Zeitschrift Mute im neuen Format
Proud to be Gloss!
Strategische Überlegungen zum Überlebenskampf eines Mediums der Cyberkultur
Seit September präsentiert sich die Zeitschrift Mute im neuen Gewand. Das in London produzierte Magazin für Kunst und Technologie hat das bisherige Format, das in Farbe und Größe der Financial Times nachempfunden war, aufgegeben und erscheint nun als "normale" Zeitschrift in A4 und auf leicht glänzendem Papier. Dieser Schritt, der von angeblichen Fans und Insidern als Bruch mit einer liebgewonnenen Identität kritisiert wurde, soll den ökonomischen Weiterbestand des Magazins sicherstellen helfen.
In einer Hinsicht haben die kritikfreudigen Insider schon recht. Das FT-Format der alten Mute war aufsehenerregend und gab dem Magazin, auch im grafischen Freiraum, den die großen Seiten boten, eine unverwechselbare Note. Ökonomisch gesehen war dieses Format jedoch ein Selbstfaller. Denn Mute erschien eben nicht täglich wie eine richtige Zeitung, sondern nur alle drei Monate. Und für solche langen Publikationsabstände ist Zeitungspapier alles andere als geeignet. Buchhandlungen und Zeitschriftenhändler weigerten sich, die zerfallenden und vergilbenden Blätter monatelang in ihren Regalen auszustellen. Auf die diesbezügliche Frage antwortete Mute in einem kollektiven Statement der Redaktion:
Es ist keine Frage, daß der Formatwechsel vor allem ein taktischer Schritt im Überlebenskampf war. Abgesehen davon, daß es uns alle traurig machte, unseren rosaroten Freund zurückzulassen, hat das neue Zeitschriftenformat es nötig gemacht, daß wir "Mute" vom Scheitel bis zur Sohle neu überdenken. Ausgehend von der Schnelligkeit der technologischen Veränderung und ihrer oft hysterischen Warnehmung in der Öffentlichkeit ist es für ein Magazin wie das unsrige essentiell, sich einer permanenten Standpunktüberprüfung zu unterziehen. Das bedeutet nicht, daß die konstante Evolution das einzige Überlebensgeheimnis ist - auch Kontinuität hat viel für sich. Doch in einer mit Medien gesättigten Welt sind die Lorbeeren rar, auf denen man sich ausruhen könnte (was man von käsigen Metaphern leider nicht sagen kann).
Mute Redaktion
Mute begann im Herbst 94 nach einem Kalifornienaufenthalt von Simon Worthington und Pauline van Morink Broeckmann. Der gebürtige Cornwaller und die seit über 10 Jahren in London lebende Niederländerin hatten bis dahin als Künstler im Bereich der neuen Medien gearbeitet. In Kalifornien zu Zeugen des gerade einsetzenden Internet-Booms geworden, fiel ihnen der essentielle Mangel an reflexiven Medien in diesem Bereich auf, insbesondere in Grossbritannien. Gut vernetzt mit einer boomenden Szene von Multimediadesignern, Künstlern und Schreibern in Shoreditch, ein geografisch kleiner aber sehr umtriebiger Knotenpunkt von digitaler Medienkultur im Londoner East End, legte Mute einen Blitzstart hin und erlangte dank guter Kontakte mit Berlin und Amsterdam schnell überregionale Bedeutung.
Seither wird Mute, wenn es darum geht, Zeitschriften-Alternativen zum kalifornischen Leitmedium der Cyberkultur Wired zu finden, immer wieder zitiert. Dabei hat Wired als Modell, Vorbild oder Feindbild bei der Gründung von Mute überhaupt keine Rolle gespielt (ebensowenig wie bei Telepolis, was an dieser Stelle auch gesagt sein sollte). Der spezifische Mix, den Mute präsentiert, ist ein London-typisches Produkt: Kritisch europäisch im Vergleich zu den technophilen Hippies von der Westküste, jedoch wesentlich liberaler und undogmatischer als die kontinentaleuropäische Cyber-Linke. Mute erscheint im Eigenverlag, ohne Geld eines Verlags oder Sponsors im Hintergrund und ist allein auf Verkaufs- und Anzeigenerlöse angewiesen. Diese Unabhängigkeit verleiht Mute bei der linken Netzkritik am Kontinent eine Menge Glaubwürdigkeit. Was dabei jedoch in typischer Verblendetheit übersehen wird ist, daß Mute ein vom Geist des Entrepreneurship getragenes Projekt ist. Und dieser Geist des Twenty-Something-Unternehmertums ist mit ein Ergebnis thatcheristischer Kulturpolitik, dem zeitgenössischen Kulturbereich die Subventionsmöglichkeiten zu entziehen.
Bis heute ist Mute eine Art Fanzine der elektronischen Kultur, bei dem die Schreiber kein Geld erhalten und die Herausgeber nebenbei kommerzielle Auftragsarbeiten machen müssen, um überleben zu können. Berührungsängste mit dem kommerziellen Sektor gibt es jedoch nicht und wenn die Taktik mit dem Formatwechsel aufgeht, könnte Mute schon bald ein sich selbst tragendes Unternehmen sein, das normale Honorare bezahlt und sich hauptsächlich über Anzeigen finanziert. Doch apropos Berührungsängste: In einem Punkt sind Mute unbeirrbar, wenn es darum geht, die Unabhängigkeit zu bewahren. Unter die Fittiche eines großen Verlags genommen zu werden, steht ihnen nicht im Sinn.
Die erste Ausgabe im neuen Design gibt keinen Anlaß zur Vermutung, daß Mute mit dem neuen Glanz auf seinen Seiten nun inhaltlich abflachen würde. Eine Sondersektion über Cyberfeminismus, ein Interview mit Kevin Kelly, in dem dieser praktisch in den Boden gestampft wird, ein höflicher Verriß des Leaf/Videopositive Festivals sind Rechtfertigung genug für den Untertitel "Critical/Information/Services". Zugleich weist Mute mit seinem Service-Anteil an Veranstaltungshinweisen, Musik-, Buch-, CD ROM-, und Spiele-Rezensionen genügend Anschlußstellen für gutbestallte Anzeigenkunden auf.
Das grafische Erscheinungsbild allerdings erscheint noch verbesserungsbedürftig. Man sieht zwar, daß mit viel Liebe zum Detail eine Menge Arbeit in das Design gesteckt wurde, es fehlt jedoch die durchgängige eigene Note, die mit dem alten Format sozusagen von selbst gegeben war. Die gewählten Fonts, Hintergründe und Schriftgrößen machen das Lesen auf Dauer etwas anstrengend. Doch zur Zeit wird schon wieder mit Volldampf an der nächsten Ausgabe gebastelt und es besteht wenig Zweifel, daß die Grafik sich verbessern wird.
Mute hat sich inzwischen redaktionell verstärkt. Neben Worthington und Van Moerink Broeckmann arbeitet Josephine Berry als Assistenz-Redakteurin fest am Projekt mit. Weitere Redakteure betreuen nun Sondersektionen:
Jamie King und Tom McCarthy betreuen die Buchrezensionen, Hari Kunzru macht die Audioabteilung, James Flint editiert den Wissenschaftsteil und John Paul Bichard die Spiele-Sektion.
In der für knapp vor Weihnachten angekündigten nächsten Nummer wird u.a. erscheinen: "A Small Normality for Eastern Europe" von Andreas Broeckmann und Inke Arns, "Technocratic Dreamtime in Malaysia: Cyber-Colonialism" von John Hutnyk, eine Sondersektion über Technowissenschaften, sowie zahlreiche Rezensionen aus dem Kunst-, Musik-, Wissenschafts-, Print-, und Spielebereich und vieles mehr.
Hat aber nun der Formatwechsel die gewünschte Steigerung des Verbreitungsgrades bewirkt? Laut Pauline Van Moerink Broeckmann tritt der Effekt erst langsam ein. Die bislang pro Ausgabe in Umlauf gebrachten 6000 Stück werden sich mit dem ersten Heft im neuen Look noch nicht deutlich steigern. Allerdings konnten neue Distributionskanäle erschlossen werden. Im Grossraum London wird Mute nun über Time Out (die Programmwochenzeitschrift) mitvertrieben. Rückmeldungen über den tatsächlichen Verkauf gibt es allerdings noch nicht. Zu bisherigen Vertriebskanälen in UK, USA, Kanada und einigen Spezialbuchhandlungen in Europa hinzugekommen sind der Vertrieb über eine professionelle Agentur an der Ostküste der USA, eine Agentur in Neuseeland, sowie Australien. Ein Vertrieb in Deutschland oder Österreich konnte trotz diesbezüglicher Bemühungen nicht gefunden werden.
Hat sich die Umgestaltung auf den Verkauf noch nicht erkennbar ausgewirkt, so sieht das im Anzeigenbereich schon besser aus. Hier konnten die Einnahmen bereits mehr als verdoppelt werden (allerdings auf niedrigem Niveau). Zieht man das bereits gezeigte Durchhaltevermögen und den Professionalismus in Betracht, mit dem die gar nicht stummen Mute-Redakteure an ihrer Zeitschrift arbeiten, so kann es eigentlich nur aufwärts gehen. Denn der Bedarf für kritische aber undogmatische - man könnte auch sagen postideologische - Reflexionsmedien der Cyberkultur ist nach wie vor gegeben. Mute stehen im Mittelpunkt einer vibrierenden Szene, die gemeinsam mit dem Magazin und seinen Machern wächst, wobei Mute sich rühmen kann, Kondensator und Katalysator dieser Szene zu sein. Mit der Selbstbeweihräucherung ist Mute allerdings, typisch englisch, ausgesprochen sparsam. "Offensichtlich müssen wir noch eine Menge an unserem neuen Erscheinungsbild arbeiten" sagen sie, und genau das werden sie im Moment wohl auch tun.