Zeit zu sterben

Zur legalen Sterbehilfe in den Niederlanden

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Die niederländische Länderkammer in Den Haag hat ein Gesetz, das aktive Sterbehilfe für legal erklärt, mit 46 zu 28 Stimmen verabschiedet. Noch in diesem Sommer wird das Gesetz in Kraft treten. Danach dürfen Ärzte künftig straffrei Sterbehilfe leisten. Wie nicht anders zu erwarten, hat der Vatikan den Niederlanden bescheinigt, gegen Tausende Jahre europäischer Zivilisation zu verstoßen. Manfred Kock, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche, verwies auf das unumstößliche Gebot "Du sollst nicht töten". Auch Vertreter von CDU und SPD richteten sich vehement gegen die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe.

Bundespräsident Rau sagte, Deutschland müsse sowohl bei dieser Frage als auch bei der Embryonenforschung einen eigenen Weg gehen. Dass nun die für alle Menschen gleiche Frage nach dem Ende des Lebens gleichwohl einen deutschen Sonderweg eröffnen sollte, findet seinen Grund in der nationalsozialistischen Barbarei der Euthanasie, der ca. 100.000 Menschen zum Opfer fielen.

Sicher ist auch bei den besten Kautelen eines solchen Gesetzes die Gefahr von Missbrauch nicht ausgeschlossen. Wer will schon nach dem Tode letztgültig überprüfen, wie frei die Entscheidung des Sterbewilligen gewesen ist? Wie kann verhindert werden, dass scheinbar ausweglose Situationen zu vorschnellen Entscheidungen eines hoffnungslosen Menschen führen? Wie soll ausgeschlossen werden, dass medizinisch oder sozial zu lösende Schicksalsschläge eines Menschen in der schnellen Giftspritze enden? Erlahmt schließlich das Interesse an einer palliativen Medizin, wenn der von fremder Hand eingeleitete Tod allen Schmerzen jederzeit ein schnelles Ende bereitet. Keine leichten Fragen, keine schnellen Antworten!

Dennoch – die historische Keule der Euthanasieverbrechen ist ungeeignet, das Thema zu entscheiden. Staatlich verordneter Mord kann nicht der Entscheidung eines Sterbewilligen und der des Arztes, Hilfe zu leisten, gleich gesetzt werden. Hier sind zwei ethische Entscheidungen zu treffen, denen eine Zeit des Leidens und der Ausweglosigkeit vorangegangen ist. Die gesetzliche Regelung in den Niederlanden sieht zudem vor, dass der Wunsch nicht nur mehrfach ernsthaft geäußert werden muss, sondern auch ein zweiter Arzt als Gutachter hinzugezogen wird. Zudem muss diese Todesursache auch dem Leichenbeschauer ausdrücklich genannt werden, um ggf. posthume Untersuchungen zu eröffnen.

Wer dagegen das Leiden nicht für abkürzungsfähig hält, mag nicht ermessen, welche unaussprechliche Not Menschen ergreift, die außer der Zukunft des Leidens keine mehr haben. Worin liegt der Vorzug einer um ihre lebenserhaltende Funktion beraubten Medizin, wenn das wimmernde Leben vor einem unausweichlichen Ende – wie heute üblich - tage- ja wochenlang bis zur Bewusstlosigkeit narkotisiert wird? Welche Menschenwürde hat ein Leben, das künstlich erhalten nie mehr die relative Autonomie einer humanen Existenz wiedererlangt? Auch in Deutschland verfügen Patienten bereits heute über die Art und Weise ihres Todes. Im Rahmen von Patientenverfügungen können sich Menschen gegen die unwürdigen Bedingungen einer Zwangssymbiose mit Apparaten wehren, die nicht viel mehr aufrechterhalten als das "factum brutum", dass der Organismus "Mensch" noch lebt.

Wer das Recht zu sterben bestreitet, dem geht es zuvörderst um überindividuelle Maßstäbe seiner Ethik und Moral. Wer dagegen auf seine irdische Restexistenz zurückgestoßen wird, mag in die Situation kommen, dass er sich diesen Luxus nicht mehr leisten kann. So wenig der Staat sich ein Recht anmaßt, über den fehlgeschlagenen Versuch eines Selbstmords zu urteilen, so wenig steht es ihm oder gesellschaftlichen Gruppen zu, über den Lebenswillen von Menschen zu urteilen.

Darf es dabei vom Zufall oder vom Geldbeutel abhängen, ob sich einer rechtzeitig bei einer Gesellschaft für humanes Sterben angemeldet hat, um effiziente Sterbemittel zu erhalten? Wie bizarr die Wege werden, aus einem unwürdigen Leben zu scheiden, zeigt etwa die Initiative des australischen Arztes Philip Nitschke, eine schwimmende Sterbeinsel ins Meer zu setzen, um sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Wie weit muss ein Mensch gehen, um seinen Frieden zu finden?

Wer hier also von Menschenwürde redet, kann nicht die des Moribunden meinen. Wird der menschlichen Selbstbestimmung Verfassungsrang zuerkannt, kann dieses Recht nicht dann leer laufen, wenn er aus dem Leben scheiden will. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg Dietrich Hoppe, attestiert zwar jedem das Recht auf einen würdigen Tod, nicht aber das Recht, getötet zu werden. Aber wo liegt hier der Unterschied, wenn der kranke Mensch weder Kraft noch Mittel findet, dieses Recht auf einen würdigen Tod selbst zu verwirklichen?

Der Terror eines Lebens um jeden Preis lässt sich nicht rechtfertigen. Die Entscheidung der niederländischen Länderkammer war richtig und vollzieht nun das offiziell, was anderenorts in das Zwielicht der Kriminalität verdrängt wird. In diesen Sphären des Schweigens, der Heimlichkeit und der gesellschaftlichen Ächtung ist die Gefahr des Missbrauchs erheblich höher als im Rahmen einer kontrollierten Entscheidung, die das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung auch in seiner schwersten Stunde erhält.