Zeitverträge in der Wissenschaft: Wie Deutschland Nachwuchsforscher vergrault
Eine akademische Laufbahn ist von prekären Arbeitsbedingungen geprägt. Das wollte die Bundesregierung ändern. Warum das Forschungsministerium aber einen Sturm der Entrüstung auslöste.
Dem Volksmund galt Deutschland einmal als Land der Dichter und Denker – und das nicht ohne Grund: Zahlreiche berühmte Schriftsteller und Wissenschaftler haben hier ihre Wurzeln. Diese goldenen Zeiten sind Geschichte – wo das Dschungelcamp Erfolge feiert, kann der Geist nicht heimisch sein.
Für viele mag es auch heute noch ein Traum sein, eine akademische Laufbahn anzustreben – bis sie mit den prekären Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen und Forschungsinstituten konfrontiert sind. Wissenschaftler hangeln sich von Projekt zu Projekt, von einem Zeitvertrag zum nächsten; wobei der Trend zu immer kürzeren Laufzeiten ungebrochen ist.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) widmete dem Thema vergangene Woche eine Aktionskonferenz. Andreas Keller, stellvertretender GEW-Vorsitzender, hob dabei die Wirkung des 2007 verabschiedeten – und etwas sperrig klingenden – Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) hervor:
Das 2007 in Kraft getretene Gesetz hat in beispielloser Weise die Prekarisierung der Arbeit in Hochschule und Forschung vorangetrieben. 84 Prozent aller wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Universitäten sind befristet beschäftigt. 42 Prozent von ihnen mit einem Vertrag, dessen Laufzeit weniger als ein Jahr beträgt. Zwei Drittel aller Promovierenden werden mit einer halbfertigen Doktorarbeit auf die Straße gesetzt. Kettenverträge bestimmen den Alltag der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Wer mindestens acht Jahre an einer Universität beschäftigt ist, kann auf sieben bis acht befristete Arbeitsverträge zurückblicken.
Andreas Keller (GEW)
In der aktuellen Form des WissZeitVG können Nachwuchswissenschaftler bis zu zwölf Jahre befristet an einer Hochschule oder einem Forschungsinstitut angestellt werden. Diese Qualifikationsphase umfasst sechs Jahre bis zur Promotion und sechs Jahre danach. Wer sich bis dahin nicht habilitiert hat und einen Lehrstuhl oder eine unbefristete Stelle ergattern konnte, fällt aus dem System.
Und das trifft auf die überwiegende Mehrheit zu, denn im Schnitt sind weniger als 20 Prozent der Stellen unbefristet. Die Folgen beschreibt Zeit Online so:
Nicht wenige Anfangvierziger stehen dann mit dem allerhöchsten Bildungsabschluss vor dem Nichts, müssen nachts Taxi fahren und dürfen tagsüber unbezahlte Titellehre an deutschen Universitäten anbieten, damit sie sich immerhin Privatdozent/in (PD) nennen dürfen.
Zeit Online, 21.03.2023
In der vergangenen Woche hatte das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) seine Vorschläge vorgestellt, wie die Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen verbessert werden könnten. Auf Twitter entlud sich daraufhin ein Sturm der Entrüstung.
Der Historiker Jürgen Zimmerer, Professor an der Universität Hamburg, etwa nannte die BMBF-Vorschläge einen "wissenschaftspolitischen Wahnsinn". Elif Oezmen, Professorin für Philosophie an der Universität Gießen, meinte, die geplante Reform bedeute nicht nur für die Betroffenen "Not und Elend". Das neue WissZeitVG mache "unsere eigene Arbeit zunehmend lächerlich und Nachwuchsförderung geradezu verantwortungslos".
Die Stuttgarter Juniorprofessorin Amrei Bahr erklärte am Samstag gegenüber dem Deutschlandfunk: Die durchgeführten Beteiligungsverfahren seien eine unglaubliche Verschwendung von Zeit aller Beteiligten gewesen.
Mehr als 200 Professoren veröffentlichten am Sonntag eine Erklärung. Darin brachten sie zum Ausdruck, dass sie große Hoffnungen mit der geplanten Gesetzesnovelle verbunden hätten. Was aber vom BMBF vorgelegt wurde, sei dagegen eine "Verschlimmbesserung".
Im Fokus der Kritik steht hauptsächlich die Praxis der befristeten Arbeitsverträge. Um eine "frühere Planbarkeit" zu gewährleisten, will das BMBF die Qualifikationsphase von aktuell zwölf auf neun Jahre verkürzen.
Im Klartext heißt das: Eine Promotion in Deutschland dauert im Durchschnitt 5,7 Jahre, und im Anschluss dürfen die Nachwuchswissenschaftler nur noch drei Jahre statt der bisherigen sechs Jahren befristet beschäftigt werden.
»Wir sind fassungslos angesichts der Realitätsferne, die sich darin zeigt«, heißt es in der Stellungnahme der Professoren. Besonders erschreckend sei, dass man auf dem Weg zur Habilitation nur noch drei Jahre zur Verfügung habe. Allein das Verfahren nach dem Einreichen der Schrift benötige etwa ein Jahr, die Annahme von peer-reviewten Artikeln in guten Zeitschriften dauere mitunter noch länger.
Die GEW moniert, dass der Qualifizierungsbegriff weiterhin viel zu unpräzis sei. Er müsse geschärft werden, damit des den Nachwuchswissenschaftlern überhaupt möglich wird, eine Doktorarbeit zu verfassen oder an der Habilitation zu arbeiten.
Denn Promovierende und sogenannte Post-Docs müssen an den Hochschulen auch einen erheblichen Teil von Lehre und Forschung stemmen. Zum Teil müssten sie im Jahr bis zu zehn Lehrveranstaltungen geben, und dabei haben sie oftmals nur Teilzeitstellen. In der regulären Arbeitszeit bleibt dann aber oft zu wenig Zeit für die eigene Forschungsarbeit.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass viele Wissenschaftler Deutschland den Rücken kehren und in Länder gehen, die ihnen bessere Bedingungen bieten. Die USA, Großbritannien und die Schweiz sind für deutsche Wissenschaftler besonders verlockend. Etwa 58 Prozent der auswandernden Forscher zieht es in diese drei Länder, ergab eine Untersuchung des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung.
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