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Zoff in Erdogans Nato-Wartezimmer

Jens Mattern

Mit einer an den FĂŒĂŸen aufgehĂ€ngten Erdogan-Puppe spielten Aktivisten in Stockholm auf das Ende Mussolinis an. Foto: RojavakommittĂ©erna / Quelle: Twitter

Der Beitrittsprozess von Schweden und Finnland kommt nicht voran. Ankara stellt harte Bedingungen. Die provokante Aktion einer prokurdischen Gruppe in Stockholm brachte nun zusÀtzlich Konfliktstoff.

"Zuallererst mĂŒssen sie 130 Terroristen ausliefern, wenn ihre AntrĂ€ge im Parlament bearbeitet werden sollen", schrieb der tĂŒrkische StaatsprĂ€sident Recep Tayyip Erdogan vor wenigen Tagen Schweden und Finnland ins Stammbuch [1].

Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin machte darauf aufmerksam, dass Stockholm und Helsinki sich in ihrem Nato-Beitrittsprozess vor dem Juni keine Hoffnungen machen sollten. Am 18. Juni findet in der TĂŒrkei die PrĂ€sidentschaftswahl statt, der Zusammenhang scheint offensichtlich.

Anspielung auf Mussolinis Ende

Neben Ungarn weigert sich bislang die TĂŒrkei, die im Juni 2022 gestellten AntrĂ€ge der beiden LĂ€nder zu ratifizieren. Emotional aufgebracht reagierte das tĂŒrkische Staatsoberhaupt zuletzt auf eine Puppe mit seinem Angesicht [2], die in der vergangenen Woche kopfĂŒber vor dem Stockholmer Rathaus aufgehĂ€ngt worden war.

Verantwortlich zeichnete sich das "Rojava-Kommitee" [3], das sich fĂŒr eine kurdische Autonomie in Nordsyrien starkmacht, einer Region, die auch von Erdogan beansprucht wird. Die Gruppe spielte mit der Aktion auf das Ende des FaschistenfĂŒhrers Benito Mussolini an, der kurz vor Kriegsende von Partisanen in Norditalien erschossen und an einer Tankstelle aufgehĂ€ngt worden war.

Als Konsequenz ließ man in Ankara den schwedischen Botschafter einbestellen – ein Besuch des schwedischen ParlamentsprĂ€sidenten Andreas NorlĂ©n wurde unmittelbar abgesagt. Zwar verurteilten Premierminister Ulf Kristersson und Außenminister Tobias Billström wortreich die Tat, doch dem tĂŒrkischen Außenminister MevlĂŒt Cavusoglu genĂŒgte das nicht, er will die Schuldigen bestraft sehen. Der zustĂ€ndige Staatsanwalt, Lucas Eriksson, erklĂ€rte jedoch, dass man keine Ermittlungen einleiten werde.

Ebenfalls kein Vorankommen brachte diese Woche auf den ersten Blick der Besuch Cavusoglus in Washington. Nach Angaben des Wall Street Journals vom 13. Januar wollte die Regierung den Verkauf von US-Kampfjets F-16 im Wert von 20 Milliarden US-Dollar von Ankaras Einwilligung fĂŒr die Nato-Beitritte der beiden skandinavischen LĂ€nder abhĂ€ngig machen.

Der tĂŒrkische Außenpolitiker soll dem Vernehmen nach seinem Amtskollegen in Washington vermittelt haben, dass dies getrennt zu behandeln sei. US-Außenmninister Antony Blinken soll jedoch im GesprĂ€ch mit dem finnischen Amtskollegen Pekka Haavisto versprochen haben, weiterhin Druck auf die TĂŒrkei und Ungarn auszuĂŒben [4]. Der US-Kongress hat zur TĂŒrkei noch eine weit kritischere Haltung, seine Entscheidung steht noch aus [5].

Schwedens Premier sieht eigene Erfolgsgeschichte in Gefahr

Kristerssons Strategie ist es derweil, gegenĂŒber Erdogan besonders verstĂ€ndnisvoll und entgegenkommend aufzutreten. Der Chef der wirtschaftsliberalen Partei "Die Moderaten", der seit Oktober mit einer bĂŒrgerlichen Minderheitsregierung in Schweden wirkt, und gerne nach außen den drahtigen Manager gibt, will unbedingt den Nato-Beitritt vorantreiben und zu seiner Erfolgsgeschichte machen. In der Aktion mit der Erdogan-Puppe sieht er eine "Sabotage" des Beitritts und eine "GefĂ€hrdung der Nationalen Sicherheit" [6].

Die Differenzen mit der TĂŒrkei will er weglĂ€cheln. Schweden befinde sich "in einer guten Position" bezĂŒglich der Verhandlungen, erklĂ€rte Kristersson am Dienstag in Straßburg. Die neuen Forderungen Erdogans wĂŒrden ĂŒberprĂŒft. In den Medien Schwedens regt sich nun immer mehr Widerstand gegen diese Linie, aber auch Jimmie Akesson, der Chef der rechten Schwedendemokraten, echauffiert sich. Erdogan bezeichnet er als "islamistischen Diktator". Und auch zu Akesson hat Kristersson ein AbhĂ€ngigkeitsverhĂ€ltnis – die Rechten tolerieren die bĂŒrgerliche Minderheitsregierung im Parlament und mischen bei Regierungsentscheidungen mit.

In einer Sache zeiht Kristersson jedoch eine Grenze – Personen mit schwedischer Staatsangehörigkeit könnten nicht ausgeliefert werden. Auch will Schweden die Kriminalisierung kurdischer beziehungsweise prokurdischer Organisationen nicht eins zu eins ĂŒbernehmen.

Die TĂŒrkei sieht die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die "Demokratischen KrĂ€fte Syriens" (DFS) sowie die GĂŒlen-Bewegung als terroristisch an, in der EU wird jedoch allein die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) so eingestuft.

Schweden wie Finnland sind vielen Forderungen der TĂŒrkei beim Nato-Gipfel Ende Juni im Madrid entgegengekommen, aber bis auf Ausnahmen nicht den Auslieferungsgesuchen, deren Anzahl stĂ€ndig schwankt.

Stockholm versucht auch mittels einem "Terrorgesetz", das derzeit ausgearbeitet wird, den Beitritt wahrzumachen. Der schwedische Außenminister versprach bereits in der TĂŒrkei, dass das öffentliche Zeigen der PKK-Flagge in Schweden unter Strafe gestellt werde. Kritiker verweisen darauf, dass Schweden beginnt, sein Rechtssystem einem anderen Staat anzupassen [7].

Das skandinavische Land hat dank seiner bisher liberalen Asylpolitik etwa 100 000 kurdischstÀmmige Bewohner, die durch die Forderungen aus Ankara und das Auftreten Kristerssons beunruhigt sind.

Möglicher Strategiewechsel, wenn Finnlands Regierung abgelöst wird

Finnland agiert bislang gelassener. Außenminister Pekka Haavisto verwies vor allem darauf, dass die TĂŒrkei Finnland noch keine Auslieferungsliste geschickt habe. Ankara hat Helsinki bereits mehrfach signalisiert, das eigentliche Problem liege in Schweden. Bislang haben sich die skandinavischen LĂ€nder mehrfach gegenseitig versichert, den Beitrittsprozess gemeinsam zu durchlaufen.

Doch es steht eine VerÀnderung an. Die Mitte-Links-Koalition unter der Sozialdemokratin Sanna Marin können Anfang April Wahlen durch eine rechts-konservative Koalition abgelöst werden. Vor allem bei den "Basisfinnen" ist man nicht gewillt, weiterhin auf Schweden zu warten.


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https://www.heise.de/-7466764

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.reuters.com/world/sweden-finland-must-send-up-130-terrorists-turkey-nato-bid-2023-01-16/
[2] https://twitter.com/realrojkom/status/1613219275946196994/photo/1
[3] https://www.rojavakommitteerna.com/om-kommitteerna/
[4] https://www.state.gov/secretary-blinkens-call-with-finnish-foreign-minister-haavisto/
[5] https://www.reuters.com/world/us/turkeys-foreign-minister-says-he-expects-us-approve-f-16-jet-sale-2023-01-18/
[6] https://omni.se/kristersson-dockan-ar-ett-sabotage-mot-natoansokan/a/xgO9xV
[7] https://www.dn.se/sverige/kritik-mot-nya-terrorlagen-risk-att-relationen-till-annan-stat-paverkar/