieser gigantischen Umverteilung wirtschaftlicher und politischer Macht hat sich auf der ganzen Welt die Einkommens- und noch viel mehr die Vermögensverteilung zu Gunsten der Reichen und Superreichen und zum Nachteil der restlichen Bevölkerung massiv verschoben. Schulden machen reich. Genauer: Sie machen einige wenige enorm reich und die meisten anderen arm.

Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Rogoff spricht davon, dass heute längst wieder Vermögensmacht wie zu Zeiten der rücksichtslosen "robber barons" im 19. Jahrhundert, des entfesselten Raubtierkapitalismus und auf dem Höhepunkt der Ungleichheit herrscht.

Die sozialen Kosten der repräsentativen Demokratien sind viel zu hoch

Jedes Jahr wächst die Zahl der Millionäre allein in den USA um rund 15 Prozent. Die Kluft zwischen arm und reich geht weltweit rasant auseinander. Die entwickelten Demokratien feiern die Wiederauferstehung des unkontrollierten Frühkapitalismus in abgewandelter, moderner Form.

Die demokratisch gewählten Entscheidungsträger tragen die Hauptverantwortung für diese unheilvolle Entwicklung. Sie haben die entscheidenden Weichenstellungen durchgesetzt und die Unternehmenssteuern und die Steuern auf Kapitaleinkünfte und Vermögen radikal gesenkt. Sie sind eben nicht die Vertreter der Interessen ihrer Wähler, sondern die Handlanger der Plutokraten.

Die resultierende Strukturveränderung ist eine unmittelbare Folge fehlender Besteuerung von Unternehmen und Superreichen sowie der immensen Staatsverschuldung. Sie hat dazu geführt, dass heute viel zu viel Geld in der Welt im Umlauf ist. Und je mehr Geld zirkuliert, desto wichtiger wird es. Heute beherrscht die Geldwirtschaft die Realwirtschaft, statt ihr zu dienen.

Der Wert aller Aktien, die 2011 gehandelt wurden, betrug 45 Billionen Euro. Doch alle Arbeitnehmer der Welt verdienten im selben Jahr nur 42 Billionen Euro. Und das sind die Märkte von Optionen und anderen Geldwetten: gigantische 1.500 Billionen Euro.

Etwas kann nicht stimmen mit dem Finanzsystem, wenn mit Geldgeschäften ein Vielfaches von dem verdient wird, was Milliarden Arbeitnehmer und Maschinen erwirtschaften.

Ohne das Geld derjenigen, die von der Staatsschuldenkrise profitiert haben, lässt sich die öffentliche Verschuldung nicht abbauen. Aus der heutigen Verschuldung von 81 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) werden in nur einer Generation 130 Prozent bei einem realistischen Wachstum von nur einem Prozent und bei niedrigen Zinsen. Und wenn die Zinsen nur auf drei Prozent ansteigen, explodieren die öffentlichen Schulden auf 250 Prozent des BIP. Es bestehen kaum Chancen, auf herkömmlichen Wegen aus den Schulden herauszukommen.

Doch nicht nur, dass es breiten Kreisen der Bevölkerung immer schlechter geht und ihnen immer tiefer in die Taschen gegriffen wird, um die Herrschaft der politischen Kaste aufrecht zu erhalten. Die sozialen Kosten des Systems "repräsentative Demokratie" sind viel zu hoch. Sie übersteigen bei weitem seinen Gewinn.

Das politische System mit seinem umfangreichen Apparat und der Notwendigkeit für die politischen Parteien, Wahlen zu gewinnen und das mit Wahlgeschenken zu finanzieren, haben die Finanzen der entwickelten Demokratien in aller Welt und auf allen Ebenen ruiniert.

Auf Dauer kann sich kein Volk und kein Staat der Welt einen solchen Luxus leisten. Die Zeiten, in denen es den Völkern in den Demokratien immer besser ging, sind unwiederbringlich vorüber. Seit Jahrzehnten geht es den Völkern nur noch schlechter.

Das politische System der entwickelten repräsentativen Demokratien verschwendet massenhaft Ressourcen, die dringend gebraucht werden. Die politische Kaste mit ihren zehn- bis zwanzigtausend Personen verbraucht nicht nur für sich selbst große Geldmengen. Sie verursacht vor allem eine immense Fehlleitung von Steuereinnahmen und eine immense Staatsverschuldung.

Das kostet das Volk weit mehr, als die Gegenleistung wert ist. Politische, wirtschaftliche und soziale Entscheidungen, deren Inhalt vom Primat des Machterhalts und Machtgewinns von Parteien bestimmt ist, können der breiten Bevölkerung nicht nützen. Sie schaden ihr immens.

Die demokratische Politik mit ihren unzähligen Fehlleistungen ist das Geld nicht wert, das sie fehlleitet und verprasst. Eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung der entwickelten Demokratien muss zwangsläufig zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Nutzen gering ist und ihre Kosten immens sind.

Wozu überhaupt soll das System der demokratischen Repräsentation noch gut sein, wenn das Volk in ihm nur noch eine untergeordnete Rolle spielt und die Entscheidungsprozesse ein ständiges Ärgernis sind?

  • Etwa um den staatlich finanzierten, aus eigener Kraft gar nicht lebensfähigen Apparat der politischen Parteien am Leben zu erhalten? Der Parteienstaat ist doch das Problem, nicht die Lösung.
  • Um die in kurzen Abständen stattfindenden Wahlkämpfe mit ihren Schaugefechten und Scheinalternativen auf Kosten der Steuerzahler bis in alle Ewigkeit fortzuführen? Sie sind ein weiteres Problem, aber keine Lösung.
  • Um möglichst viele Parlamentarier in Bund, Ländern und Kommunen in Brot und Arbeit zu halten? Sie sind das Problem, nicht die Lösung.
  • Um möglichst viele Parlamente mit vielen hundert Abgeordneten zu unterhalten, in denen permanent Scheindebatten fürs Fernsehen geführt und am Ende Regierungsentscheidungen doch nur gehorsam abgenickt werden? Sie sind ein Riesenproblem und ganz gewiss nicht die Lösung.
  • Oder gar um wegen der alle paar Monate stattfindenden Wahlen damit zurechtkommen zu müssen, dass die Politik monatelang paralysiert und entscheidungsunfähig ist, weil sie im Wahlkampf steht und keine Entscheidungen trifft? Genau darin liegt ja eines der vielen Probleme, aber nicht die Lösung.
  • Um die öffentlichen Finanzen vollends zu ruinieren und die Staatsschulden weiter ständig zu erhöhen? Sie sind eines der Hauptprobleme und ganz sicherlich keine Lösung. Wahrscheinlich können die öffentlichen Schulden in repräsentativen Demokratien überhaupt nicht nachhaltig reduziert werden.
  • Um marode Wirtschaftszweige mit Hilfe von Subventionen künstlich und gegen jede wirtschaftliche Vernunft am Leben zu erhalten? Sie sind eines der Beispiele sinnloser Ressourcenverschwendung in entwickelten repräsentativen Demokratien. Aber gewiss keine Lösung.
  • Um dafür zu sorgen, dass viele tausend Lobbyisten auch unter den Parlamentariern stets einen Ansprechpartner zu finden? Die finden die auch so.
  • Um den demografischen Wandel über uns hinwegrollen zu lassen und die dringend benötigte Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland weiterhin mit populistischen Latrinenparolen zu bewältigen? Nein, man braucht ja auch keinen Fußpilz.
  • Um die Städte, Gemeinden und Landkreise endgültig in den Ruin zu treiben? Natürlich nicht.
  • Um weiterhin jede wirklich dringend erforderliche Reform in endlosen Gremiensitzungen und überflüssigen Palavern bereits im Keim zu ersticken und die Politik des haltlosen Wurschtelns bis ans Ende aller Tage fortzuführen? Sicherlich nicht.

Ja, wozu denn dann?

Es ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die Menschen in den entwickelten Demokratien der Welt darüber nachdenken müssen, ob es Alternativen zu den erstarrten und verkrusteten Herrschaftsformen gibt, die sich ohne Fug und Recht noch immer als Demokratien bezeichnen.

Sie verfügen ja im besten Fall überhaupt nur noch über Spurenelemente der Demokratie-Ideale von einst und nennen sich nur Demokratien, sind es aber längst nicht mehr. Sie schmücken sich mit einem Namen, den sie längst nicht mehr verdienen. Sie sind leere Hülsen im Gewande einer Demokratie.

kosch.htm