Wusste man im Weißen Haus schon frühzeitig von drohenden Anthrax-Anschlägen?
Die Organisation Judicial Watch verlangt Akteneinsicht in die zum Stillstand gekommene Untersuchung der Anthrax-Briefe aufgrund des Informationsfreiheitsgesetzes und hat Klage gegen die amerikanische Regierung eingereicht
Die US-Regierung, vor allem aber der CIA und das FBI stehen derzeit unter der Kritik, nicht ausreichend genug Warnungen vor Anschlägen auf die USA beachtet zu haben. Zu den Versäumnissen gehört auch die in der Versenkung verschwundene Nachforschung über die Urheber der Anthrax-Briefe. Jetzt hat die Organisation Juricial Watch eine Klage gegen die US-Regierung eingereicht, weil diese die Herausgabe von Dokumenten zu dem Fall nach dem Informationsfreiheitsgesetz verweigert.
Angekündigt hatte das FBI eine der größten Untersuchungen in seiner Geschichte, um dem Täter oder den Tätern auf die Schliche zu kommen, die Ende September, Anfang Oktober 2001 mit dem Höhepunkt der medialen Aufmerksamkeit zu Beginn des Afghanistan-Kriegs die amerikanischen Bürger in Panik versetzt hatten. Erst die schrecklichen Anschläge, und dann die anthrax-verseuchten Briefe, die Journalisten und Politikern, aber auch Postangestellten den seit Jahren beschworenen biologischen Waffen aussetzten. Jeder konnte Opfer dieser heimtückischen "Massenvernichtungswaffe" werden. Zunächst hatte man ebenfalls al-Qaida in Verdacht, zumal auch damals schon das jetzt wieder bestätigte Gerücht zirkulierte, dass die Attentäter nach Flugzeugen Ausschau gehalten haben sollen, die in der Landwirtschaft zum Aussprühen von Pestiziden oder Herbiziden benutzt werden (Biopanik). Sie könnten auch dazu dienen, über einer Stadt biologischen Waffen auszubringen, obgleich die tatsächliche Gefährlichkeit eines solchen Anschlags vermutlich nicht zu hoch veranschlagt werden kann.
Dem Fernsehsender ABC erzählte Johnelle Bryan, die im Landwirtschaftsministerium arbeitet, die reichlich unwahrscheinlich klingende Geschichte, dass Atta und andere der mutmaßlichen Attentäter zu ihr gekommen seien, um einen Kredit über 650.000 Dollar für den Kauf eines sechssitzigen Flugzeugs zu erhalten, das er mit einem großen Tank zum Sprühen umrüsten wollte. Das alles wird dann noch reichlich ausgeschmückt mit Einzelheiten, also dass Atta, der sich mit seinem richtigen Namen vorstellte, beispielsweise unbedingt ein Luftbild von Washington, das in ihrem Zimmer hing, kaufen wollte. Er wies auf die mangelnde Sicherheit des Hauses hin, sprach davon, dass er noch nach Deutschland und in andere Länder reisen müsse, sprach von bin Ladin und al-Qaida und wie es wäre, Washington zu zerstören, erkundigte sich nach dem World Trade Center, also all das, was ein Terrorist eine Staatsangestellte fragen würde, der überhaupt nichts weiß. Offenbar war auch al-Qaida ziemlich abgebrannt, um nach einem Kredit vom amerikanischen Staat für einen Anschlag mit Biowaffen zu fragen. Erst nachdem es nichts mit dieser Finanzierung gewesen wäre, hätten die Terroristen die offenbar billigere Variante mit den entführten Passagiermaschinen verfolgt.
Die Sicherung der USA vor Angriffen mit Massenvernichtungswaffen ist zum Kern der Politik und der Aufrüstung der US-Regierung geworden und legitimiert den weltweiten Krieg gegen den Terrorismus sowie die Identifizierung der "Achse des Bösen". Betont wurde immer wieder, dass ein Angriff mit biologischen Waffen noch viel verheerender als die Anschläge vom 11.9. sein könnte. Die Anthrax-Panik war auch ein Grund, neben der militärischen Aufrüstung den Aufbau der "Home Security" schnell voranzutreiben. Doch offensichtlich scheint die US-Regierung eher daran interessiert zu sein, als an einer schnellen Aufklärung des Falls. Und eigentlich erhält man den Eindruck, als sei sie überhaupt nicht an einer Aufklärung interessiert.
Nachdem das FBI zuerst den Verdacht beiseite gelegt hatte, dass die Briefe aus al-Qaida-Kreisen stammen würden, gab man schließlich bekannt, dass die Person nach der Beurteilung von Sprache und Verhalten höchstwahrscheinlich ein aus den USA stammender Mann und Einzeltäter sei, der wiederum wahrscheinlich einen wissenschaftlichen Hintergrund habe und mit der Gegen um Trenton, in der einige der Briefe aufgegeben wurden, bekannt sei. Das FBI nahm auch an, dass er psychisch gestört sein könne, weil er nicht in der Lage zu sein scheint, sich mit anderen auseinander zu setzen (Auf der Spur der Anthrax-Briefe).
Es stellte sich allerdings noch heraus, dass Anthrax-Puder von außergewöhnlich guter Qualität gewesen war und vermutlich aus einer Bakterienzucht des US-Militärs stammte. Dabei rückte das Militärlabor in Fort Detrick (U.S. Army Medical Research Institute of Infectious Diseases - USAMRIID) ins Visier. Aus diesem Labor sind angeblich einige Kulturen verschwunden, aber es wurden Kulturen auch in Labors in andere Länder verschickt. Einige Wissenschaftler, die im Labor in Fort Detrick arbeiten oder gearbeitet haben, wurden verhört. Es war die Rede von einer Liste von Verdächtigen, doch das FBI betonte immer wieder, dass es keinen Hauptverdächtigen gebe (Angeblich tappt das FBI im Dunkeln). Seitdem hörte man nichts mehr wirklich Neues. Barbara Rosenberg von der FAS, die schon früh auf die Spur in militärische US-Labors hinwies, geht mittlerweile davon aus, dass das FBI möglicherweise gezielt die weitere Aufklärung verschleppt. Zwar wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass auch der Irak derartige Anthrax-Kulturen besitzen könnte, doch scheint die US-Regierung erstaunlicherweise daran interessiert zu sein, den Fall als "heimischen Terrorismus" behandelt zu sehen. Es wurde sogar ein Antrag Frankreichs mit einem Veto von den US-Regierungsvertretern zurückgewiesen, der erreichen wollte, dass der UN-Sicherheitsrat die Anthrax-Anschläge verurteilt.
Judicial Watch, eine Organisation, die staatliche Korruption untersucht und verfolgt, hat gestern jedenfalls Anzeige gegen das FBI, das Gesundheitsministerium, das Center for Disease Control, das USAMRIID und die amerikanische Post eingereicht, weil diese die verlangten Dokumente aufgrund des eigentlich vorbildlichen amerikanischen Informationsfreiheitsgesetzes nicht herausgeben. Bekanntlich hatte Justizminister Ashcroft kurz nach dem 11.9. ein Memo an alle Regierungsbehörden verschickt, in dem er mehr oder weniger forderte, dass Anfragen nach sensiblen Dokumenten aufgrund des Informationsgesetzes trotz anderer Rechtslage möglichst verweigert oder herausgezogen werden sollten. Er versprach auch juristischen Beistand. Juridicial Watch habe auch an das Weiße Haus und andere Ministerien Anträge auf Dokumenteneinsicht in Relation zu den Anthrax-Briefen geschickt und werde dort entsprechend vorgehen, wenn man innerhalb von zwei Wochen nichts höre.
Judicial Watch handelt im Auftrag einiger Hundert Postangestellter der Brentwood Post in Washington. Hier geht die ganze Post nach Washington D.C. durch, auch mit den beiden Anthrax-Briefe an die Senatoren Daschle und Leahy hatten die Angestellten daher Kontakt. Während die Angestellten auf dem Capitol Hill nach Bekanntwerden der Anthrax-Briefe sofort medizinisch behandelt worden seien, so der Vorwurf, mussten die Angestellten in Brentwood auf Geheiß der Postdirektion weiter arbeiten. Zwei der Angestellten starben durch das Einatmen von Milzbrandsporen, viele würden an Beschwerden leiden, die damit verbunden seien. Judicial Watch will gegen die unterschiedliche Behandlung und die Entscheidung klagen, die Postangestellten der Infektionsgefahr auszusetzen. Postangestellte stellten auch die größte Zahl der infizierten Menschen dar.
Schwerer aber könnte noch ein Verdacht wiegen, der die US-Regierung allgemein betrifft. Judicial Watch sucht zu erfahren, warum US-Präsident Bush und andere Angehörigen des Weißen Hauses, wie Presseberichten zu entnehmen war, seit dem 11.9. bereits das Antibiotikum Cipro eingenommen hatten, das bei Milzbrandinfektionen eingesetzt wird. Die Organisation sucht die Gründe herauszubekommen, warum man im Weißen Haus schon einen Monat vor den Anthrax-Briefen offenbar begründete Sorge vor einem Anschlag mit solchen Erregern hatte: "Man beginnt nicht einfach ohne guten Grund, ein solch starkes Antibiotikum zu nehmen", sagt Larry Klayman, der Vorsitzende von Judicial Watch. "Die amerikanischen Bürger haben das Recht zu erfahren, was man im Weißen Haus vor neun Monaten wusste."
Ende Oktober hatte Präsident Bush auf die Frage, ob er auf eine Milzbrandinfektion untersucht worden sei, nur gesagt: "I don't have anthrax." Überdies sagte er, dass er sicher sei, wenn er zur Arbeit ins Weiße Haus gehe. Ab Mitte September hätten mindestens einige Mitglieder des Weißen Hauses Cipro genommen, hieß es in Presseberichten, Genaueres aber sei nicht zu erfahren gewesen. So hätten die Mitarbeiter von Vizepräsident Cheney, der nach den Anschlägen sich in einen sicheren Bunker versteckt hatte, als "Vorsichtsmaßnahme" Cipro erhalten. Doch blieb das Weiße Haus erstaunlicherweise von Anthrax-Briefen verschont.
Bislang gibt es für die vorzeitige Ausgabe von Cipro vom Weißen Haus noch keine Erklärung. Es ist auch nicht bekannt, ob man sich gegen andere Erreger zu schützen versuchte. Und ganz allgemein hat die US-Regierung den Fall so hermetisch behandelt, dass nun Judicial Watch endlich eine Offenlegung aller Fakten erwartet: "Die amerikanischen Bürger verlangen von der Bush-Regierung, vom FBI und von anderen Behörden, über die Anthrax-Anschläge umfassend informiert zu werden. Die Untersuchung des FBI scheint zum Stillstand gekommen zu sein, und das ist, ehrlich gesagt, nicht sehr beruhigend, wenn man dessen Leistung im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11.9. betrachtet."