Zehn Jahre NSU-Aufklärung: Wo waren wir stehen geblieben?

Unter dem Motto "Kein Schlussstrich" wurde am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess 2018 in München mit Porträts der Opfer demonstriert. Foto: Henning Schlottmann / CC-BY-SA-4.0

Ein Jahrzehnt nach der Aufdeckung gibt es immer noch mehr Fragen als Antworten zu der Verbrechensserie, die offensichtlich nicht aufgeklärt werden darf

Doppelte und dreifache Ermittlungen, ein fünfjähriger Strafprozess, über ein Dutzend parlamentarischer Untersuchungsausschüsse - und dennoch ist die Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) nicht aufgeklärt. Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter 2007 in Heilbronn belegt das vielleicht am eindrücklichsten.

Aus dem Blickwinkel der Serie, die am 9. September 2000 in Nürnberg begann und den türkischen Blumenhändler Enver Simsek traf, ist der Polizistinnenmord von Heilbronn am 25. April 2007 der zehnte und letzte Fall. Das war zur Zeit der Tat aber nicht erkennbar. Die Morde eins bis neun hängen zusammen, weil die Opfer alle migrantische Wurzeln hatten und weil sie alle mit der Pistole der Marke Ceska 83 erschossen wurden. Der Heilbronner Mord passt dazu nicht. Opfer waren zwei Polizeibeamte.

Die Polizistin Michèle Kiesewetter starb bei dem Angriff, ihr Kollege Martin A. kam knapp mit dem Leben davon. Sie wurden gegen 14 Uhr in ihrem Streifenwagen niedergeschossen, als sie auf dem Festgelände Theresienwiese Pause machten. Dabei kam nicht die Ceska 83-Pistole zum Einsatz, sondern zwei andere Fabrikate, eine polnische Radom- und eine russische Tokarew-Pistole. Es fand kein "Übertöten" statt, mehrere Schüsse auf die Opfer, wie im Falle der neun Migranten, sondern jeweils nur ein Schuss, was Martin A. vermutlich das Leben rettete.

Den Opfern wurden anschließend ihre Waffen und noch mehrere andere Gegenstände abgenommen. In vielen Details unterscheidet sich die Tat von den Morden an den neun türkischen, kurdischen oder griechischen gewerbetreibenden Männern.

Die Frage ist also: Wo ist die Verbindung?

Man kann im Mordfall Heilbronn gerade wegen der Unterschiedlichkeit den Schlüssel für den gemeinsamen Hintergrund aller zehn Morde sehen - und damit auch für das, was der NSU eigentlich in Gänze war.

Als die beiden angeblichen Alleintäter der NSU-Verbrechen, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, am 4. November 2011, vor zehn Jahren, in Eisenach tot in einem Wohnmobil lagen, waren es ausgerechnet die Dienstwaffen der beiden Polizisten, die zuerst gefunden wurden. Die erste Spur wies nach Heilbronn, der Polizistenmord schien aufgeklärt. Die Ceska-Pistole, die zu den neun Migrantenmorden führt, wurde erst Tage später im Schutt der ausgebrannten Wohnung in Zwickau entdeckt. Warum führen zwei Bankräuber diese gefährliche Fracht mit sich, Dienstwaffen aus einem Polizistenmord, die obendrein offen im Fahrzeug gelegen haben?

Obwohl statistisch neun von zehn Morden aufgeklärt werden, gelang dies bei keinem der zehn NSU-Morde bis zum November 2011. Seit November 2011 sollen nun Böhnhardt und Mundlos die ausschließlichen Täter sein, auch die von Heilbronn. Michèle Kiesewetter und Martin A. seien Zufallsopfer gewesen, heißt es offiziell, es sei den Tätern um Beamte an sich als Repräsentanten des Staates gegangen. A. war an jenem Apriltag das erste Mal auf Streife in Heilbronn, Kiesewetter war dagegen seit etwa einem Jahr mehrfach und immer wieder in der Neckarstadt im Einsatz. Und zwar nicht nur als Mitglied der Bereitschaftspolizei in Uniform, sondern auch in Zivil als Drogenfahnderin.

Die Sonderkommission (SoKo) Parkplatz des Landeskriminalamtes (LKA) von Baden-Württemberg kam vor dem November 2011 zu der Einschätzung, dass an der Tat auf der Heilbronner Theresienwiese mindestens vier bis sechs Täter beteiligt gewesen sein müssen. Eine Zeugin sah drei Männer am Opferfahrzeug. Drei anderen Zeugen fielen unabhängig voneinander kurz nach der Tatzeit von etwa 14 Uhr südlich des Tatortes insgesamt drei blutverschmierte Männer auf.

Ein Blutverschmierter war in Begleitung einer Frau und eines weiteren Mannes, ergäbe fünf Tatbeteiligte. Zwei der Blutverschmierten stiegen in mindestens ein Fluchtauto, was sechs Beteiligte ergeben würde. Hinzu kommen drei Männer, die Zeugen in die nördliche Richtung vom Tatort wegrennen sahen. Damit könnte die Zahl der Tatbeteiligten auf neun steigen.

Die Ermittler ließen mit den Augenzeugen Phantombilder von den blutverschmierten Männern und anderen auffälligen Personen erstellen, um damit nach den Tätern zu fahnden. Das wurde von der Staatsanwaltschaft Heilbronn, die die Ermittlungsführerschaft inne hatte, untersagt. Der verantwortliche Staatsanwalt weigerte sich außerdem unter anderem auch, den privaten Email-Account von Kiesewetter beim Betreiber Yahoo sicherstellen zu lassen.

Keines der insgesamt vierzehn Phantombilder, die dreizehnmal einen Mann zeigen und einmal eine Frau, ähnelt Böhnhardt und Mundlos oder Zschäpe, wie man heute weiß. In der Logik der Bundesanwaltschaft (BAW) ist das ein Beleg, dass die Blutverschmierten nicht die Täter gewesen seien, denn die stünden jetzt ja fest. Die andere Möglichkeit, dass Böhnhardt und Mundlos eben nicht die Täter waren, zählt für die oberste deutsche Strafverfolgungsbehörde nicht.

Wo ist der Kopf und wo sind die Füße der Wahrheit?

Das BKA, das im Auftrag der BAW die Ermittlungen führte, kann deren Wahrheit allerding nicht uneingeschränkt teilen. Das BKA musste nämlich eingestehen, "keinen eindeutigen Nachweis" erbringen zu können, dass "zumindest Böhnhardt und Mundlos am Tattag in unmittelbarer Tatortnähe waren". Und: Es bestehe "nach wie vor keine Klarheit über Ablauf der Tat und Anzahl der beteiligten Personen". So steht es im abschließenden Ermittlungsbericht des BKA vom Oktober 2012, der Grundlage für die Anklageerhebung der BAW war. Hinzu kommt, dass die beiden Schützen Rechtshänder gewesen sein müssen, die sich links und rechts von hinten an das Polizeiauto im Schatten eines Trafohäuschens heranschlichen.

Böhnhardt war aber Linkshänder, er hätte zum Opfer anders stehen müssen, als der tatsächliche Schütze, hätte am Opfer geradezu vorbeigehen müssen und wäre in Gefahr geraten, im Schussfeld des Komplizen auf der anderen Seite des Pkw zu stehen. Allen Widersprüchen zum Trotz behauptet die Bundesanwaltschaft ungerührt, Böhnhardt und Mundlos seien die Täter von Heilbronn gewesen - die alleinigen Täter. So hat es Beate Zschäpe dann auch im Münchner Prozess ausgesagt. Und so steht es im Urteil des dortigen OLG.

Auch an der Behauptung hält die Bundesanwaltschaft fest, die beiden Polizeibeamten seien Zufallsopfer gewesen. Und jetzt wird es spannend: Wenn die thüringer Neonazis Böhnhardt und Mundlos tatsächlich die Täter gewesen sind, dann ist die thüringer Polizistin Michèle Kiesewetter ziemlich sicher kein Zufallsopfer. Zwischen ihr und ihrem Job gab es Berührungsflächen mit der rechtsextremen Szene in Ostdeutschland.

In ihrem Heimatort Oberweißbach betrieb der Schwager des NSU-Angeklagten Ralf Wohlleben ein Lokal, wo sich auch die rechte Szene traf. Kiesewetters Onkel tat als Polizist Dienst beim Staatsschutz und war an Ermittlungen gegen den neonazistischen Thüringer Heimatschutz beteiligt.

Ein anderer Verbindungsstrang führt von Kiesewetter, ihrer Polizeieinheit BFE (Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit) und von BFE-Kollegen, die Mitglied in einer Ku-Klux-Klan-Gruppierung in Schwäbisch Hall waren, über das KKK-Mitglied Thomas Richter zu Uwe Mundlos. Richter kannte Mundlos, sein Name steht auf dessen Namens- und Telefonliste.

Mit Richter und dem KKK-Chef Achim Schmidt war zugleich der Verfassungsschutz Glied in dieser Personenkennkette. Richter arbeitete für das Bundesamt für Verfassungsschutz, Schmidt für das baden-württembergische Landesamt. Richter kam 2014 im Zeugenschutz von BfV und BKA unter nicht restlos geklärten Umständen ums Leben, er soll an einem Zuckerschock gestorben sein, obwohl er nicht an Diabetes litt.

Und nun wird es kompliziert: Wenn Michèle Kiesewetter also kein Zufallsopfer war, aber Böhnhardt und Mundlos möglicherweise trotzdem nicht die Haupttäter, wer waren dann die Täter von Heilbronn? Und welche Rolle spielten bei der Tat die NSU-Mitglieder Böhnhardt und Mundlos? Was wir hier zumindest sehen: Es muss mehr und noch andere Täter und Mittäter gegeben haben. Eine solche Perspektive muss sowohl die Hypothese für die Tat, das Tatmotiv und den Täterkreis beeinflussen, aber auch die Frage: Wer oder was war der NSU eigentlich?

Was hat am 25. April 2007 in Heilbronn stattgefunden? War es nicht etwa ein singulärer Anschlag, sondern eine größere Operation? Die Antwort führt möglicherweise über mehrere offene Spurenkomplexe.

Erstens: Die Drogen- und OK-Spur (Organisierte Kriminalität). Michèle Kiesewetter fuhr in Heilbronn nicht nur Streife, sondern wurde auch als sogenannte "NoeP", als "Nicht offen ermittelnde Polizistin", bei der Drogenfahndung eingesetzt. Sie trat als fingierte Drogenaufkäuferin auf, kaufte bei Dealern Ware und überführte sie so. Dabei musste sie auch Drogen konsumieren. Ihr Einsatz in der Drogenszene in und um Heilbronn, die von der russischen Mafia beherrscht wurde, führte zu Verhaftungen und Prozessen.

Ihr Onkel, Polizeibeamter in Thüringen, kritisierte hart, dass seine Nichte in derselben Stadt einmal in Uniform offene Streife fuhr und ein andermal in Zivil als verdeckte Ermittlerin tätig sein sollte. Das Entdeckungsrisiko war groß. In der Drogenszene bewegten sich mehrere Brüder des Nachnamens G. Einer von ihnen kam wegen Kiesewetter in Haft. Mindestens ein anderer der Brüder wiederum war Informant der Heilbronner Polizei, was Kiesewetter nicht wusste.

Doch damit bestand ein Loch zwischen Polizei und OK-Szene. Einer der G.-Brüder soll sich, so eine Zeugin, am Tattag zur Tatzeit ganz in der Nähe der Theresienwiese aufgehalten haben. Ebenfalls in der Nähe des Tatortes wurde ein Auto registriert, das einem Mann gehörte, der im Rahmen der Anti-Drogen-Fahndung des Ermittlungsvorgangs "Blizzard" zu den Beschuldigten gehörte. Das Verfahren wurde im wesentlichen von der Böblinger BFE-Polizei-Sondertruppe geführt.

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