Zum Tod von Michail Gorbatschow: Für eine Renaissance des Neuen Denkens
- Zum Tod von Michail Gorbatschow: Für eine Renaissance des Neuen Denkens
- Friedensbewegung im Westen – Gorbatschow im Osten
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Der letzte Staatspräsident der Sowjetunion ist gestorben. Das geistige Erbe von Gorbatschow aber lebt weiter. Ein friedensbewegter Nachruf.
Seit dem Atombombeneinsatz in Hiroshima ist die Menschheit in Gänze tötbar. Das aus dieser Erkenntnis folgende Neue Denken rückte daher das Überleben der Menschheit ins Zentrum des politischen Handelns. Mit Michail Gorbatschow erreichte es zeitweise die Höhen der Weltpolitik. Heute ist eine Renaissance notwendiger denn je.
Die entfesselte Kraft des Atoms hat alles verändert – nur nicht unsere Art zu denken, und so treiben wir auf eine Katastrophe ohnegleichen zu. Eine neue Art von Denken ist notwendig, wenn die Menschheit weiterleben will.
Dies schrieb am 24. Mai 1946, also ein Dreivierteljahr nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki, kein Geringerer als Albert Einstein, der seinerseits an der "entfesselten Kraft des Atoms" – vorsichtig gesprochen – nicht ganz unschuldig war.
Es sollte noch fast ein Jahrzehnt dauern, bis namhafte Intellektuelle begannen, die Forderung Einsteins einzulösen, nämlich die Folgen der Erfindung der Atombombe für die Menschheit, ja für den gesamten Planeten konsequent zu durchdenken und präzise auf den Begriff zu bringen. Einer der ersten war der Philosoph Günther Anders, der in den Fünfzigerjahren den unerhörten Umstand der Möglichkeit einer menschengemachten Apokalypse auf klassische Formulierungen brachte:
Hiroshima als Weltzustand. Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues Zeitalter begonnen. Das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze in ein Hiroshima verwandeln können. Seit diesem Tage sind wir auf negative Weise allmächtig geworden. Aber da wir in jedem Augenblick zugleich ausgelöscht werden können, bedeutet das zugleich: Seit diesem Tage sind wir total ohnmächtig. Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn sein Charakteristikum, die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung, kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst.
Anders unterschied drei Epochen der Menschheitsgeschichte: Bis zur Entwicklung der Vernichtungsanlagen der Nazis hatte der klassische Satz "Alle Menschen sind sterblich" gegolten. Dieser Satz war durch die Tötungsmaschinerien in den Vernichtungslagern zur zynischen Formel "Alle Menschen sind tötbar" gesteigert worden. Mit dem Einsatz der Atombombe in Hiroshima und Nagasaki war selbst dieser boshafte Satz bereits antiquiert. Die finale Klimax lautet seitdem und für alle kommenden Zeiten: "Die Menschheit als ganze ist tötbar."
Was alle treffen kann, betrifft uns alle
Seit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima, steht also nichts weniger als das Überleben der Menschheit selbst auf dem Spiel, die sich durch dieses Epochenereignis als Menschheit überhaupt erst konstituiert hat. Günther Anders:
Denn eines hat sie erreicht, die Bombe: ein Kampf der Menschheit ist es nun. Was Religionen und Philosophien, was Imperien und Revolutionen nicht zustandegebracht haben: uns wirklich zu einer Menschheit zu machen – ihr ist es geglückt. Was alle treffen kann, das betrifft uns alle. Das stürzende Dach wird unser Dach. Als zum Tode Verurteilte sind wir nun wir. Zum ersten Male wirklich.
Die Konsequenz: Da radioaktive Wolken sich um Militärbündnisse, Machtblöcke und Landesgrenzen einen Dreck scheren und da die heutigen genetischen Mutationen alle kommenden Generationen mitaffizieren und die Vernichtung der Menschheit heute sogar sämtliche ungeborenen Generationen der Zukunft mitvernichten würde, gibt es nur noch "Nächste": im Raum und in der Zeit. Erstmals in der Geschichte der Menschheit gibt es tatsächlich ein alle Klassen-, alle Religions- und andere Gegensätze überwölbendes Menschheitsinteresse: das Weiterleben als Gattung.
Diese Erkenntnis zum entscheidenden Dreh- und Angelpunkt zu machen und daraus die notwendigen Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen, ist die Maxime des Neuen Denken.