Antisemitismus-Debatte: Wikipedia verbannt Anti-Defamation-League als "Propaganda"

 Jonathan Greenblatt, Geschäftsführer der ADL, bei einer Rede

Jonathan Greenblatt, Geschäftsführer der ADL. Bild: ADL Nation Leadership Summit, Maryland GovPics / CC BY 2.0 deed

Englischsprachige Community der Online-Enzyklopädie wertet NGO als "generell unzuverlässige Quelle". Hinter der Debatte: ein jahrzehntealter Streit um Definitionshoheit.

In den letzten Wochen haben Demonstranten an den Universitäten in Europa und den USA scharfe Kritik an dem Vorgehen der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu geübt.

Bei jenen Protesten vermengen sich allerdings nicht selten emanzipatorische Slogans ("Free Palestine") mit territorialen Herrschaftsansprüchen oder gar einer Delegitimierung des Existenzrechts Israels ("From the river to the sea, Palestine will be free").

NGO als "unzuverlässige Quelle" bewertet

Im Kreuzfeuer des Diskurses vermengt sich aber auch eine bekannte Gleichführung von Anti-Zionismus und Antisemitismus, die problematisch erscheint – nicht zuletzt aufgrund des aggressiven Vorgehens der israelischen Westbank-Siedler, die sich der Rückendeckung durch einen von familiärer Seite her durchaus hegemoniell inspirierten Regierungsführer sicher wähnen können.

Nun hat die englischsprachige Community der "freien Online-Enzyklopädie" Wikipedia die Anti-Defamation-League (ADL), eine von der in Logen organisierten B’nai B’rith (hebr. Söhne des Bundes) ins Leben gerufenen NGO, als "generell unzuverlässige" Quelle in Bezug auf Informationen über den israelisch-palästinensischen Konflikt gekennzeichnet.

Die Entscheidung dürfte erheblichen Einfluss auf besagten Diskurs nehmen, den die ADL zuletzt insbesondere in Bezug auf die College-Proteste in den USA entscheidend mitgeprägt hatte.

ADL: "Kampagne zur Delegitimierung"

Wie die liberale israelische Zeitung Ha'aretz berichtet, fiel die Wikipedia-Entscheidung nach einer intensiven Debatte unter den freiwilligen Editoren der Online-Enzyklopädie.

Die ADL, eine der bekanntesten jüdischen Interessenvertreter in den USA, wird damit in eine Reihe von Quellen wie dem National Inquirer und Newsmax gestellt, denen Propaganda oder Fehlinformation vorgeworfen werden.

Diskussion über Seriösität und Glaubwürdigkeit

Begonnen hatte Diskussion über die Zuverlässigkeit der ADL bereits im April. Ein Großteil der Wikipedia-Editoren stimmte dafür, die ADL auch in Bezug auf Antisemitismus als unzuverlässig zu erklären. Sie argumentierten, dass die Organisation zunehmend als pro-israelisch wahrgenommen werde und legitime Kritik an Israel als antisemitisch einstufe.

Ein Editor mit dem Namen Iskandar323 formulierte das laut Ha'aretz folgendermaßen: "Die ADL scheint sich nicht mehr an eine seriöse, allgemein anerkannte und intellektuell überzeugende Definition von Antisemitismus zu halten."

Die ADL reagierte auf die Entscheidung mit einer schriftlichen Erklärung, in der sie die Entscheidung als Ergebnis einer "Kampagne zur Delegitimierung der ADL" bezeichnete.

Die Vorwürfe der ADL

Die Organisation betonte, dass ihre Gegner "punktuelle Widerlegungen, basierend auf faktischen Zitaten, zu jeder Behauptung" geliefert hätten. "Anscheinend zählen Fakten nicht mehr", verlieh die Organisation ihrer Resignation Ausdruck – und konstatierte:

"Das ist eine traurige Entwicklung für die Forschung und Bildung, aber die ADL wird sich in unserem jahrhundertealten Kampf gegen Antisemitismus und alle Formen von Hass nicht entmutigen lassen."

"Verlust des Vertrauenssiegels"

James Loeffler, Professor für jüdische Geschichte an der Johns Hopkins University, betont indes, dass die Glaubwürdigkeit der ADL durch diese Entscheidung erheblich beeinträchtigt werde. "Der Verlust dieses Vertrauenssiegels wird die Fähigkeit der ADL beeinträchtigen, ein digitales Publikum zu erreichen und dem Online-Hass entgegenzuwirken", so Loeffler.

Er warnt, dass ohne eine vertrauenswürdige Autorität die Gefahr der weiteren Politisierung und Polarisierung weiter voranschreite, was sich besonders zum Nachteil ohnehin bereits gefährdeter jüdischer Gemeinschaften auswirke.

Streit um Antisemitismus- und Anti-Zionismus-Definition

Zentraler Streitpunkt in der monatelangen Debatte in der englischsprachigen Community der Wikipedia war die von der ADL unterstützte ("Arbeits"-)Definition von Antisemitismus, die ihrerseits von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) stammt.

Diese Definition wurde von vielen Universitäten, Unternehmen und Regierungen übernommen; Kritiker monieren jedoch, dass sie pro-palästinensische Meinungen unterdrücken könnte.

Im deutschen Wortlaut liest sich besagte Definition wie folgt:

Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.

International Holocaust Remembrance Alliance

Kritisiert wurde allerdings weniger diese eng ethnisch-religiöse Definition als deren Ausweitung auf die Vielzahl der globalen Proteste und deren oftmals unmissverständlich anti-zionistische Rhetorik.

So erklärte die ADL im Januar, dass antisemitische Vorfälle nach Beginn des Gaza-Krieges um 360 Prozent zugenommen hätten und im vergangenen Jahr 140 Prozent mehr Vorfälle im Vergleich zu 2022 zu verzeichnen gewesen seien.

Im Zentrum der Kritik: Jonathan Greenblatt

Kritiker machen den für diesen sprunghaften Anstieg den Geschäftsführer der Anti-Defamation League, Jonathan Greenblatt, verantwortlich, der die Organisation in den letzten Jahren auf antizionistischen Aktivismus und andere Kritik an Israel ausgerichtet habe.

Greenblatt erklärte erstmals in einer Rede im Jahr 2022, dass er den Antizionismus für ebenso antisemitisch und gefährlich gegenüber Juden hält wie weißen Rassismus ("white supremacy").

Die ADL stand zuletzt für eine Kampagne in der Kritik, im Zuge welcher sie Zeugnisse ("report cards") zur Bewertung von Antisemitismus an US-Universitäten verteilte. Trotz scharfer Kritik von jüdischen Studenten und Campus-Organisationen hielt die ADL an diesem umstrittenen Vorgehen fest.

Shira Goodman von der ADL verteidigt das Bewertungssystem als "leicht verständlich", während die Gegenseite eine "massive Vereinfachung" komplexer Realitäten an den Universitäten beklagte.

Doppelrolle zwischen Zivilgesellschaft und Repression

Die ADL blickt auf eine lange Geschichte der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung und politische Prozesse in den USA zurück.

Laut der jüdischen Sozialwissenschaftlerin Emmaia Gelman, Gründungsdirektorin des Institute for the Critical Study of Zionism, zeigte die ADL mit Aktionen gegen die Abgeordnete Ilhan Omar und die Unterstützung eines neuen Anti-Semitism Awareness Act, dass sie Kritik an Israel als antisemitisch zu brandmarken und damit öffentliche Debatten zu kontrollieren trachtet.

Gelman zufolge habe die ADL diese Taktik auch in der Vergangenheit angewendet, um schwarze Führungspersönlichkeiten und progressive Bewegungen zu diskreditieren.

So habe die ADL in den 1980er-Jahren eine Kampagne gegen arabisch-amerikanische Organisationen geführt, die sie als "pro-arabische Sympathisanten" und Antisemiten brandmarkte. Jene Aktionen hätten ihrerseits zu politischer Marginalisierung und Gewalt gegen arabische Amerikaner geführt, so Gelman.

Die Doppelrolle zwischen staatlichem Berater und zivilgesellschaftlicher Organisation ermögliche es der ADL, sowohl als Verteidigerin der Bürgerrechte als auch als Unterstützerin repressiver Maßnahmen aufzutreten.

Narrativ-Kampf und die "freie" Enzyklopädie

Wie Ha‘aretz weiter berichtet, hat Wikipedia in der Vergangenheit bereits andere jüdische Quellen auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft. 2021 wurde die Jewish Virtual Library aufgrund von Genauigkeits- und Pro-Israel-Bedenken für die meisten Verwendungen gesperrt. Auch NGO Monitor, eine pro-israelische Advocacy-Gruppe, wurde in diesem Jahr gesperrt.

Über den jahrzehntealten Narrativ-Kampf in Nahost, das israelische Propaganda-Konzept der "Hasbara" und die nicht minder unnachgiebigen Erzählungen auf der arabisch-islamischen Seite hat Telepolis im vergangenen Dezember bereits ausführlich berichtet.

Ebenso über die vermeintliche Objektivität der Wikipedia und die mitunter schwer nachvollziehbaren Einstufungen vertrauenswürdiger Quellen, von denen auch Telepolis selbst zuweilen betroffen ist.

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Redaktionelle Anmerkung: Wir haben Wikipedia im Untertitel wie auch im Text mit "englischsprachig" ergänzt, da es sich im genannten Fall um die englischsprachige Community der Online-Enzyklopädie handelt.

Das macht den Fall aus Sicht des Autors nicht weniger brisant, gerade vor dem Hintergrund des Renommees, das die ADL in den USA genießt. Die englischsprachige Wikipedia erreicht in ihrer originären Sprachversion deutlich mehr Menschen als ihre deutsche Adaption.