Zeitenwende in Damaskus: Russland und Iran in der Zwickmühle
Syriens Machthaber Assad ist geflohen. Damaskus fiel in die Hände islamistischer Rebellen. Nun stehen seine Verbündeten vor folgenschweren Entscheidungen.
Am Morgen des 27. November 2024 schwiegen die Waffen zwischen der schiitischen Hisbollah-Miliz und der israelischen Armee. Der heftigste Waffengang zwischen den beiden verfeindeten Lagern seit Sommer 2006 hat ein erstes, brüchiges Ende gefunden.
Neben einer Kampfpause sollte ein koordinierter Rückzug aus dem Libanon (was die israelische Armee betrifft) oder – im Falle der Hisbollah – hinter den Litani-Fluss erfolgen. Allerdings blieben zentrale Konfliktpunkte ungelöst: Millionen Binnenflüchtlinge im Südlibanon und im Norden Israels.
Dennoch gingen Analysten zunächst davon aus, dass der Nahe Osten dem Frieden einen kleinen Schritt näher gekommen sei. Der Waffenstillstand hielt – erstmals seit dem 7. Oktober 2023 konnten einige Flüchtlinge zurückkehren.
Rhetorik und Realität
Erstaunlich, denn es gab gewichtige Gründe die gegen einen Waffenstillstand sprachen. Die Rhetorik aus Israel, die gezielte Liquidierung der Hisbollah-Clique, die Bindung eines Waffenstillstandes an ein Schweigen der Waffen in Gaza sowie das Momentum auf der israelischen Seite sowie die Passivität des iranischen Gegenpartes.
Die Realität überwog: Das Chaos im Zedernstaat drohte überhand zu nehmen, die Infrastruktur brach zusammen, kritische Stimmen mehrten sich, die Hisbollah brauchte eine reorganisierende Pause.
Im Weißen Haus gibt es kein Interesse an einer maximalen Eskalation im Nahen Osten, der ökonomisch forcierte und militärisch flankierte Endkampf gegen das aufstrebende China steht im Mittelpunkt aller Strategiedebatten.
Der Krieg kostet Israel täglich ein Vermögen, bringt die als Geiseln genommenen Israelis nicht zu ihren Familien zurück. Die Hisbollah war und ist ein anderes militärisches Kaliber als die Hamas oder der islamische Dschihad – im Häuserkampf in der Bekaa-Ebene müssen Zehntausende tote Wehrpflichtige in Kauf genommen werden.
Kurz keimte Hoffnung auf, dann überschlugen sich die Meldungen aus Aleppo.
Teheran als Schutzengel von Damaskus?
In Windeseile wurde das jahrzehntelange Regime der Familie Assad in Syrien hinweggefegt. Nach Meldungen des frühen Sonntag ist Assad an einen bisher unbekannten Ort geflohen ist, der Präsidentenpalast gestürmt, Damaskus eingenommen und die iranische Botschaft verwaist. Zeitenwende hin zur HTS-Herrschaft in Syrien.
Die FAZ analysiert treffend, dass der Ausgang der Offensive auf Aleppo und ganz Syrien entscheidend davon abhing, inwieweit der Iran und Russland bereit waren, ihren wichtigen Verbündeten Assad im Zweifelsfall mit eigenen Truppen militärisch zu unterstützen.
Klar ist derzeit, dass die syrische Armee sich zurückziehen musste, massenhaft desertiert und zumindest kurzfristig keinen ernsthaften Gegenangriff führen kann. Assad und seine Soldaten mussten sich an drei Fronten verteidigen, insbesondere die starke Nordfront aus der zentralen Hochburg Idlib mit kampferprobten HTS-Verbänden auf die strategisch entscheidende Stadt Homs und Damaskus waren das Zünglein an der Waage.
Wie das US-amerikanische Institut ISW aufzeigt, sind Homs und Hama zwei entscheidende Städte im Kampf insbesondere um die Nachschublinien gewesen.
Nach dem Verlust des Flughafens von Aleppo gab es über Homs eine Route in den Iran – zudem ist durch die Einnahme von Homs der Truppennachschub der pro-iranischen Milizen aus dem Irak nahezu unmöglich. Der Iran schickte einen erfahrenen und berüchtigten General der Revolutionsgarden, Drohnen und Raketen – aber eben keine Bodentruppen.
Für den Iran stand viel auf dem Spiel: mit Syrien kippt ein weiteres wichtiges Puzzleteil in der geostrategischen Vorwärtsverteidigung des Mullah-Regimes – die Einkreisung des Landes wird enger. Mit der Schwächung der Hisbollah und der weiteren Zerschlagung der Hamas blieben nur noch der instabile Irak und die keineswegs Teheran-treuen Ansharollah im Jemen.
Ein Horrorszenario für Teheran. Doch die Theokratie zögert – nach Informationen des ZDF prüfte man allzulange die Entsendung von Bodentruppen, die für Assad auf absehbare Zeit lebenswichtig war. Somit kann resümiert werden, dass der Iran Assad wohl am Freitag fallen ließ. Nach Berichten der Nachrichtenagentur AP verließen Militärberater des Iran Syrien am Freitag.
Astana-Format und Kooperation mit der Türkei?
Mit einer direkten Intervention in Syrien wäre Teheran zu einer aktiven und direkten Kriegspartei geworden. Konfrontation mit dem Nato-Mitglied Türkei, Bombardierungen durch Israel und eine Vielzahl möglicher iranischer Märtyrer wären die Folge gewesen. Nicht zu vergessen: In Syrien sind US-Truppen stationiert! Die extrem dynamische Lage überrannte die Theokratie.
Randnotiz: Ein direktes Eingreifen des Iran wie auch Russlands hätte die Gespräche im Astana-Format mit der Türkei maximal beeinflusst. Auf diese Weise wollte man den Konflikt lösen. Darüber hinaus ist die US-imperialistische Handschrift hinter den Ereignissen in Syrien deutlich zu erkennen, wie gezielte Kommentare in der relevantesten englischsprachigen Zeitung des Iran, der Tehran Times, nahelegen.
Der Iran versuchte – defensiv – den Kurs zu halten, sich nicht direkt einzumischen und die Kanäle zumindest nach Ankara intakt zu halten. Ein zögerliches Lavieren und ein Vabanque-Spiel, das verloren ging. Die Achse von Teheran bis Beirut ist kaum mehr vorhanden – ein schwerer Schlag für den Iran.
Das russische Dilemma
Russland und Iran eint, dass beide die Türkei in die Pflicht nehmen wollten. Der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei 2016 schien nicht vergessen – Putin drängte Erdogan, sein Gewicht in die Waagschale zu werfen.
Doch Erdogan widerstand: zu verlockend scheint es für den türkischen Präsidenten, die "kurdische Gefahr" zu beseitigen, sich vor den Nato-Staaten zu profilieren und die Landkarte noch vor Donald Trump neu zu ordnen. Der klare Sieger ist die insgeheime Schutzmacht von HTS – die Türkei.
Auch für Moskau steht viel auf dem Spiel – es ging um einen Verbündeten, um den Marinestützpunkt Tartus und den Luftwaffenstützpunkt Hmeimim. Es geht also um nicht weniger als einen Platz im Konzert der Großmächte.
Tartus dient als Sprungbrett nach Afrika, eine islamistische Republik Syrien könnte ein Bezugspunkt für durchaus vorhandene separatistische Bestrebungen in der Föderation sein und man würde die Teilhabe an der Rohstoffausbeutung verlieren.
Aber es blieb die entscheidende Frage, ob sich Russland zwei große Kriege mit dem Einsatz von Bodentruppen leisten könne? Die Priorität liegt eindeutig auf der Ukraine-Front. Eine Überdehnung seiner begrenzten Kapazitäten muss der Kreml unbedingt vermeiden - sonst droht ein Rückschlag. Ein Eingreifen von Russland hätte massiv erfolgen müssen und blieb aus.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl der Iran als auch Russland den großen Krieg nicht wollen konnten und dies eine wahre Zeitenwende im Nahen Osten einläutet.
Mit einem zu befürchtenden HTS-Staat ergeben sich neue Spannungen: Iran, Russland und pro-Regime-Kräfte in Syrien werden wohl kaum aufhören aktiv zu sein, für Riad sind die pro-türkischen Islamisten keine verlässlichen Gesprächspartner – die in ICE-Geschwindigkeit eintreffenden Nachrichten lösten in den herrschenden Eliten am Golf Panik aus.
Sieger Türkei?
Mit dem Aufstieg der AKP und dem wirtschaftlichen Wachstumsschub wuchs auch der türkische Drang nach Expansion. Neben Nagorno-Karabach und den Scharaden mit der Nato, dem Clinch mit Griechenland und der Zypernfrage ist Ankara nach jahrelangen Aktivitäten dabei, als strahlender Sieger vom Schlachtfeld in Syrien zu stolzieren.
Nicht nur, dass Erdogan seine inneren Feinde und die kurdische Bewegung kaltgestellt hat, auch außenpolitisch wächst der Einfluss und das Gewicht der Türkei. Ihre Bedeutung in Afrika, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und in der Nato wächst.
Fraglich bleibt, welche Politik die türkischen Statthalter in Syrien machen werden. Aktuell geriert sich HTS-Führer Al-Jaulani als Stabilitätsgarant, sein Bart ist gestutzt, seine Anweisungen verbieten gewaltvolle Einnahmen von Regierungsinstitutionen. In Aleppo wird jetzt mit türkischer statt syrischer Lira bezahlt.