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  • Irwisch

mehr als 1000 Beiträge seit 22.03.2005

Depression ist keine Krankheit

Psychische Störungen stellen keine Fehlfunktion des Gehirns dar!

Man ist schon lange sehr schnell mit dem Begriff krank zur Hand, wenn es darum geht, unerwünschtes oder auch nur abweichendes menschliches Verhalten zu beurteilen. Nicht nur die Pharmaindustrie, die ständig neue Krankheiten erfindet, um auf diese Weise ihre Profite zu maximieren, sondern auch der medial durchgebriefte und überangepaßte Wohlstandsbürger neigt gewöhnlich dazu, alles, was ihn am Verhalten seiner Mitmenschen stört, als Folge einer psychischen Störung oder gar einer Geisteskrankheit zu betrachten. So hat man ihm das beigebracht, und genauso hat er gelernt, bei jedem Unverständnis zu fragen: »Spinnst du? Bist du noch ganz dicht? Hast du sie noch alle?«

Dabei sind sich diese größtenteils des- und uninformierten Bürger nur äußerst selten ihrer eigenen psychischen Störungen bewußt, denn wie der Begriff Störung illustriert, bezeichnet er nicht wirklich eine Fehlfunktion des Gehirns, sondern vielmehr eine subjektiv als störend empfundene Verhaltensweise. Dabei wird häufig die Störung des eigenen neurotischen Ausagierens (z.B. die automatische Verdrängung unerwünschter Wahrnehmung oder die zunehmende Tendenz zur Überanpassung = Fremdbestimmung) – wie man sie heute bei fast allen Menschen beobachten kann, ganz besonders, wenn sie von einem Menschen ausgeht, den man sowieso nicht mag – als unangenehm und unangemessen empfunden und somit als Resultat einer geistigen Funktionsstörung beim Störer bewertet.

Erich Fromm hatte bereits 1977 – sehr verwirrend für all jene, die sich gewöhnlich (aus Gewohnheit) für »normal« und »gesund« halten – verkündet:

»Die Normalsten sind die Kränkesten, und die Kranken sind die Gesündesten. Das klingt geistreich oder vielleicht zugespitzt, aber es ist mir ganz ernst damit und nicht eine witzige Formel. Der Mensch, der krank ist, der zeigt, daß bei ihm gewisse menschliche Dinge noch nicht so unterdrückt sind, [so] daß sie in Konflikt kommen mit den Mustern der Kultur und daß sie durch diese Friktion Symptome erzeugen. Das Symptom ist ja wie der Schmerz nur ein Anzeichen, daß etwas nicht stimmt. Glücklich der, der ein Symptom hat! Wie glücklich der, der einen Schmerz hat, wenn ihm etwas fehlt! Wir wissen ja: Wenn der Mensch keine Schmerzen empfinden würde, wäre er in einer sehr gefährlichen Lage. Aber sehr viele Menschen – das heißt, die Normalen – sind so angepaßt; die haben alles, was ihr Eigen ist, verlassen. Die sind so entfremdet, so instrumenten-, so roboterhaft geworden, daß sie schon gar keinen Konflikt mehr empfinden. Das heißt: Ihr wirkliches Gefühl, ihre Liebe, ihr Haß, das ist schon so verdrängt oder sogar schon so verkümmert, daß sie das Bild einer chronischen leichten Schizophrenie bieten. ...

Daß der Mensch, wie das Marx auch gesagt hat, seine Geschichte macht. Er sagte einmal: Die Geschichte tut gar nichts. Sie kämpft keine Kämpfe und sie gewinnt keine Schlachten. Es ist der Mensch, der alles tut. Dieser Mensch aber wird beeinflußt von seiner Umgebung, und zwar nicht nur im Sinne der französischen Aufklärungsphilosophie der Umgebung oberflächlich gesehen, sondern der Struktur der Gesellschaft, in der er lebt, die eine Tendenz hat, nämlich seine psychischen Energien so zu gestalten, daß der Mensch das gerne tut, was er tun muß, damit diese Gesellschaft in ihrer speziellen Form existieren kann.«

Das Video, aus dem ich diese Zeilen entnommen habe:
https://www.youtube.com/watch?v=U7cyeqgNgH8

Gestört sind aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht diejenigen, die durch ihr weniger angepaßtes Verhalten auffallen, sondern vielmehr all jene, die sich durch dieses Verhalten gestört fühlen in ihrer persönlichen Situation und ihren persönlichen gesellschaftlichen Arrangements. Gestört fühlen sich jene, die sich aus Angst vor materiellen und finanziellen Konsequenzen immer weiter an unmenschliche Situationen und Verhältnisse anpassen und dabei nicht bemerken, wie ihnen dabei ihre eigene Menschlichkeit nach und nach abhanden kommt.

Die menschliche Fähigkeit, auf Streß und unerträgliche gesellschaftliche Zustände mit psychischen Symptomen zu reagieren, stellt eine uralte Überlebenstechnik dar, die jedoch von den heutigen Menschen nicht mehr als solche erkannt wird. Der modern(d)e Zivilisationsmensch wähnt sich in seiner natürlichen Umgebung, wenn er am Fließband roboterhaft immer dieselben Bewegungen ausführt oder Tag für Tag dieselben Dinge am Computer erledigt. Dabei handelt es sich natürlich nicht um natürliche Umgebungen, sondern um menschengemachte; doch der heutige Mensch kennt nichts anderes mehr. Für den Streßabbau hat er z.B. den Konsum, der ihn von seiner inneren Anspannung ablenkt, bevor das Hamsterrad am nächsten Tag oder nach dem Wochenende wieder zu laufen beginnt.

In Wirklichkeit bemerken aber doch sehr viele Menschen irgendwie die Unnatürlichkeit ihres Lebens, wenngleich sie sich nicht so recht darauf einlassen wollen, sich diese ganzen Zusammenhänge auch bewußt zu machen, denn da lauert schon wieder die Gefahr der sozialen Ausgrenzung sowie die Angst vor Ungehorsam – einem unangepaßten Verhalten, das in unserer Gesellschaft unweigerlich zu finanziellem und sozialem Abstieg führt. Daher ergeben sich die meisten in ihr Schicksal und stumpfen immer mehr ab, arrangieren sich soweit mit der Gesellschaft, daß sie bald tatsächlich keinen psychischen Schmerz mehr verspüren – bis sie dann irgendwann tatsächlich erkranken, Rückenprobleme bekommen, ausgebrannt sind, unter Schlafstörungen und allgemeinen Unlustgefühlen leiden und sich immer häufiger bedrückt fühlen, also »deprimiert« sind.

Ich kann nur wirklich jedem nahelegen, sich mit diesen Zusammenhängen zu befassen. Ein guter Einstieg dafür findet sich bei Erich Fromm in seinem Buch Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Dort schreibt Fromm sehr ausführlich und anschaulich darüber, wie »die große Verheißung« des unbegrenzten Fortschritts mit ihrer Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluß und somit »auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit« die »Hoffnung und die Zuversicht von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt«. Er beschreibt, wie eine Lebensweise des Seins von einer Lebensweise des Habens unterdrückt und fast vollständig abgelöst wurde und was diese Haben-müssen-Einstellung mit uns Menschen gemacht hat, wozu wir geworden sind. Er gibt Antworten darauf, warum sich diese Verheißung nicht erfüllt hat, ja warum sie sich erst gar nicht erfüllen konnte.

Wir haben Egoismus und Habgier durch die Belohnung der Egoistischsten und Habgierigsten zu Tugenden erhoben. Inzwischen befinden sich auf nahezu allen Spitzenpositionen in Wirtschaft und Politik ausgemachte Narzißten und Soziopathen, die uns in den Untergang führen.

Der Depressionsbegriff

Unter dem Begriff der Depression – ein Fremdwort, das aus dem lateinischen deprimere gebildet wurde und das laut Wikipedia soviel wie niederdrücken bedeutet – bezeichnet heute in der Hauptsache eine angebliche psychische Störung. Als typische Symptome werden gedrückte Stimmung, negative Gedankenschleifen und ein gehemmter Antrieb aufgeführt. Dabei gingen häufig Lustempfinden, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit, Einfühlungsvermögen und das Interesse am Leben verloren. Depression wird daher weitgehend als Krankheit verstanden, obwohl die genannten Symptome zeitweise auch bei sogenannten bzw. angeblich Gesunden auftreten sollen. Von Depression spreche man jedoch erst dann, wenn die Symptome länger andauern, schwerwiegender ausgeprägt seien und deutlich die Lebenqualität sinken lassen.

Für mich als »medizinischen Laien« stellt sich nicht automatisch ein Verständnis für die Unterscheidung zwischen »krankhaften« und »gesunden« Symtomen der Depression ein. Wir leben schließlich in einer Gesellschaft, die bereits in ihrer Grundstruktur so aufgebaut ist, daß nicht wenige unter eher bedrückenden als beglückenden Verhältnissen zu leben gezwungen sind. Eine Voraussetzung zu bedrückender Lebensweise stellt die mangelhafte Versorgung mit notwendigen Gütern wie Lebensmittel und sonstigem alltäglichen Bedarf dar. Die Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland fördert somit Bedrückung einerseits durch einen äußerst repressiven Niedriglohnsektor, andererseits durch die nicht minder repressive Hartz-IV-Gesetzgebung. Angesichts eines derzeitigen Verhältnisses von offenen Stellen zu Arbeitslosen von mindestens 1:10 (seit Beginn der Corona-Kampagne eher mehr) kann – mathematisch überzeugend – gar nicht jeder eine Stelle bekommen. In Wirklichkeit liegen die Arbeitslosenzahlen natürlich viel höher, als sie von der Agentur für Arbeit bekanntgegeben werden, denn die offiziellen Zahlen werden regelrecht geschönt, um die Herkunft der Bedrückung unter den Arbeitslosen zu verschleiern.

Menschen, die ständig in bedrückenden Verhältnissen leben müssen, leiden darunter. Natürlich könnte man jetzt einfach behaupten, sie seien selber schuld, wenn sie in diesen Verhältnissen verbleiben, aber seien wir doch mal ehrlich: Wie soll sich jemand, der z.B. über 50 ist, keine nennenswerte Qualifikation vorzuweisen hat und seit Jahren arbeitslos ist, daraus befreien, wenn es nicht einmal genug Arbeitsplätze für alle gibt? Muß er sich denn nicht mit der Zeit damit abfinden, daß er nie wieder Arbeit finden wird, weil Arbeitgeber aus etlichen Gründen schon immer lieber jüngere Menschen einstellen? Jüngere sind billiger, leichter zu lenken und neigen gewöhnlich weniger zu Ausfallzeiten als Ältere. Zudem weisen jüngere Menschen in der Regel weniger Lebenserfahrung auf als ältere, so daß man die jüngeren auch leichter übers Ohr hauen kann. Mit anderen Worten: Der ältere Arbeitslose hat so gut wie gar keine Chancen mehr, ins Arbeitsleben zurückzukehren, muß aber dennoch bis zur Rente so tun, als ob es auch für ihn noch Chancen gäbe. Er muß Bewerbungen schreiben, nicht weil sie einen Sinn machen würden, sondern weil er sonst seinen Anspruch auf Unterhalt verliert, was im Grunde auf Verhungern und im Winter auf Erfrieren hinausläuft. Wenn das keine bedrückende Situation darstellt, dann gibt es bedrückende Situationen erst gar nicht.

Alle Menschen empfinden ausweglos erscheinende Situationen als bedrückend. Nun kann eine Situation auch nur ausweglos scheinen, obwohl es Auswege gäbe. Die muß man aber erst einmal kennen und zu gehen wissen. Die meisten ausweglosen Situationen sind aber tatsächlich genau das, als was sie erscheinen: Sackgassen, aus denen man bis zum Tode nicht mehr herauskommt. Man kann sich weder jünger noch gesünder machen, man kann sich höchstens selber weiterbilden und hoffen, daß das irgend jemanden interessiert. Einige wenige werden damit sicher auch Erfolg haben, doch für das Gros der älteren Arbeitslosen bestehen hier faktisch keinerlei Chancen.

Das scheint nicht nur bedrückend, das ist über alle Maßen äußerst bedrückend!

Nun schreiben zahlreiche Autoren von Ratgeber-Büchern – ich bezeichne sie gerne als Bahnhofsliteratur – darüber, positiv zu denken. Positiv denken bedeutet hier jedoch nichts anderes, als die Realität auszublenden, um so der Bedrückung über die eigene Situation ausweichen zu können. Das wird dann als die Lösung schlechthin gepriesen, umrahmt mit zahlreichen schönen und klug klingenden Worten und Sätzen. Der Zweck solcher Bücher besteht letztlich auch nicht darin, dem Leser eine wirkungsvolle Stütze zu sein, sondern vor allem in der Profitgenerierung des Verlages und des Autors.

Der Ursprung individueller Bedrückung, modern als Depression bezeichnet, liegt in der Regel also nicht nur in den betroffenen Menschen selber, sondern viel mehr in der Gesellschaft, die so aufgebaut ist, daß für gewisse Gesellschaftsschichten zwangsläufig bedrückende Situationen geschaffen werden. Unsere modernen Gesellschaften sind so modern gar nicht, wie sie zu sein scheinen, denn sie entsprechen noch immer wie vor Tausenden von Jahren einem Pyramidensystem: Unten die breite Masse, die alles erwirtschaftet und die notwendigen Arbeiten erledigt, oben die wahren Arbeitslosen, die Nutznießer. Früher wußte man wenigstens: Man ist Sklave und hat keine Rechte, und wenn man nicht spurte, warʼs das gewesen, man wurde auf der Stelle getötet. Heute wird dem Menschen vorgegaukelt, er habe Rechte, verwehrt ihm aber gewöhnlich, diese auch einzuklagen.

Die Würde des Menschen sei unantastbar, steht in unserem Grundgesetz geschrieben. Doch die Würde der Arbeitslosen und der prekär Beschäftigten wird jeden Tag mit Füßen getreten. Vor einigen Jahren hatte ein CSU-Politiker die glänzende Idee, auf ein Wahlplakat, das gegen die Grünen gerichtet war, zu schreiben:

»Die Grünen wollen: Sanktionen für Harzt IV-Schmarotzer lockern!«
https://www.die-linke.de/start/presse/detail/stimmenfang-am-rechten-rand-csu-hetzt-nach-gefluechteten-jetzt-auch-gegen-hartz-iv-betroffene/

Der Versuch eines Betroffenen, gegen dieses Plakat, das zuerst in einem Video auf YouTube erschien, zu klagen, scheiterte: Die Klage wurde mit der Begründung, der Betroffene sei ja nicht persönlich gemeint gewesen, abgewiesen. Mit einer derartigen Begründung kann man praktisch jede Klage gegen Volksverhetzung abweisen, denn genau darum handelt es sich hier: Über 10 Millionen Bundesbürger sind inzwischen auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen, mehr als die Hälfte davon gänzlich, der Rest als Aufstocker bei Jobs, die nicht genug zum Überleben einbringen. Nach diesem schändlichen Plakat mitsamt der noch schändlicheren Klageabweisung sind diese Millionen Bundesbürger Schmarotzer, wie man z.B.auch Insekten bezeichnet, die vom Menschen und seinen Produkten leben, und die man getrost zerquetschen, ausmerzen, tilgen darf.

Es gibt in der Tat zahlreiche Umstände, die nicht nur Betroffenheit auslösen, sondern bei den direkt Betroffenen verstärkt auch Bedrückung. Es ist jedoch verpönt, bedrückt zu sein, denn das könnte wiederum Betroffenheit auslösen und am Ende sogar eine Bewegung entstehen lassen, die sich gegen diese bedrückenden Umstände zur Wehr setzt. Die Bedrückten selber unterliegen jedoch häufig der erlernten Hilflosigkeit: Sie haben viel zu oft erfahren und erleben müssen, daß ihre eigenen Handlungen und Entscheidungen absolut gar nichts bewirken, so daß sie längst den Glauben an ihre eigenen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten verloren haben.

nach: Martin E. P. Seligman: Erlernte Hilflosigkeit

Die eigene Programmierung überwinden?

Aus meiner Sicht besteht das hauptsächliche Problem darin, daß der Mensch in archaischen Gesellschaften – zu denen alle Industrienationen jeglicher Religionsrichtung gehören – bereits als Kleinkind so programmiert wird, daß er quasi ständig im Modus des Ausagierens und Ersatzbefriedigens handelt. Man installiert eine fundamentale Unterwerfungs- und Gehorsamsbereitschaft, indem man ihm, kaum daß er geboren wurde, die natürliche Entwicklung eines voll integrierten Selbst verweigert. Wie der verstorbene Arno Gruen in seinem Vortrag Die Konsequenzen des Gehorsams für die Entwicklung von Identität und Kreativität (2003) ausführte, identifizieren sich kleine Kinder mit dem Aggressor (den erziehenden Eltern), weil allein schon die Vorstellung einer Trennung von der Mutter oder der Familie in der Vorstellung des Kindes eine tödliche Bedrohung darstellt: »Terror kippt in Geborgenheit um«.

irwish.de/PDF/Psychologie/Gruen/Gruen-Konsequenzen_des_Gehorsams.pdf

Das ist, was Gehorsam bewirkt und zugleich steuert. Es ist ein uralter Mechanismus, dessen Wurzeln in frühester Kindheit liegen, als wir dem Versuch der uns versorgenden Erwachsenen ausgesetzt waren, uns ihren Willen aufzuzwingen. Diese Erfahrung bedroht jedes Kind mit dem Erlöschen seines eigenen, gerade im Keimen begriffenen Selbst. Das Ergebnis dieses Prozesses ist, daß gerade solche Kinder, deren Willen besonders stark einem Ausmerzen unterworfen war, einen verhängnisvollen Gehorsam und Treue gegenüber Autoritäten entwickeln.

Das Unheil dieser Entwicklung liegt gerade darin, daß der Gehorsam ein Beitreten, eine Identifizierung mit demjenigen, der Gehorsam verlangt, mit sich bringt. Wenn ein Kind von demjenigen, der es schützen sollte, körperlich und/oder seelisch überwältigt wird, und wenn es zu niemandem fliehen kann, wird es von einer überwältigenden Angst heimgesucht. Für den kleinen, werdenden Erwachsenen bleibt dann nur noch die Möglichkeit eines Manövers, um die Angst, mit der keiner leben kann, in den Griff zu bekommen. Diese Angst ist so enorm, so paralysierend, dass sie beiseite geschoben, abgespalten werden muß – nicht nur verdrängt. Abspaltung bedeutet eine Absonderung von Teilen der Psyche, die einem Menschen zur Gefahr wurden, so daß sie dann nur in Isolation weiterbestehen können.

Um diese Angst wie auch den mit ihr verbundenen Schmerz von sich weghalten zu können, geschieht etwas Außerordentliches. Das Kind fängt an, seinen Unterdrücker, den Aggressor, zu idealisieren, ihn zum Objekt seiner Identifikation zu machen. Auch Erwachsene können diesen Vorgang unter den Bedingungen einer Gefangenschaft und der Folter wiederholen.

Etlichen Psychoanalytikern, Traumatherapeuten und anderen Fachleuten sind diese Zusammenhänge schon länger bekannt, doch der gewöhnliche Durchschnittsbürger ahnt nicht, daß er einer fatalen Programmierung unterliegt, die so früh begonnen hat, daß er von alleine niemals dahinterkäme. So beschrieb bereits 1932 Sandor Ferenczi diesen Vorgang der Identifikation mit dem Aggressor, und wies besonders darauf hin, daß dieser im gesellschaftlichen Umfeld verankerte Vorgang es den Eltern erlaubt, die Abhängigkeit ihrer Kinder für eigene Zwecke auszunützen: Er zeigte, wie Kinder, wenn sie elterlicher Gewalt ausgesetzt sind, paralysiert werden.

»Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne. Doch dieselbe Angst, wenn sie einen Höhepunkt erreicht, zwingt sie automatisch, sich dem Willen des Angreifers unterzuordnen, jede seiner Wunschregungen zu erraten und zu befolgen, sich selbst ganz vergessend, sich mit dem Angreifer vollauf zu identifizieren.«

Mit solch einem Vorgang entwickelt sich ein Kind mit gebrochenem Vertrauen zur Aussage der eigenen Sinne. Anders ausgedrückt: Daraus hervorgehende Erwachsene bleiben den Signalen ihrer eigenen Sinne gegenüber immer äußerst mißtrauisch, vertrauen jedoch Autoritäten, die ihnen vorschreiben, was sie jeweils wahrzunehmen haben.

Weiter beschreibt Ferenczi, wie die aus Angst erzeugte Identifizierung mit Erwachsenen beim Kind Schuldgefühle hervorruft; diese halten die Bindung an die Eltern aufrecht, indem sie die trügerische Hoffnung schüren, mit der Zeit doch noch eine Verbesserung der Beziehung zu den Eltern herbeiführen zu können. Solche Schuldgefühle, durch die wir uns wertlos fühlen, sind die Grundlage der ausgeprägten Gehorsams- und Unterwerfungsbereitschaft, die wir überall in der Gesellschaft mehr oder weniger beobachten können.

Unterwerfungsbereitschaft hat jedoch zwei Seiten: einmal die Bereitschaft, sich einem Stärkeren zu unterwerfen, und ein anderemal die Bereitschaft bzw. das Bedürfnis, vermeintlich Schwächere dem eigenen Willen unterzuordnen. Die primitivste Form der erzwungenen Unterordnung ist rohe körperliche Gewalt, die immer nur diejenigen kurzzeitig zu befriedigen vermag, die wegen der Gewalt, die an ihnen selbst verübt wurde, einen Ausgleich, eine Genugtuung oder kurz: Rache suchen. Das Ergebnis ist ein Charakter, der die eigenen inneren Regungen zur Freiheit automatisch mit einem Schuldgefühl quittiert, da er sich gegenüber der Macht, von der er sich Anerkennung und Lob erhofft, als ungehorsam empfindet. Damit untrennbar verbunden ist ein glühender Haß auf alles, was die zugrundeliegende Angst als wahre Ursache des verdrängten Leidens aufdecken könnte.

Gehorsamserziehung ist daher immer auch Entfremdungserziehung, denn die Gewalt, die unsere von den Eltern abgelehnten Selbstanteile zu etwas Fremdem machen, ist dieselbe Gewalt, die den Gehorsam erzwingt. Dabei bestimmt das Ausmaß der Gewalt, das der Einzelne erfährt, den Grad seiner Autoritätshörigkeit.

Ich denke daher nicht, daß diese ganze Problematik ein reines Männerproblem darstellt, wie das häufig von Frauen aus der Emanzipationsbewegung dargestellt wird, sondern die ganze Menschheit betrifft, und zwar sehr direkt und drängend. In den meisten Familien auf dieser Welt sind die Kinder vor allem bzw. die meiste Zeit den Erziehungsmethoden der Mütter ausgesetzt – eine Aussage, die Frauen – allgemein, nicht nur Mütter – gewöhnlich sofort heftigst ablehnen, weil das ihr Selbstverständnis bedroht.

Unsere Gesellschaften beruhen weitgehend auf Macht und Gewalt. Wer durch gewalttätiges Handeln am meisten Macht hat bzw. in seiner Person zu vereinigen weiß, der hat immer auch das Sagen. Gesamtgesellschaftlich bzw. global gesehen sind das nur ein paar wenige Menschen, die ihre Hierarchien der Gewalt nur deshalb aufbauen konnten, weil Millionen von Eltern als »Agenten der Gesellschaft« die Vorarbeit dazu geleistet haben, indem sie ihre Kinder zu Gehorsam und Unterwerfung erzogen haben. Das allgemeine Streben der Individuen in der Gesellschaft besteht daher folgerichtig darin, in der Hackordnung nach oben zu kommen, weil sie nicht Sklave, sondern lieber Sklavenaufseher sein wollen. Dabei bleibt den allermeisten Menschen die wahre Struktur der Gesellschaft ein Leben lang verborgen, denn die Eltern haben ihnen auch den passenden Schleier vor die Augen gehängt, so daß ihre Zöglinge gar nicht erst zu erkennen vermögen, daß die Basis unserer »Hochkultur« im Grunde lediglich das Bestreben ist, die Welt im Griff zu haben, sie zu besitzen, zu beherrschen und sich dabei auch noch als das Gute schlechthin zu fühlen. Diesen Schleier könnte man als »ich will doch nur dein Bestes« bezeichnen oder auch: »Ich meins doch nur gut mit dir«, »Kinder brauchen Struktur, ohne Strafe geht es nicht, wie sollen sie denn sonst was lernen«, »ich bestrafe dich nur, weil es zu deinem Besten ist« usw. Weil sie selbst so erzogen wurden und diese Prämissen niemals auch nur wagen durften, in Zweifel zu ziehen, müssen sie das mit ihren eigenen Kindern ebenso machen. Sie können gar nicht anders, sie wissen es nicht besser, sie sind nicht vollständig, sondern gespalten in erwünschte und unerwünschte Selbstanteile.

Demzufolge werden heutzutage weitgehend angepaßte Menschen als psychisch gesund bezeichnet, unangepaßte dagegen als psychisch krank, als Gestörte, Psychos, Verrückte, Spinner usw. Sie werden aber auch als Verräter an der gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Sache empfunden, als Abtrünnige, Außenseiter, Nestbeschmutzer oder Sozialschmarotzer.

Man glaubt gemeinhin, daß all die Erfolgreichen, die Herrschenden, die Besitzenden und Wohlhabenden psychisch gesund seien, weil sie den Besitzlosen als frei von Angst, Spannung und Leid erscheinen. Das ist jedoch ein weitverbreiteter Trugschluß, denn je mehr ein Mensch zu verlieren hat, desto größer sind seine Sorgen, desto mehr hängt er an seinem Besitz, desto stärker identifiziert er sich mit seiner Stellung, seinem Eigentum und seiner Macht. Ab einer gewissen Machtfülle wird man zwangsläufig größenwahnsinnig, eben weil man sich mit seiner Macht identifiziert. Doch ist man schon lange vorher auf einem pathologischen Holzweg, auch wenn die üblichen Symptome ausbleiben, weil man eine gewisse Zeit seine perversen Triebe weitgehend straf- und folgenlos ausleben und somit die innere Spannung, die sie gewöhnlich hervorrufen, auf Kosten anderer abführen kann.

Es ist daher unsinnig, die Menschen in psychisch Kranke und Gesunde zu unterteilen, denn heutzutage ist so gut wie niemand in diesem Sinne psychisch gesund. Wir alle wurden mehr oder weniger in unserem Selbst gespalten, wir alle wurden dem Prozeß der Entfremdung ausgesetzt, und wir alle machen das dumme, fatale Spiel mehr oder weniger mit. Leider bleibt den meisten eine klare Sicht auf diese Zusammenhänge verstellt, weil sie den Terror und das Leid, das sie als Kinder erfahren mußten, verleugnen müssen, weil sie sich nicht selbst als Opfer sehen dürfen. So wird der Gehorsam vermutlich bis zum baldigen Ende der Menschheit weitergetragen, weiter inszeniert und weiter reproduziert.

Ich möchte den interessierten Leser dazu einladen, sich doch einmal die Werke des Psychoanalytikers Arno Gruen anzuschauen oder noch besser, sie eingehend zu studieren. Es ist keine leichte Lektüre; sie ist aber nicht deshalb schwer, weil sie mit Fachausdrücken besetzt wäre, denn das ist sie nicht, sondern weil das Thema dieser Bücher einen fundamentalen Angriff auf unser erlerntes, jedoch falsches Selbstverständnis darstellt, auf das sich die meisten wohl aus den genannten Gründen nicht einlassen können. Wer jedoch Dinge erfahren möchte wie ...

– Die aus dem Verlust der eigenen Verwurzelung entstehende Ohnmacht erzeugt den inneren Zwang, Macht und Besitz über alles zu stellen.

– Staatstheorien wurden deshalb entwickelt, um gesellschaftliche Machtstrukturen zu rechtfertigen, die lediglich der Ausbeutung des Individuums dienen.

– Die Lebensweise des modernen Menschen ist nicht artgerecht, daher rührt die hohe Zahl der »psychischen Erkrankungen«.

– Man kann viel und noch viel mehr »wissen«, ohne auch nur das Wesentliche zu erkennen. Genau das machen unsere »wissenschaftlichen« Autoritäten und »Experten« gewöhnlich.

– Daß wir die Aggressoren unterstützen, das ist das eigentliche Böse in uns. Die aktuelle Zahl derer, die das Böse direkt und bewußt antreiben, ist weit geringer als die Anzahl jener, die entweder nur mitmachen oder es nur zulassen. Die Anführer der Nazi-Greueltaten zählten um die 100.000. Aber die Anzahl derer, die diese Taten zuließen oder sie mitmachten, ging in die Millionen.

... der kommt nicht umhin, sich hier in die Urgründe der menschlichen Programmierung durch das frühe Gehorsams-Implantat einzuarbeiten.

Ich wollte zeigen, daß unsere aufgeklärte Moral bedroht und unsere Vernunft blind ist. Wir können sehen, aber sehen nicht. Wir leben mit dem alltäglichen Horror und haben gelernt, wegzuschauen. José Saramago

Buchempfehlung:

Josef Giger-Bütler: Depression ist keine Krankheit – Neue Wege, sich selbst zu begreien

Siehe auch: https://tinyurl.com/y8hcq4o5

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (20.06.2020 09:45).

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