Wütendes Griechenland: Über Bahncrash, Spardiktat und Massenprotest

Protest am 8. März in Athen. Bild: NikosLikomitros / CC0 1.0

30 Prozent der Griechen sind seit dem Bahnunglück auf die Straße gegangen. Es ist ein tief sitzender Frust über Sozialstaatsversagen bei Rekord-Rüstungsausgaben. Zwischen europäischem Kaputtsparen und anstehenden Wahlen.

Die Bevölkerung in Griechenland ist in Aufruhr. 2,5 Millionen Erwachsene, dreißig Prozent der wählenden Bevölkerung, haben sich seit dem Eisenbahnunglück bei Tempi vom 28. Februar 2023 an Protestveranstaltungen beteiligt. Damit hat das Unglück als Auslöser gemäß einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Public Issue mehr Menschen zum Protest motiviert als der Widerstand gegen die Sparmaßnahmen nach der Staatspleite.

Von 2011 bis 2012 waren maximal 29 Prozent der Erwachsenen an Protesten beteiligt. Unter der Syriza-Regierung brachten Bankenschließung, das Referendum und der anschließende Schwenk von Alexis Tsipras auf Sparkurs 27 Prozent der Bürger auf die Straße.

Sparkursparteien unter Druck

Der Zwölf-Jahres-Rekord hat handfeste Auswirkungen auf den aktuellen Wahlkampf. Erstmals seit Langem droht Premierminister Kyriakos Mitsotakis, sein Amt, aber auch den Parteivorsitz der Nea Dimokratia zu verlieren. Das katastrophale Krisenmanagement der Regierung legt die Folgen des Sparkurses, aber auch das wackelige Lügengebäude der Regierung schonungslos offen.

So streiten sich die regierende Nea Dimokratia und Syriza darüber, unter welcher Regierung die Telematik der Eisenbahnen endgültig ausgefallen ist. Fakt ist, Griechenland hatte eine personalintensive funktionierende Telematik und Signalanlagen, die nach der Staatspleite durch die Sparmaßnahmen sukzessive kaputtgespart wurden.

Ein neues, moderneres System befindet sich seit 2014 im Bau, konnte aber aus einer Vielzahl von Gründen noch nicht fertiggestellt werden. Der entsprechende Vertrag ist aktuell Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, aber auch strafrechtlicher Ermittlungen.

Für die Politik sind folgende Eckdaten hinsichtlich der Verantwortbarkeit der jeweiligen Regierungen wichtig:

  • 2013 wurde die Signalisierung- und Telematikbestellung ausgeschrieben.
  • 2014 wurde der Vertrag mit dem Konsortium Alstom und Tomi S.A. geschlossen. (https://ellaktor.com/en/homepage-2/omilos-ellaktor/)
  • 2015 bis 2016 gab es einen Konflikt zwischen den Konsortiumspartnern.
  • 2017 bis 2018 griffen die EU-Kommission und die griechische unabhängige Behörde für die Kontrolle öffentlicher Finanzausgaben wegen Verzögerungen ein.
  • 2021 wurde das Joint Venture aufgeteilt und das Tomi-Projekt an Alstom vergeben.
  • 2022 bis 2023 wird aufgrund von Beschwerden eine Untersuchung durch die griechische und die europäische Staatsanwaltschaft durchgeführt.

Kosten sollte das System ursprünglich 41 Millionen Euro. 2021 wurden weitere 13 Millionen Euro von der Regierung genehmigt. Strafrechtlich müssen sich die verantwortlichen Minister der jeweiligen Regierungen Samaras, Tsipras und Mitsotakis den Fragen von Griechenlands oberster Staatsanwaltschaft stellen.

Ob Mitsotakis hier noch einmal Ungemach droht, weil er von 2013 bis 2015 als Minister für die Verwaltungsreform und E-Government im Kabinett Andonis Samaras für die Entlassungen und Versetzungen von Personal des öffentlichen Dienstes verantwortlich war, ist noch nicht geklärt.

Fakt ist, dass es keine Telematik für das gesamte Schienennetz der griechischen Eisenbahnen gibt, und dass die Signalanlagen entlang der Strecke entweder nicht, oder zumindest nicht zuverlässig funktionieren.

Crash mit Ansage?

Trotz alledem präsentierte der als Verkehrsminister agierende, aber nicht vereidigte Giorgos Gerapetritis Dokumente, die eine in Betrieb befindliche Telematik rund um die entscheidende Bahnstation Larissa belegen sollten. Gleichzeitig besuchte Oppositionsführer Alexis Tsipras das Gebäude für Telematik, das im Juli 2019, also direkt nach der Amtsübernahme durch Mitsotakis, von einem Feuer zerstört wurde.

Tsipras, von Fernsehkameras begleitet, fand einen verwüsteten, verlassenen Ort ohne jegliche Geräte vor. In einem Nachbargebäude befand sich gleichzeitig der ministerielle Staatssekretär im Verkehrsministerium Michalis Papadopoulos und wollte der mitgereisten Presse die "Telematikstation von Larissa" präsentieren. Papadopoulos referierte und wurde von einem Eisenbahner lauthals unterbrochen.

Denn das, was die Regierung Telematik getauft hatte, war nichts weiter als ein analoges Kontrollpanel für die Ein- und Ausfahrt in den Bahnhof von Larissa. Die Regierung ruderte zurück und nannte das Kontrollpanel nun "lokale Telematik". Papadopoulos selbst benutzte diesen Ausdruck und erklärte, dass es ab September eine Telematik bei Athen, Tithorea, Larissa und Thessaloniki geben würde. Dann könne, so Papadopoulos, die Telematik von Larissa aus, mehrere benachbarte Bahnstationen überwachen.

Dadurch hätte das Unglück bei Tempi vermieden werden können. Fakt ist aber auch, dass bis zum Sommer 2019 am zentralen Bahnhof Larissa zwei Fahrdienstleiter für die Verkehrsleitung und zwei weitere im Tower des zumindest für die fragliche Teilstrecke des Unfalls relevanten Streckenabschnitt die Telematik bedienten. Am 28. Februar war nur der tragische Fahrdienstleiter verantwortlich.

Es stellte sich heraus, dass seine Schnellkursausbildung nicht vollständig war. Im Raum steht zudem der Vorwurf, dass die Beförderung des 59 Jahre alten Mannes vom Büroboten zum Fahrdienstleiter aufgrund von Protektion durch einen Regierungspolitiker geschah.

Papadopoulos Blamage steht pars pro toto für das Gesamtbild, welches die Regierung in Athen den Bürgern bietet. Aber auch Tsipras kommt bei der Bewertung seiner Verantwortlichkeit nicht gut weg. Bahnangestellte und Gewerkschaftler beklagen, dass auch unter seiner Regierungszeit die Sicherheit und die Telematik des Schienennetzes nicht gewährleistet waren.

Eindeutige Umfragen

An den Bürgern prallen solche Hahnenkämpfe gegenseitiger Schuldzuweisung ab. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts ALCO legte zutage, wie sie die Verantwortung sehen. Ihnen wurden die Namen von Organisationen, Regierungen und Personen vorgelegt, und sie sollten bestimmen, ob diese Personen für das Unglück verantwortlich sind: staatliches Unternehmen für das Schienennetz OSE: 95 Prozent; Fahrdienstleiter Larissa: Ja 91 Prozent; Verkehrsminister Kostas Karamanlis: 90 Prozent; alle Regierungen: 87 Prozent; aktuelle Regierung: 86 Prozent; private Eisenbahngesellschaft Hellenic Train: 77 Prozent.

Eine Randnotiz ist, dass Hellenic Train, ein Tochterunternehmen der italienischen Staatsbahnen, das seit 2017 in Griechenland aktiv ist, immer wieder vom TÜV Hellas (TÜV Nord) positiv zertifiziert wurde. Griechische Medien fragen sich nun, was solche Qualitätszertifikate in der Praxis wert sind. Es stellt sich heraus, dass die Prüfung darin bestand, dass die Züge zum überwiegenden Großteil an den Bahnhöfen ankamen. Das marode Schienen- und Sicherheitstechniknetz war nicht Bestandteil der Untersuchungen.

Für die hinsichtlich ihrer persönlichen Sicherheit im Alltag vollkommen desillusionierten Bürger in Griechenland ist ein weiteres Detail wichtig. Griechenland hat für 2022 unter den Nato-Staaten gemessen am BIP die höchsten Rüstungsausgaben und liegt mit 3,54 Prozent sogar vor den USA.

Die griechischen Ausgaben übertreffen, trotz Zeitenwende und Sondervermögen, die deutschen (1,49 Prozent des BIP) um mehr als das Doppelte. Dem aktuellen Jahresbericht des Generalsekretärs der Nato Jens Stoltenberg ist zu entnehmen, dass die Pro-Kopf-Ausgaben für die Rüstung von 400 Dollar 2014 auf 713 Dollar 2022 anstiegen.

Für die Bürger selbst gibt es keine derartigen Lohnsprünge. Die im Zuge des Sparzwangs abgeschaffte Tarifautonomie ist immer noch nicht wiederhergestellt. Um die Bürger zu besänftigen, erhöhte Mitsotakis nun den Mindestlohn auf 780 Euro brutto pro Monat. Damit ist er nun, ohne jeglichen Inflationsausgleich, auf dem Niveau des Vorkrisenjahres 2009.

All dies hat Auswirkungen auf das politische Klima im Land. Public Issue fragte die Bürger sowohl 2019 als auch jetzt vor den Wahlen im Mai nach ihrem Empfinden.

2019 empfanden 17 Prozent der Befragten Wut, 20 Prozent waren besorgt, 14 Prozent hatten Hoffnung und 21 Prozent gaben Enttäuschung als ihr vorherrschendes Gefühl an. Auf die gleiche Frage antworten inzwischen vierzig Prozent mit Wut, 15 Prozent mit Besorgnis, sieben Prozent mit Hoffnung und sechzehn Prozent mit Enttäuschung. 58 Prozent der Befragten geben dem Zwang zu Privatisierungen die Schuld am Unglück bei Tempi.

In den aktuellen Wahlumfragen verliert daher die regierende Nea Dimokratia Stimmen, ohne dass die beiden anderen Sparkursparteien Syriza und Pasok wesentlich zulegen können. 36 Prozent würden "niemanden", 33 Prozent Mitsotakis und 26 Prozent Tsipras zum Regierungschef wählen.

Gestärkt werden die gegenüber dem Sparkurs kritischen Parteien wie die Kommunisten und Mera25 (Yanis Varoufakis), während die Zahl derer, die "unentschlossen" als Wahlentscheidung angeben, immer weiter anwächst. Bis zu den von Mitsotakis ohne genauere Angabe auf Mai terminierten Wahlen muss sich zeigen, welche der Parteien die "Unentschlossenen" auf ihre Seite ziehen kann.