... bin ich froh, dass ich kein Dicker bin
Beim Thema Übergewicht weicht die Empathie bloßer Verachtung - Und das Übergewicht als Symptom wird gar nicht erst bedacht
Beim Thema Übergewicht bieten Diskussionsforen einen (ungefilterten) Blick auf Menschen, die sich geradezu in der Verachtung gegenüber anderen suhlen und plötzlich alte preußische Tugenden wie Maßhalten und (Selbst)disziplin feiern. Selbst Menschen, die sich bei anderen Themen für Empathie und Ursachenforschung aussprechen, sind beim Thema Übergewicht gerne einmal jene, die meinen, dass die "Dicken doch einfach weniger fressen sollen". Dicke, das sind die Fast Food fressenden Loser der Gesellschaft, zu dumm und zu träge um sich zu bewegen oder gesunde Ernährung zu sich zu nehmen. Wer in ein Fast Food Restaurant geht, der wird schnell feststellen, dass jene, die dort sitzen, essen, jedoch schlank sind, sich dieser Verachtung gerne anschließen. Ungesund essen und träge sein? Aber gerne doch, solange es sich nicht in Übergewicht manifestiert.
Auch der rein ökonomischen Betrachtung des Menschen wird gefrönt, wenn aufgerechnet wird, wie teuer denn die Behandlungskosten für die Übergewichtigen sind, welche Krankheiten sie vermehrt heimsuchen und wie dies die Krankenversicherungen und damit die Sozialsysteme belastet. Der Mensch als Kostenfaktor allein. Eine zynische und menschenverachtende Sicht auf den Einzelnen, der insofern seines Menschlichen beraubt wird.
Interessant ist, dass Übergewicht nur selten als Symptom angesehen, sondern (anders als Untergewicht oder Bulimie) als allein als Ursache betrachtet wird. Während bei Bulimie schon seit langem anerkannt ist, dass hier lediglich das Gewicht das Resultat anderer Probleme ist, wird Übergewicht noch immer meist als alleinige Folge von mangelnder Disziplin angesehen.
Der Körper als einziger kontrollfreier Raum
Dabei sind die Gründe für Übergewicht zahlreich und wie auch bei der Bulimie ist die Kontrolle über den Körper eine davon. Bulimiekranke haben oft das Gefühl, dass ihr Körper das Einzige ist, was sie unter Kontrolle haben, während bei Übergewichtigen oft das Gefühl des kontrollierten Lebens herrscht, der Körper wird so zum einzigen kontrollfreien Raum. Essen ist insofern Rebellion gegen Fremdbestimmung, Zwänge und Verpflichtungen.
Dabei ist für viele Übergewichtige ihr Körpergewicht ab einem gewissen Punkt durchaus auch belastend, sowohl körperlich als auch psychisch. Nicht nur weil die Gesellschaft die Übergewichtigen gerne mit Verachtung und Spott bedenkt, sondern auch weil das gesamte Leben letztendlich ja eng mit dem Körpergewicht verknüpft ist.
Die Lebensqualität sinkt ab einem gewissen Gewicht, da vieles nicht mehr möglich ist. Dies reicht von einem schnellen Lauf (um z.B. noch den Zug zu erreichen) über das Tragen von etwas mehr Einkäufen bis hin zur Körperhygiene. Hinzu kommt ein erhöhtes Risiko für Hautreizungen durch aneinanderreibende Körperpartien - von sonstigen erhöhten Krankheitsrisiken ganz zu schweigen.
Vorzeigeübergewichtige wie Beth Ditto von "The Gossip" mögen sich ja mit ihrer Körperfülle wohl fühlen - nichtsdestotrotz bleiben gewisse Nachteile. Dabei geht es nicht darum, aufzurechnen, inwiefern nun der Übergewichtige Kosten verursacht, es geht vielmehr darum, zu verstehen, dass die sinkende Lebensqualität durchaus ein Problem für den Betroffenen darstellt, er jedoch Hilfe fernab des simplen "iss weniger" benötigt.
Mobbing und Missbrauch
Nur selten wird auch erwähnt, dass Übergewicht oft Anzeichen für Mobbing oder erlebte Gewalt ist. Gerade auch Opfer sexueller Gewalt sind öfter suchtkrank oder übergewichtig. Übergewicht kann hier auch eine oft unbewusste Methode sein um sich vor sexueller Gewalt zu schützen - es wird gehofft, dass die körperliche mangelnde Attraktivität den Täter dazu bringt, sich ein anderes Opfer zu suchen.
Der Übergewichtige landet auf diese Weise in einem Teufelskreis - einerseits soll ihn die fehlende Attraktivität schützen, andererseits steigt so die Verachtung durch das Umfeld, die Anzahl möglicher Freunde und Vertrauenspersonen sinkt, was oft zu Essen als Liebesersatz führt. Die Sehnsucht nach Zuneigung, Liebe und menschlicher Wärme wird durch das Essen kompensiert, der Körper nimmt immer mehr zu, während die Hoffnung gleichermaßen abnimmt, dass diese Situation sich ändern könnte.
Unabhängig von der Frage, ab wann jemand als übergewichtig gelten und ob die derzeitige Schlankheit um jeden Preis wirklich sinnvoll sein sollte, wäre es wichtig, die Gründe für ein bestimmtes Essverhalten zu ergründen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn die Betroffenen sich auch Hilfe suchen können, was aber durch die offen zur Schau getragene Verachtung vieler öfter nicht mehr der Fall ist. Der Übergewichtige zieht sich eher schamvoll in sich selbst zurück und leidet weiter still vor sich hin, während der Schlanke sich selbst erhöht indem er davon erzählt, wie sehr er doch das Leben als Schlanker genießen kann.
Diese Selbsterhöhung findet sich nicht nur beim Thema Übergewicht, sondern stets dann, wenn es darum geht, Menschen, die Hilfe benötigen würden, diese zu versagen und stattdessen Betroffene als undiszipliniert, faul, dumm zu bezeichnen. Hier geht es dann nicht mehr um Ursachenforschung oder gar Hilfe, hier geht es nur noch darum, das eigene Ego zu streicheln. Das Übergewicht wird letztendlich nur als ästhetisches und Kosten verursachendes Problem angesehen, nicht jedoch als Problem, das gelöst werden sollte, um jemandem zu helfen.
Ähnlich wie beim Thema Depressionen ist zu befürchten, dass es noch lange Zeit brauchen wird, bis gerade auch Mitgefühl und der Wunsch zu helfen bei den Diskussionen im Vordergrund stehen werden. Bis dahin werden viele mit jenen Problemen, die bei ihnen erst zu einer Übergewichtsproblematik führ(t)en, alleingelassen. Und jene, die dann rein kosmetisch das Problem angehen, suchen sich neue Strategien, um ihre psychischen Probleme zu kompensieren - vom Übergewicht zur Bulimie, Drogensucht oder Selbstverletzung etc. ist es da oft nur ein kurzer Weg.
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