Zwanzig Jahre nach der US-Invasion in den Irak ‒ Erinnerung an ein Menschheitsverbrechen

Seite 5: Verheerende Bilanz

Ende 2011 mussten die US-amerikanischen Truppen den Irak verlassen. Mit ihren ehrgeizigen Plänen war die Bush-Administration weitgehend gescheitert, die Ausschaltung des Landes als Regionalmacht hatte sie jedoch durch seine Verwüstung und Wandlung in einen "failed state" für lange Zeit gesichert. Die von den Besatzern geschaffenen Konflikte wirken fort und ihre repressive, diskriminierende Politik wurde unter den folgenden irakischen Regierungen fortgesetzt.

Die Bilanz von acht Jahren Krieg und Besatzung war verheerend: mehr als eine Million Tote, über vier Millionen Vertriebene und fast fünf Millionen Waisen. Sieben Millionen Iraker, ein Viertel der Bevölkerung, wurden in die absolute Armut gestürzt, zwei Millionen Kinder waren 2011 unterernährt, dreieinhalb Millionen Menschen ohne nennenswerte Gesundheitsversorgung.

Auch nach acht Jahren war von "Wiederaufbau" nicht viel zu sehen. Über 200 Milliarden US-Dollar sind dafür in die Taschen westlicher Konzerne geflossen, doch die Versorgung blieb katastrophal, Gesundheits- und Bildungswesen lagen noch am Boden.

Daran änderte sich auch in den folgenden Jahren wenig. Das Versagen der korrupten und unfähigen Regierungen und Behörden, Basisdienstleistungen wiederherzustellen, insbesondere eine halbwegs ausreichende Versorgung mit Strom und Wasser, führte immer wieder zu Massenprotesten, die teilweise in lokale Aufstände übergingen.

Der Krieg gegen den "Islamischen Staat"

Die elenden sozialen Verhältnisse, die Zerrissenheit der irakischen Gesellschaft, deren Jugend nur ein Leben unter Krieg, Embargo und Besatzung kannte, die Diskriminierung und Repression gegenüber der sunnitischen Bevölkerung durch das schiitisch dominierte Regime, ebnete 2014 den Weg für die Ausbreitung des "Islamischen Staates" (ISIL oder arabisch despektierlich: Daesh).

Die gesellschaftlichen Ursachen hinter seinem durchschlagenden Erfolg interessierten die USA und ihre NATO-Verbündeten nicht, die erneut begannen, einen rücksichtslosen Krieg gegen irakische Städte zu führen, in denen er sich festgesetzt hatte. Dieser Feldzug richtete sich nicht nur gegen die Terrororganisation, sondern zwangsläufig auch gegen die dort lebende Bevölkerung, die sie teilweise anfänglich als Unterstützer gegen die Gewalt schiitischer Milizen und Regierungstruppen willkommen geheißen hatte und nun zwischen den Stühlen saß.

Zu keinem Zeitpunkt wurde eine Alternative zu einem brutalen Krieg auch nur überlegt. An Vorschlägen, wie man die Dschihadisten über eine Verständigung mit sunnitischen Stadträten, Stämmen und Organisationen über berechtigte Forderungen und Garantien isolieren könnte, mangelte es nicht.

Stattdessen legten die US-geführte Allianz im Zuge der Rückeroberung der vom Daesh kontrollierten Gebiete eine Stadt nach der anderen in Trümmer, am Ende, nach neunmonatigem Beschuss auch die historische Altstadt von Mossul.

Der damalige US-Präsident Trump hatte das "Einkreisen und Auslöschen" der Dschihadisten als Taktik angeordnet. Um die Rückkehr ausländischer Mitglieder der Terrortruppe in ihre Herkunftsländer zu verhindern, sollten alle nach Möglichkeit vor Ort getötet werden. Im Bemühen, keinen feindlichen Kämpfer Mossul lebend verlassen zu lassen, wurde der von den Angreifern hermetisch abgeriegelte westliche Teil der Metropole, in dem sich diese unter mehr als 700.000 verbliebenen Anwohnern verschanzt hatten, zum großen Teil zerstört.

Die neunmonatige Offensive der beteiligten NATO-Streitkräfte aus der Luft und hunderttausend irakischen Soldaten und Milizionären am Boden gegen rund 8.000 Dschihadisten gilt als einer der verheerendsten urbanen Kämpfe in der modernen Geschichte.

Nach einer repräsentativen Studie über Todesfälle und -ursachen während des Angriffs, die in der renommierten Fachzeitschrift PLOS Medicine veröffentlicht wurde, könnten dabei rund 90.000 Menschen getötet worden sein, 33.000 davon Frauen und Mädchen, die meisten durch Luftangriffe.

Da zu keinem Zeitpunkt Anstrengungen unternommen worden waren, einen derart apokalyptischen Endkampf zu vermeiden, handelt es sich bei dieser Offensive zweifelsohne, wie auch Amnesty International in ihrem Bericht "Um jeden Preis: Die zivile Katastrophe in West-Mossul", feststellte, um ein schweres Kriegsverbrechen, um einen fürchterlichen Massenmord.

Die westliche Öffentlichkeit sah auch über dieses Menschheitsverbrechen einfach hinweg, die PLOS-Studie wurde in kaum einem westlichen Medium erwähnt.

Eine Studie der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW), schätzte die gesamte Zahl der direkten und indirekten Opfer von Krieg und Besatzung im Irak von 2003 bis 2011 auf Basis der verfügbaren Untersuchungen auf über eine Million.

Für eine ähnlich gründliche Analyse der Opfer in der Zeit danach, fehlen die Daten. Die Zahl der direkt durch Kriegshandlungen Getöteten hat sich den Untersuchungen des "Costs of War"-Projektes an der Boston University bis 2021 zufolge noch einmal fast verdoppelt.

Um die gesamten humanitären Kosten des Krieges und seiner Folgen zu erfassen, müssen zudem noch die Auswirkungen auf die Region berücksichtigt werden, insbesondere auf Syrien. Schließlich wurde im Irak die Basis für die Ausbreitung des "Islamischen Staates" und des Al-Qaida-Ablegers "Al Nusra Front" im Nachbarland geschaffen.

Und nicht vergessen werden darf das Schicksal der Millionen Menschen, die vor Krieg, Zerstörung, sektiererischer Gewalt, Repression und drastisch verschlechterten Lebensverhältnissen fliehen mussten.

Mit den Bomben auf Bagdad am 20. März 2003 leiteten die USA offensichtlich das bisher schwerste und folgenreichste Verbrechen dieses Jahrhunderts ein. Ein Menschheitsverbrechen, für das noch niemand zur Rechenschaft gezogen wurde und das man im Westen zu verschleiern, zu vergessen und zu begraben sucht.