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Yanis Varoufakis über Fake-Strommärkte, Ukraine-Krieg und bedrohte Demokratie

"Wenn sich das kompliziert anhört, dann deshalb, weil es kompliziert sein soll, damit die Bürger Europas nicht verstehen, dass es sich um einen Betrug an ihnen handelt." Bild: DiEM25

Varoufakis sagt: Die Strommärkte sind vom Staat fabrizierte Scheinmärkte. In Stressphasen wie jetzt mutieren sie zu zerstörerischen Geldmaschinen. Warum der Energiekrieg enden muss und Meinungsfreiheit bedroht ist.

Während die Ukraine in ihrer bisher größten Gegenoffensive immer mehr von Russland besetztes Land einnimmt, spitzt sich der Energiekrieg in Europa weiter zu. Letzte Woche kündigte Russland an, dass es die Erdgaslieferungen nach Europa über die North-Stream-1-Pipeline erst dann wieder aufnehmen werde, wenn der Westen die Sanktionen aufhebt, die nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar verhängt wurden.

Yanis Varoufakis ist Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger Finanzminister Griechenlands.

Vor dem Ukraine-Krieg versorgte Russland Europa mit 40 Prozent seines Erdgases. Jetzt suchen die europäischen Länder händeringend nach Wegen, um mit der Gasknappheit und den steigenden Energiepreisen fertig zu werden. Die Befürchtung wächst, dass die Energiekrise zu Stromausfällen und zur Schließung einiger Industrien während des Winters führen könnte.

Das Interview mit Yanis Varoufakis, Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger Finanzminister Griechenlands, wird von Amy Goodman und Juan Gonzalez geführt. Telepolis veröffentlicht es in Kooperation mit US-Programm Democracy Now [1].

Ihr jüngster Artikel trägt die Überschrift "Time to Blow Up Electricity Markets". Was meinen Sie damit?
Yanis Varoufakis: Es sollte keine Strommärkte geben. Das ist widersinnig. Denken Sie darüber nach. Wie soll es einen Strommarkt geben, wenn in Ihrer Wohnung oder sonst wo nur ein einziges Stromkabel in der Wand steckt, das Strom transportiert. Es kann keinen Markt für Strom geben. Es ist ein Monopol. Die einzige Möglichkeit, einen Markt für Strom zu generieren, wäre, wenn wir 50 verschiedene Leitungen hätten, die jeweils einem Unternehmen gehören, während wir frei wählen könnten, an welche wir unsere Geräte anschließen. Aber das wäre natürlich völlig verrückt, weil wir dann 50 Netze haben müssten, die sich durch jeden Vorort, jede Stadt und das ganze Land ziehen müssten. Das wäre lächerlich ineffizient.
Wir haben also keine Strommärkte. Wir haben tatsächlich aber einen Staat, der eingreift und so tut, als ob es einen Markt gäbe. Er simulierte ihn aber nur, indem er einen Scheinwettbewerb zwischen den Stromerzeugern und einen Scheinwettbewerb zwischen angeblich unabhängigen Stromhändlern schafft. Damit sind Unternehmen gemeint, die Strom im Großhandel einkaufen und ihn dann an einzelne Kunden weiter verkaufen. Aber das alles ist eine staatliche Erfindung. Es ist, wenn Sie so wollen, der Albtraum der Anhänger von freien Märkten sowie von Konservativen und libertären Rechten. Der Strommarkt ist faktisch ein vom Staat geschaffener Fake-Markt.
Dass es sich um einen Scheinmarkt handelt, zeigt sich in Stressphasen. Das tat es zum Beispiel in den 1970er Jahren während der Ölkrise, die sich dann in einer Strompreiskrise niederschlug. Heute offenbart sich die Fehlkonstruktion in der Unterbrechung der Versorgungsketten im Zuge des Ukraine-Kriegs. Man darf nicht vergessen, dass die Strompreise, die die Menschen jetzt in New York, Los Angeles oder hier in Athen sowie überall zahlen, um einen viel größeren Faktor gestiegen sind als die Kosten für die Stromerzeugung. Die Oligarchen, die diesen staatlichen Markt, diesen Pseudomarkt, diesen Fake-Markt beherrschen, profitieren enorm von dieser Krise.
Europa hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion dafür entschieden, seine Wirtschaft insbesondere im Energiesektor eng mit Russland zu verflechten. Daher ist man nun gezwungen, sich schnell nach anderen Gas- und Ölquellen umzusehen. Könnten Sie über diese ursprüngliche Entscheidung, die jetzt vorgenommenen Änderungen und die Auswirkungen des Kurswechsels auf den Rest der Welt sprechen?
Yanis Varoufakis: Wenn man es historisch betrachtet, geht die Entscheidung auf die frühen 70er Jahre zurück. Damals begannen sich Westdeutschland und die Sowjetunion auf eine Vereinbarung über die Versorgung der deutschen Industrie mit billigem Gas zu einigen – als Gegenleistung für die Entspannungspolitik, während die Sowjetunion Geld mit dem Gasverkauf machen konnte.
Die Tragödie ist, dass wir seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers und der Implosion an der Wall Street im Jahr 2008 – die sehr schnell den gesamten Bankensektor in Europa zum Einsturz brachten und eine große wirtschaftliche und soziale Krise in Europa auslösten, wobei Griechenland natürlich am schlimmsten betroffen war, aber auch Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Irland oder Portugal, alle haben darunter gelitten –, nicht in Erneuerbare Energien investiert haben. Es hat schlicht keine Investitionen gegeben, die aber dringend benötigt werden, um den Planeten zu retten und Europa von Putins Regime in Russland abzukoppeln. Und jetzt viele Jahre später rächen sich die Versäumnisse.

Europa exportiert erneut Elend in die Welt

Und wie wirkt es sich auf den Globalen Süden aus, dass Europa Gas und Öl aufkauft, wo immer es welches finden kann?
Yanis Varoufakis: Ist es nicht furchtbar? Europa exportiert wieder einmal Armut. In den Jahren 2008, 2009 und 2010 hat Europa bereits Deflation in den Rest der Welt getragen, zunächst durch die Krise der deutschen und französischen Banken, schließlich mit der Staatsschuldenkrise. Wir haben Arbeitslosigkeit in den Rest der Welt exportiert. Jetzt exportieren wir Armut, Energiearmut, die sich in Nahrungsmittelarmut niederschlägt, weil Deutschland, Frankreich, Italien und sogar das kleine Griechenland im Moment versuchen, so viel Gas wie möglich zu kaufen, in verflüssigter Form aus Norwegen, Katar, Algerien oder wo immer es zum Verkauf steht.
Natürlich können die reichen europäischen Staaten den gesamten afrikanischen Kontinent und den Großteil Asiens und Lateinamerikas auf diesen Märkten überbieten. Sie treiben also die Preise für diese Länder, die Entwicklungsländer, in die Höhe, während die gleichzeitig unter Nahrungsmittelknappheit leiden. So exportiert Europa wieder einmal Elend in den Rest der Welt. Wir machen das schon seit tausend Jahren. Es ist nicht neu. Von den Ufern Europas verbreitete sich ja der Kolonialismus über die Welt.
Könnten Sie über Ihre Forderung nach einem Ende der russischen Sanktionen und Ihre Reaktion auf den jüngsten ukrainischen Blitzangriff sprechen, bei dem eine Stadt nach der anderen zurückerobert wurde, während Russland klarstellt, weiter nicht verhandeln zu wollen.
Yanis Varoufakis: Es ist eine Tragödie, dass im Krieg nicht verhandelt wird, wo immer er stattfindet. Ich muss sagen, dass ich mich grundsätzlich freue, wenn es einem angegriffenen Land gelingt, den Angreifer zurückzuschlagen. Ich freue mich daher, dass die russischen Truppen zurückgedrängt worden sind. Ich würde mich auch freuen, wenn es den Palästinensern gelänge, ihr gestohlenes Land zurückzuerlangen. Ich freue mich für alle überfallenen Völker, wenn sie ihre Häuser, Städte, Dörfer, Felder, Olivenbäume oder was auch immer zurückerhalten.
Davon einmal abgesehen findet in Europa mit der Ukraine eine absolute Tragödie statt, denn ich sehe kein Ende des Krieges. Es kann keinen militärischen Sieg weder für Putin noch für die Ukraine geben. Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass Putin in diesem Moment ein weiteres mörderisches Abenteuer in Teilen der Ukraine plant. Uns steht ein sehr langer Krieg bevor, dessen Opfer sich vervielfachen werden und der sich ausweiten wird.
Menschen werden in Afrika oder Lateinamerika an Hunger sterben. Ein neuer Kalter Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Europa auf der einen Seite und China und Russland auf der anderen Seite hat sich entzündet, während afrikanische und asiatische Nationen fassungslos daneben stehen. Ja sicher, sie mögen Putin nicht. Ihnen gefällt nicht, was Putin unternimmt. Aber gleichzeitig weigern sie sich zu akzeptieren, dass die USA und Europa Sanktionen gegen jeden verhängen können, den sie nicht mögen. Sie wissen, dass solche Sanktionen nie effizient oder im Interesse der meisten Staaten und der Mehrheit der Menschen sind.
Die Top-Story in den Medien war in den letzten Tagen der Tod der britischen Königin Elizabeth. Wie sehen Sie als linker Politiker aus Griechenland die Fixierung eines Großteils der westlichen Welt auf Monarchien und natürlich auf die britische Königsfamilie?
Yanis Varoufakis: Ich versuche, wenn jemand stirbt, unabhängig von meiner Meinung über den Verstorbenen, die Menschen zu respektieren, die in Trauer sind. Deshalb werde ich mich in meiner Antwort sehr zurückhalten. Lassen Sie mich Ihnen jedoch eine Antwort geben.
Ich trauere um die bürgerlichen Freiheiten und um die Meinungsfreiheit. Ein Bekannter von mir hat mir vor kurzem von einem Vorfall vor dem House of Commons in London, dem Parlament des Vereinigten Königreichs berichtet. Das Parlament befindet sich neben dem Big Ben bzw. unterhalb davon. Dort wurde nun ein Demonstrant verhaftet, der die Dreistigkeit besessen hatte, ein Plakat hochzuhalten. Vielmehr, es war nicht einmal ein Plakat, sondern ein Stück Papier, auf das er "nicht mein König" gekritzelt hatte, als der neue britische König Charles vorbeiging.
Er wurde also verhaftet. Mein Bekannter ging ein paar Tage später an denselben Ort mit einem leeren Blatt Papier und einem Stift. Polizeibeamten kamen vorbei und wollten sich auf ihn stürzen. Er sagte ihnen:

Wenn ich also hier auf dieses Stück Papier schreibe: "Nicht mein König", dann werden Sie mich verhaften?

Und sie sagten: "Ja." Sie warteten neben ihm, was er tun würde. Das ist für mich der Tod der Demokratie. Darüber sollten wir uns klar sein.

Yanis Varoufakis ist Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger Finanzminister Griechenlands. Er ist Mitgründer der paneuropäischen Partei Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25).


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7264196

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.democracynow.org/2022/9/13/yanis_varoufakis_russia_ukraine_energy_sanctions